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XXIII.
Die Schlucht-Party.

Während Horace Larkin mit dem Problem kämpfte, wie er seine fiancée auf möglichst anständige und unauffällige Art loswerden könne, bemühte sich Dr. Hawk, die Zuneigung der einen, die er sich entfremdet hatte, zurück zu gewinnen. Er war in den letzten beiden Jahren oft an dem Punkt angelangt, Gertrude einen Antrag zu machen, und hätte wahrscheinlich zu dieser Zeit sein Schicksal auf die eine oder andere Art besiegelt, wenn nicht Kate Van Schaak auf der Szene erschienen wäre.

Der Doktor schämte sich nicht im Geringsten, dass er, wie so viele andere, der fremden Göttin gehuldigt hatte; aber er befand sich am Ende seiner Weisheit, was die Erfindung einer einleuchtenden Lüge anging, durch die er seinen Tanz um das Goldene Kalb hätte vereinbar erscheinen lassen können mit der unerschütterlichen Treue gegenüber dem einzig wahren Idol seines Herzens.

Er konnte natürlich Gertie nicht einfach die unverblümte Wahrheit sagen, dass er zwei Jahre lang mit der Idee, sie zu heiraten, gespielt habe, jedoch von der Ungewissheit ihrer Position in Mr. Larkins Haus abgeschreckt worden sei, und dass er kürzlich einen Blick auf das Testament ihres Vaters habe werfen können (das auf höchst zufriedenstellende Weise alle sein Zweifel ausgeräumt hatte) und dementsprechend seine vergangenen Vergehen wiedergutzumachen und sie zum Altar zu führen bestrebt sei.

Die einzige Lüge, die er sich denken konnte, machte einen faden, unvorteilhaften Eindruck, und er wusste nicht so richtig, ob Gertie leichtgläubig genug war, sich in einer so simplen Falle fangen zu lassen: dass er sich nämlich in einem Anfall von Verzweiflung Kate zu Füßen geworfen habe wegen Gertrudes Grausamkeit und ihrer mutwilligen Abfuhren – nun ja, als bloßes Stück Prosa mochte so eine Aussage unter Männern Gespött erregen, aber wenn sie in geeigneter Weise vor einer jungen, beeindruckbaren Frau inszeniert wurde, nochte sie sich leicht als wirksam erweisen.

Darüber hinaus konnte er immer noch auf Aleck's Feindschaft als letztes Mittel zurück greifen, und weiter im Hintergrund auf Komplikationen mit seiner geheimnisvollen Verlobten, auf Reue für vergangene Sündhaftigkeit, auf ein Gefühl von Wertlosigkeit und andere malerische Empfindungen, die leicht so aufgezäumt werden konnten, dass sie aufs Äußerste beeindruckten.

Gertrude war unvorsichtig genug gewesen, ihren Ärger über seine Aufmerksamkeit gegenüber der großartigen Erbin zu verraten, und dies war ein ermutigender Umstand. Wenn sie klug genug gewesen wäre, gleichgültig zu erscheinen, hätte er weitaus weniger Hoffnung auf Erfolg gehabt.

   

In Torryville gab es eine Mode, die, wie man sagte, auf Professor Ramsdale zurück ging, der in letzter Zeit recht beliebt geworden war. In England lädt man im Frühsommer Gäste zu Garten- und Wiesenpartys ein, bei denen man in erlesener Gesellschaft Tee trinkt und sich Erkältungen einfängt. In Torryville existierten keine nennenswerten Wiesenflächen, aber es gab Schluchten, die es in puncto malerischer Wirkung mit denen im Yellowstone Park aufnehmen konnten. Daher kam Professor Ramsdale auf die Idee, man könne doch Schlucht-Partys geben.

Die Damen des Kollegiums, die nicht sonderlich unternehmungslustig waren, runzelten die Stirn über den Vorschlag, doch der unverzagte Professor machte eines schönen Tages den Auftakt mit einigen jüngeren Tutoren und einem halben Dutzend »Koeds«, improvisierte ein koedukatives Bootsrennen, kochte Kaffee und grillte Fisch über einem Lagerfeuer, schickte ein paar Raketen in den nächtlichen Himmel und bereitete mit all dem den Teilnehmern so viel Vergnügen, dass diejenigen, die Schlucht-Partys für unangemessen erklärt hatten, eilends darlegten, dass sie etwas ganz anderes gemeint hätten und sehr erfreut seien, die nächste Einladung annehmen zu können.

Eines Nachmittag, am Wochenende der Hochschul-Abschlussfeier, fanden Gertrude und Dr. Hawk durch Zufall zu einem tête-à-tête auf einer schwimmenden Anlegestelle unten am Nil zusammen und entdeckten sofort, dass sie zu demselben Zweck dort waren. Der Rest der Gesellschaft, die aus Ramsdale, dem Tutor Rodney (einem schlanken, schüchternen, aber fähig wirkenden Mann), Pussy Dallas und einem Dutzend weiterer, zumeist koedukativer Fräulein bestand, traf bald ein, brachte Decken und Lunchpakete mit und wurde in vier Boote verfrachtet, die, sobald sie geladen waren, von der unsicheren Anlegestelle abgestoßen wurden.

Es war ein warmer, klarer Tag und der Himmel strahlend blau. Der junge Weizen, dessen fruchtige Ähren noch glitzernde Hülsen umschlossen, wuchs in langen, hellgrünen Streifen die Hänge zum Wasser hinab und verlieh dem dunkleren Grün der Wiesen mit ihrem braunen Unterton einen vergleichsweise schäbigen Anblick. Hier und da unterbrachen die weißen Blüten quadratischer Buchweizenflecken das monotone Grün; aus dem noch knappen Laub der Apfel- und Kirschgärten lugten kurz gehaltene, schiefergedeckte Dächer mit weißgekalkten Schornsteinen hervor. Die Ahorn- und Nussbäume dagegen streckten ihre üppigen Kronen in den Himmel und warfen wohltuend ihren Schatten über die Farmhäuser, deren kleine Fenster und weiß gestrichene Mauern in behaglich geschützter Zufriedenheit unter den grauen Säulenreihen ihrer Stämme schimmerten.

Gertrude und der Doktor hatten einander nicht viel zu sagen, als sie da an der Anlegestelle standen und darauf warteten, dass die anderen Gäste sich bereit machten. Denn ohne Zutun von ihrer Seite waren sie demselben Boot zugeteilt worden. Ramsdale und Rodney, beide in weißen Flanellhemden und Kniebundhosen, arbeiten wie die Biber, um die Dorys Das Dory ist ein kleines ruder- und segelbares, flachbordiges Fischerboot von etwa 3,5 bis 5 Meter Länge, mit sehr breitem, aus bis zu vier Planken bestehendem Boden. flott zu machen, während Hawk in einem neuen, ziemlich schicken Sommeranzug untätig zuschaute, ohne ihnen seine Hilfe anzubieten.

Sie hatten gerade den letzten Dory sicher vom Stapel gelassen, als die Uni-Achter-Mannschaft Im Original » 'Varsity Eight«, im studentischen Slang. am Pier mit ihrem leichten Papierbötchen erschien, das mit äußerster Sorgfalt auf den Fluß gesetzt wurde. Sie trugen rotweiße Kappen, ärmellose Trikots und Sporthosen. Ihre Arm- und Beinmuskeln wölbten sich prächtig unter ihrer sonnengebräunten Haut, »als wie ein Bach sich über Kiesel hebt« Zitat aus » Idylls of the King« des britischen Dichters Alfred Tennyson (1809-92); die Zeile lautet dort: » As slopes a wild brook o'er a little stone«, bei Boyesen: » as slopes a brook over a little stone«., und sie gingen umher in paradiesischer Schamlosigkeit, so dass die goldenen Tage athletischen Sports im antiken Griechenland wieder aufzuerstehen schienen. Ein schönes Schauspiel war es, sie alle bewegungslos mit emporgehobenen Rudern in der zerbrechlichen Nussschale sitzen zu sehen, auf das Zeichen des Schlagmanns wartend, während ihre kopfstehenden Abbilder unter ihnen in den Flusswellen zitterten. Und als das scharfe, kurze Kommando erklang: mit welch herrlicher Genauigkeit hieben sie ins Wasser, mit welch pfeilartiger Geschwindigkeit schossen sie den Nil hinunter und in den offenen See.

Die Mädchen von Ramsdales Gesellschaft gaben ihnen einen Hochruf mit auf den Weg und winkten ihnen mit ihren Tüchern nach. Innerhalb weniger Minuten schon wirkten die Ruderer klein und weit fort, wie sie durch Sonnenschein und Schatten dahin flogen; und die Commandos des Schlagmanns samt ihren Uferechos verklangen gedämpft in der Ferne.

Gertrude wurde sich eines starken Widerwillens gegen den Doktor bewusst, als er sich im Hecks des Dorys neben sie setzte, und verhielt sich gegenüber seinen Bemühungen, ihre vertrauten Beziehungen wieder einzurenken, nicht sehr empfänglich. Er legte daher eine etwas fahrige, schwermütige Attitüde an den Tag, und seine Bemerkungen trugen alle eine Note von verborgenem, mysteriösem Schmerz. Natürlich konnte er in Gegenwart so vieler nicht frei sprechen, doch gelang es ihm, einige vage Andeutungen auszuwerfen, die sie quälend bekümmerten. Während die Koeds und die Herren Studentenlieder sangen, deren lärmende Refrains alle anderen Klänge übertönten, hievte er tiefe Seufzer empor und murmelte in herzzerreißendem Tonfall »Leben, Leben, Leben!«

»Von wem haben Sie nur das alles zuletzt abgekriegt?« fragte Gertrude mit spöttischem Lachen; trotzdem war ihr aber unbehaglich zumute, und sie war stärker beeindruckt, als sie zugeben mochte.

»Von Ihnen, Miss Gertie! Von Ihnen!« seufzte der Doktor, als ob seine Verletztheit zu tief für Worte sei. »Habe ich das von Ihnen verdient?«

»Das und mehr, als ich je werde zurückzahlen können,« sagte Gertrude herzlos.

»Ja, das Leben ist eine harte Schule. Es härtete einen ab, um Dinge zu ertragen, die man sonst nicht überleben könnte.«

»Oh, ich mache mir über Ihr Weiterleben keine Sorgen. Ich glaube wirklich, Sie werden über Ihren Liebesaffären fett werden. Ich habe gehört, dass Sie jede Frau lieben, die Ihnen begegnet.«

»Ach, wenn Sie nur wüssten,« flüsterte er tragisch und beugte seinen Kopf wie ein verletztes Wild, das den drohenden Hieb abzuwehren verachtet.

In genau diesem Augenblick jedoch endete das Lied, und Gertrude hielt es für unsicher, den Gegenstand weiter zu verfolgen. Zu ihrer Erleichterung zog der robuste Californier, Cottrell, der sich auch unter der Gesellschaft befand, sie in die Unterhaltung und hofierte sie recht amüsant in blumigem, männlich herablassendem Stil.

Gegen halb vier etwa erreichten sie ihr Ziel. Am Eingang der Schlucht wurde ein Feuer entzündet, und die Herren waren ebenso wie die Damen mit der Suche nach Reisig und trockenen Ästen beschäftigt, um es zu unterhalten.

Die Schlucht war breit, am Boden fast eben und zu beiden Seiten unregelmäßig mit Unterholz bewachsen, aus dem hier und da eine große sturm- und wettergebeugte Kiefer empor ragte oder eine Eiche, die ihren Halt im seichten Grund verloren hatte und fast horizontal aus den überhängenden Klippen hervor wuchs. Ein Fluss, der sich aus einer Höhe von gut sechzig Metern ergoss und sich dann durch das Unterholz schlängelte, war unter den warmen Junisonnenstrahlen zu einem bloßen Bach geschrumpft; der Schiefersteinbruch am oberen Ende der Schlucht, der für seine Aktivität auf die Wasserkraft angewiesen war, hatte daher seinen Betrieb einstellen müssen, bis der Herbstregen wiederum den ausbleibenden Puls der Natur beleben würde.

Das koedukative Bootsrennen, für das einige närrische Preise ausgesetzt waren, interessierte Hawk nicht im Geringsten; aber er sah in ihm eine Chance, einen unangenehmen Rivalen los zu werden, der mit jugendlicher Unbekümmertheit Gertrude vereinnahmte und alle Andeutungen ignorierte, dass seine Anwesenheit woanders erwünscht sei. Darum schlug er Doktor Ramsdale listig vor, dass Cottrell doch einen famosen Schiedsrichter abgäbe, und dem unglücklichen Jüngling, der den Trick sehr wohl durchschaute, fiel kein Grund zur Ablehnung ein.

»Miss Gertie,« begann der Doktor, nachdem seine Diplomatie triumphiert hatte, »ich wollte schon lange fragen, warum Sie mich so schäbig behandeln.«

»Wie lange?« fragte Gertie mit niederschmetterndem Sarkasmus. »Welch ein weiträumiges Herz müssen Sie haben, Doktor,« fuhr sie leichthin fort. »Ich wünschte, ich könnte es mit Ihrer schönen Vorurteilslosigkeit aufnehmen.«

Sie schlenderten am Bachufer einen Pfad entlang, der mal breit genug für zwei war, dann wieder von Brombeergesträuch überwuchert wurde.

»Ich wusste es, dass dort der Schuh drückte,« sagte er mit einem Anflug von Verlegenheit; »aber es wäre zu albern, dies einer Antwort zu würdigen.«

»Dann wollen Sie leugnen, dass Sie die ganze Zeit Kate Van Schaak hinterher gelaufen sind?«

»Oh, nein; warum sollte ich es leugnen? Aber ich ging davon aus, dass Sie klug genug seien, meinen Beweggrund zu ahnen.«

»Nun, das bin ich nicht … es sei denn, es waren ihre fünf Millionen.«

Der Doktor wandte seinen Kopf in müder Verzweiflung, heftete jedoch, statt zu antworten, seine großen, dunklen Augen in stummem Vorwurf auf das Mädchen. Dann verdunkelte eine leichte Düsterkeit seinen Blick, und er lief, Gertrude hinter sich lassend, mit langen Schritten den Pfad hinauf.

Sie blieb im Tumult ihrer Gefühle stehen, unentschieden, ob sie ihm folgen oder zum Ufer des Sees zurück kehren solle. Jedoch die Einwände gegen die eine Richtung ebenso wie gegen die andere erkennend, setzte sie sich auf einen großen Rollstein unter einem abgestorbenen Baum, dessen wettergebleichtes Geäst sich in lebhaften Einzelheiten vor dem Himmel abzeichnete. Dort saß sie, zum Ärger entschlossen, eine ganze Weile, bemerkte indes, wie innerlich ihr Zorn abebbte; eine ruhige kleine Stimme erhob sich aus der Tiefe ihres Herzens und verteidigte den Doktor gegen ihre eigenen Anschuldigungen.

Sie hatte ihn schäbig behandelt; das war nicht zu leugnen. Er sah so elend aus, wenn sie unfreundlich mit ihm sprach; und seine großen ehrlichen Augen – sie konnten doch gar nicht heucheln! Sie war so erpicht darauf, sein Vergehen zu verharmlosen und Entschuldigungen dafür zu finden, dass der Hauptanklagepunkt sich am Ende gegen sie selbst richtete; und je mehr sie ihr eigenes Verhalten prüfte, desto herzloser und abscheulicher erschien es ihr.

Wo hätte sie einen anderen so ritterlichen Mann finden können, der so behutsam auf ihre Gefühle einging, so fähig zu tiefer Ergebenheit und geistiger Gemeinschaft war wie der Doktor? Wenn er sich wirklich aus Verletztheit Kate gewidmet haben sollte – war das nicht die natürlichste Sache von der Welt, und sollte nicht sie, die der Grund dafür war, die letzte sein, ihm dies zu verübeln?

Gertrude saß lange Zeit grübelnd über diese verwickelten Fragen und kam nach und nach zu der Schlussfolgerung, dass sie es war, die sich am Doktor versündigt hatte, und nicht er an ihr.

Der Bach plätscherte seine gefällige Musik in ihre Ohren, und die Grillen erfüllten die Luft mit einem unentwegt pulsierenden Chor von Klängen. Jeder Augenblick war bis zum Überfluss angefüllt mit surrenden, glucksenden, zirpenden, zwitschernden Stimmen, die – unentwirrbar zusammengemischt – mal schwach tremolierten, dann wieder in plötzlicher Stärke pochten, mit seltsamer Intensität durch Herz und Hirn vibrierten, mit süßer, wilder Beharrlichkeit auf ihr Bewusstsein übergriffen und sie zurück ins Nirvana der großen allumfassenden Natur zogen. Gefühlsregungen, seien sie freudvoll oder traurig, werden in solchen Momenten fast unpersönlich und verlieren ihren spitzesten Stachel. Unten in den goldbraunen Tiefen des Beckens huschten flinke Schatten hin und her, und im kühlen Schutz der Rollsteine hüpften langbeinige Wassermücken hierhin und dorthin; eine glitzernde Fliege segelte den Fluss hinab und verfing sich in einem Schaumball, aus dem es kein Entrinnen gab.

Man könnte meinen, es sei herzlos von Gertrude, sich für diese unbedeutenden Phänomene zu interessieren, während die Entscheidung ihres eigenen Schicksals auf dem Spiel stand. Aber empfänglich, wie sie für jeden Eindruck war, konnte sie sich dieser heidnischen Halbversunkenheit in die Natur nicht erwehren – dieses unwiderstehlichen Mitgefühls mit dem wimmelnden, üppigen, tausendstimmigen mittäglichen Sommerleben – des starken, ewig zerstörenden, ewig schöpferischen Herzschlags von Mutter Erde.

Gertrude wurde aus ihrer Tagträumerei durch krachende Äste in der Nähe geweckt, und aufschauend sah sie Hawk vor sich stehen. Sie musste gewaltsam ihre Gedanken sammeln, ehe ihr die Situation klar wurde. Ein wilder Blick, wie der eines aufgescheuchten Vogels, glomm in ihren Augen auf, als sie sich zuerst auf den Doktor richteten.

»Ich nehme an, dass Sie mich nicht zurück erwarteten,« sagte er, nahm seinen Strohhut ab und trocknete ihn innen mit seinem Taschentuch.

»Ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht,« antwortete Gertrude.

Sie hatte nicht die Absicht, grausam zu sein; sie war im Gegenteil entschlossen, sich versöhnlich zu verhalten; aber die gedankenlosen Worte entschlüpften ihrem Mund, ehe sie Zeit hatte, sie abzuwägen. Der Doktor fing an, den Boden mit seinem Stock aufzukratzen, setzte wieder seine malerische Hamlet-Miene auf und holte einen tiefen Seufzer empor.

»Miss Gertie,« sagte er in einer Art verzweifelten Wagemuts, »ich sollte das wohl als endgültig nehmen und Schluss machen. Ich wünschte bei Gott, ich könnte es.«

»Warum können Sie es nicht?« fragte sie.

Sie war nun aus reiner Verdrehtheit unfreundlich und wunderte sich verschwommen über ihre eigene Unbarmherzigkeit. Sie wusste auf irgendwie unpersönliche Art, dass sie ihn liebte und ihn ermutigen wollte; nur hatte sich die Liebesstimmung unerklärlicher Weise verabschiedet, und bloße Willensanstrengung vermochte sie nicht zurück zu bringen.

»Und dann tun Sie jetzt noch so, als wüssten Sie nicht, dass ich Sie liebe,« fuhr er verbittert fort; »dass ich Sie liebte vom ersten Augenblick an, da ich Sie sah?«

»Wie konnte ich es wissen,« stieß sie hervor, »wenn Sie es nicht einmal selbst zu wissen schienen? Sie haben ein zu gastfreundliches Herz, Doktor, Sie lieben zu viele.«

Sie sprach obenhin, doch ihre Stimme war unbeständig, und sie empfand ein dumpfes Herzweh, das in ihren Organen nagend wühlte. Sie war von ihrer eigenen Leichtfertigkeit angewidert, wusste aber nicht, wie sie den angenommenen Ton aufgeben sollte. Denn vielleicht drängte sie ein Impuls ihrer Eitelkeit mehr alles andere, jenen aufrecht zu erhalten, weil sie in ihrer Verwirrung nicht zu leicht gewonnen werden wollte. Der Doktor verdiente, für den ihr zugefügten Schmerz bestraft zu werden; und es konnte nicht schaden, ihn für all dieses Leid selbst ein bisschen leiden zu lassen.

»Dann nehme ich an, Miss Gertie, dass zwischen Ihnen und mir alles vorbei ist,« murmelte er traurig; »wir werden uns trennen müssen und einander nichts mehr bedeuten.«

Sie war im Begriff zu antworten, dass sie nicht bemerkt hätte, dass sie je einander etwas bedeutet hätten; statt dessen sagte sie jedoch sanft:

»Das hängt von Ihnen ab.«

Er schaute in freudiger Überraschung auf trat einen Schritt näher.

»Dann wollen Sie mich anhören?« fragte er mit vorsichtiger Zärtlichkeit.

»Ja.«

Die bebende Unsicherheit von diesem »Ja« machte ihn kühn; er setzte sich neben sie auf den großen Stein und ergriff ihre Hand. Seine Berührung flößte ihr einen leichten Schock ein, und Blut flutete in ihr Gesicht.

»Gertie,« raunte er leise flehend, »warum sollten Sie und ich streiten? Sie können mich nicht glauben machen, dass Sie für mich nichts übrig haben. Eine so starke Liebe wie meine zu Ihnen würde ein Herz aus Stein zum Schmelzen bringen.

Ich erwach' aus Träumen von dir
Im ersten Schlummer der Nacht,
Wenn die Winde flüstern im Laub,
Und die Sterne schimmern voll Pracht.
Ich erwach' aus Träumen von dir,
Und ein magischer Zauber trieb
Meine Schritte mit stürmender Hast
Zu deinem Fenster, mein Lieb.« Erste Strophe des dreistrophigen Gedichts » I arise from dreams of thee« von Percy Bysshe Shelley, in der Übertragung von Adolf Strodtmann (Percy Bysshe Shelley's Ausgewählte Dichtungen. Deutsch von Adolf Strodtmann. Hildburghausen. Verlag des Bibliographischen Instituts. 1866. S. 186f.)

Der Doktor war ein Meister der Rezitation; er hauchte Shelleys erlesene, leidenschaftliche Verse in schwärmerischen Seufzern dahin, und Gertie hatte nie etwas so wundervoll Reiches und Verführerisches gehört. Es kam wie ein schwerer, köstlicher Duft, dessen Einatmen süße Bedrängnis verursacht. Nach einer Pause wiederholte er den zweiten und dritten Vers mit derselben einschleichenden Glut. Die Landschaft schien sich zu verdunkeln und in üppigeres Grün zu tauchen; ein eigentümlich magisches Licht brach flutend über sie herein; Gertrudes Herz pochte in langsamen, vollen Schlägen, die ihre fast Gestalt erschütterten. Sie fühlte seinen Arm um ihre Taille, seinen Kuss auf ihren Lippen – aber sie leistete keinen Widerstand. Es war ein Schwelgen in vollständiger, vernunftloser Ergebung, eine herrliche Flutzeit des Daseins – ein tieferes Atmen, ein rascherer Puls und eine dunkle Vision unentdeckter Wonne.

Nach einer Weile wurde sie gewahr, dass er sprach, obwohl sie nicht deutlich hörte, was er sagte. Er sprach über sich selbst – er sprach immer so schön über sich selbst – und er zitierte noch mehr Poesie; er zitierte immer Poesie zu höchsten Anlässen.

Sie sah seine tief melancholischen Augen voller Lebendigkeit aufleuchten; aber ganz plötzlich wurde ihr die unbestimmte Gegenwart von etwas Fremdem bewusst, das sie mit stechendem Schmerz und einem unbehaglichen Schuldgefühl aufscheuchte. Sie schaute die Schlucht auf und nieder, sah jedoch nur das entfernte Wehen der Unterholzspitzen und hörte heitere Stimmen in hohen Tönen und schrilles Lachen.

Für einen Augenblick wurde die Szene sonderbar unwirklich, und Gertrude erwartete fast, sie sich auflösen und wie ein Festzug in einem Traum sich verwandeln zu sehen. Es schien ihr, als hätte sie, bis hin zum winzigsten Blatt und Zweig und bis in die Lichtfärbung hinein, dies alles schon vor Jahren gesehen – in einer früheren Existenz vielleicht – jedoch unverkennbar – ohne den Schatten eines Zweifels.

Eine ängstliche Spannung des Schweigens lag in der Luft, und durch dieses Schweigen kam, wie eine anklagende Stimme, der Gedanke an jenes andere Mädchen – die Anspruchsberechtigte, die Hypothekarin, die sie hintergangen hatte. Jene besaß ja doch ein früheres Anrecht; sie hatte ihr ganzes Vermögen in seine Bildung gesteckt, damit er das Ansehen erreiche, zu dem er bestimmt war.

Sie fuhr von ihm aus empörtem Anstand zurück, als sie sich vorstellte, wie oft er mit jener anderen zusammen gesessen, ihre Taille umschlungen, sie mit süßen Kosenamen angesprochen und seine Dankbarkeit und Zuneigung beteuert haben musste. Einen Augenblick lang verabscheute sie ihn beinahe, und sich selbst ebenso; vor allem verabscheute sie aber diese endlose, lästige Wiederholung fader Ereignisse wie Liebe, Geburt, Tod, ohne Hoffnung auf Ruhepause, all die schwindelerregenden Ewigkeiten hindurch. Eine erbärmliche kleine Marionette zu sein, mit Augen, Nase, Gelenken, gezogen an unsichtbaren Fäden, den Kopf beugend, küssend, liebend und leidend, vier oder fünf abgedroschene Akte hindurch bis zu einem mehr als abgedroschenen Schluss – das war das Los der Frau, und das des Mannes war in diesem Punkt kaum um ein Haar besser.

Ich wollte nicht gerade meine Hand dafür ins Feuer legen, dass diese Gefühle, die Gertrudes Gemüt erschütterten, ebenso ausdrücklich formuliert waren, wie sie es notwendiger Weise in der vorliegenden Erzählung sein müssen; aber sie wurden intensiv empfunden – und lösten impulsives Handeln aus. Sie sprang von dem Stein, auf dem sie gesessen hatte, herunter, stellte sich mit flammenden Wangen vor Hawk auf und starrte ihn an, ohne ihn wirklich zu sehen.

»Aber,« rief sie mit einem seltsam grellen Unterton in der Stimme, »das Mädchen – das Mädchen – das Sie geliebt hat?«

Der Doktor hatte, um die Wahrheit zu sagen, das Mädchen, das ihn geliebt hatte, eigentlich vergessen. Er wäre vielleicht zu entschuldigen, etwas vergessen zu haben, was keine Existenz besaß. Er hatte diese Liebesgeschichte nicht absichtlich erfunden, es jedoch zugelassen, dass sie sich entwickelte und um ihn herum feste Form annahm, was er durch mysteriöse Andeutungen, Seufzer und vorsichtige Zugeständnisse gefördert hatte. Ihm wurde nun klar, dass dieser Roman so sehr ein Teil von ihm geworden war, dass er nicht wagen konnte, sich von ihm zu distanzieren.

In ihm steckte eine byroneske Abneigung gegen das zahme Alltagslos und eine Vorliebe für malerische Sündhaftigkeit. Er hatte keinerlei Bedenken, die geschmacklosen Helden von Cherbuliez Victor Cherbuliez (1829-99), schweizerisch-französischer Roman-Autor in der Nachfolge George Sands. » Le Roman d'une honnête femme« z.B. war auch im englischsprachigen Raum sehr verbreitet. und Wilkie Collins William Wilkie Collins (1824-89), bedeutender viktorianischer Schriftsteller, mit Charles Dickens befreundet und Verfasser der ersten Mystery Thriller; »Die Frau in Weiß« gehört neben anderen Romanen (»Armadale«, »Der Monddiamant«) zum Kanon der britischen und auch der Welt-Literatur. Boyesens Urteil über ihn wird in der Literaturgeschichte nicht geteilt. zu imitieren; und wenn er auch zu klug war, einen Konflikt mit dem Gesetz zu riskieren, befriedigte er seine romantischen Gelüste, indem er jungen Frauen nachweinte, die er nie verloren, und Sünden bereute, die er nie begangen hatte.

Trotzdem war es etwas gemein, wenn nun eine dieser imaginären jungen Frauen gerade jetzt unangenehm aufkreuzte. Gertrudes unliebsame Frage überrumpelte den Doktor. Er erwiderte ihren Blick in einer Verwirrtheit, die auch durch dramatische Unverfrorenheit nicht überspielt werden konnte.

»Warum antworten Sie mir nicht?« fragte sie nachdrücklich.

Hawk fühlte sich verzweifelt in die Enge getrieben, hatte aber plötzlich eine Eingebung.

»Sie ist tot,« antwortete er mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung, wirkte dabei jedoch wie das Abbild düsterer Selbstanklage.

»Sie ist tot?« rief Gertrude verwundert. »Ist sie an Kummer gestorben?« fügte sie in sachlicherem Ton hinzu.

»Ich wünschte, Sie würden darüber nicht mit mir sprechen,« rief Hawk, seine Hamlet-Locke ungeduldig hochwerfend. »Ich denke, ich habe für diese jugendliche Torheit schon genug gelitten. Ich war ihr treu, kann ich Ihnen sagen, obwohl sie nicht geliebt habe; ich habe einmal geglaubt, sie zu lieben, ab von dem Augenblick an, als ich Sie sah, wusste ich, dass ich mich selbst betrogen hatte. In ihrer Familie herrschte die Schwindsucht, und es gab nichts, das sie hätte retten können. Deshalb brauchen Sie ihretwegen keine Skrupel zu haben.«

Diese Beteuerungen strahlten etwas so Schmeichelhaftes und Beruhigendes aus, dass Gertrude sich selbst für ihre Zweifel Vorwürfe zu machen begann. Sie nahm des Doktors Arm, und eine Weile gingen sie schweigend am Bachufer entlang. Es lag ja doch (obwohl sie es kaum zugegeben hätte) etwas zutiefst Befriedigendes in dem Gedanken, einen Mann zum Geliebten zu haben, um den es solch ein munteres Gerangel gegeben hatte, so lange er noch ungebunden war. Sogar die vorgetäuschte Treue, die Krankheit und der Tod der schwindsüchtigen Anspruchsberechtigten besaßen romantischen Reiz und erhoben ihre Beziehung damit hoch über die bloße Alltagsliebe alltäglicher Leute.

Gertrude fühlte sich nun wieder zu ihm hingezogen; und als sie in sein dunkles, interessantes Gesicht schaute, auf den weichen schwarzen Bart, die roten sinnlichen Lippen und die feine gerade Nase, bemächtigte sich ihrer ein überwältigendes Gefühl seines Wertes – seiner außerordentlichen, strahlenden Kostbarkeit. Sie sah nicht, dass seine Stirn zu hoch und sein Hinterkopf zu klein war, um einen ausgewogenen, erfolgreichen Mann abzugeben; ebensowenig konnte sie aufgrund des seidigen, dichten Bartes erkennen, wie unzulänglich sein Kinn ausgeprägt war. Vielmehr plagte sie ein ziemlich alberner Gedanke, den sie zu äußern zögerte; doch sie wusste, sie würde keinen Frieden finden, bevor ihrer Neugier nicht befriedigt wäre.

»War das Mädchen, das Sie liebte, dunkel oder blond?« fragte sie in verlegener Hast.

»Dunkel,« sagte der Doktor finster.

Das bedeutete eine große Erleichterung – zu wissen, dass sie nicht blond war.

»Und – und – wie hieß sie?«

»Mary.«

Das schien aus irgend einem Grund ebenfalls zufriedenstellend – obwohl man sich kaum vorstellen konnte warum.

»Sagen Sie,« fing sie nach einer Weile, seine Liebenswürdigkeit nutzend, wieder an, »ist es wahr, dass Sie eine Affäre mit einer hochgeborenen Dame hatten, während Sie in Wien studierten?«

»Mein liebes Kind,« rief Hawk in geschickt vorgespiegelter Ungeduld, »wie könnte Sie das tatsächlich interessieren?«

»Alles an Ihnen interessiert mich.«

»Das ist sehr nett, ganz bestimmt; aber ich würde lieber nicht darüber sprechen.«

»Wenn Sie nur wüssten, wie unglücklich es mich machen würde – wenn Sie Geheimnisse hätten, die ich nicht wissen darf …«

»Gut, gut,« sagte er mit großartiger männlicher Herablassung, »wenn Sie darauf bestehen … Aber ich versichere Ihnen, es gab nichts besonders Gefährliches an dieser Affäre.«

Und so berichtete er mit vielen pikanten Details, wie er das Unglück gehabt habe, die Aufmerksamkeit einer hochgeborenen russischen Dame, der Prinzessin Alexandra Grabowsky, auf sich zu ziehen, die ebenso reich und schön wie exzentrisch gewesen sei, wie der Vater der Prinzessin, der russische Botschafter in Wien, ihm eine stattliche Geldsumme angeboten habe, falls er umgehend nach Amerika zurückkehre und verspreche, weder Brief- noch anderen Verkehr mit seiner Tochter zu unterhalten; wie Hawk dieses Angebot ausgeschlagen habe usw. usf.

Über dieser Liebesgeschichte lag ein Hauch von »Ouida« Ouida, eigentlich Maria Louise (de la) Ramée, (1839-1908), britische Schriftstellerin, Autorin von über 40 Romanen, die Romantik und Gesellschaftskritik verbinden., den Gertrude freilich nicht wahrnahm. Nach Mrs. Spofford Harriet Elizabeth Prescott Spofford (1835-1921), amerikanische Schriftstellerin (Romane, Gedichte, Detektivgeschichten); ihre zahlreichen Werke gehören zu den am weitesten verbreiteten in den USA. Der Band » The Amber Gods, and Other Stories« war 1863 erschienen., deren » Amber Gods« der Doktor für den bedeutendsten modernen Roman hielt, erachtete er die vielverlästerte »Ouida« als hellsten Stern am Himmel zeitgenössischer Literatur. Er verabscheute George Eliot George Eliot, eigentlich Mary Anne Evans, (1819-1880), englische Schriftstellerin, zählt zu den bedeutendsten und erfolgreichsten Autoren des viktorianischen Zeitalters. und brachte für Thackeray William Makepeace Thackeray (1811-1863), britischer Schriftsteller, gilt neben Charles Dickens und George Eliot als bedeutendster englischsprachiger Romancier des Viktorianischen Zeitalters. keine Geduld auf; unter den Poeten waren Byron George Gordon Noel Byron (1788-1824), bekannt als Lord Byron, britischer Dichter, einer der wesentlichen Vertreter der englischen Romantik. und Swinburne Algernon Charles Swinburne (1837-1909), englischer Dichter und Autor in der viktorianischen Zeit. Der erste Band der » Poems and Ballads« löste 1866 besonders wegen der Darstellung sadomasochistischer Erotik einen literarischen Skandal aus. Insgesamt kreist sein frühes dichterisches Schaffen mit Vorliebe um Themen wie Sadomasochismus, Todessehnsucht, lesbische Phantasien oder anti-christliche Einstellungen. seine Favoriten.

Selten war ein junges Mädchen stärker von dem Heroismus, der Schönheit und der überragenden Großartigkeit ihres Geliebten beeindruckt als es Gertrude nach ihrem Ausflug mit Dr. Hawk hinauf zum Schiefersteinbruch war. Sie vergab ihm (oh, wie bereitwillig) alles, was er an Sünden gegenüber anderen begangen hatte, und fühlte sich so köstlich überzeugt, dass er, nach allen Liebesverirrungen in der Vergangenheit, nun seinen sicheren und endgültigen Ankerplatz gefunden habe. Er und sie waren von einer ewigen Bestimmung zueinander geleitet worden; und es machte Freude, durch eine Vielzahl unbedeutender Vorkommnisse die Spur dieses glücklichen Plans zu verfolgen, der ihre tastenden, sehnenden Herzen zusammen geführt hatte.

Diese Entdeckung, die Gertrude jenseits allen möglichen Zweifels als bewiesen galt, erfüllte sie mit frohlockender Gewissheit und vielleicht auch mit einem Gefühl von Überlegenheit gegenüber allen anderen Vertreterinnen ihres Geschlechts, die vergebens danach gestrebt hatten, diesen außerordentlichen Siegespreis zu gewinnen, der nun ihr gehörte.

In den reinen Tiefen dieses starken, lieblichen Wesens gab es Leidenschaft und Unschuld, Zärtlichkeit, Empfindsamkeit und eine berührende Schlichtheit; und obwohl sie von Stimmungen beeinflusst wurde, die oft einander entgegen wirkten, bestimmte sie im Grunde eine Vornehmheit, durch die sogar ihre Schwankungen geadelt wurden. Wie weiland Desdemona, wie Kriemhild und Brunhild Heroinnen aus berühmten Dramen und Sagen: Desdemona ist die Gattin der Titelfigur in Shakespeares Tragödie »Othello«, Kriemhild und Brunhild sind Rivalinnen um die Liebe Siegfrieds im »Nibelungenlied«., wie jedes liebliche, gesunde Mädchen zu allen Zeiten und jeden Alters – hatte sie auf ihren Helden gewartet; und indem sie ihn für einen Helden hielt, sang sie ihm ihren Päan Feierlicher Gesang im antiken Griechenland, der besonders dem griechischen Gott Apollon zu Ehren gesungen wurde, vor allem zum Kampf oder zur Feier eines Sieges. und umklammerte ihn an ihrem Herzen, ohne dabei zu ahnen, welch einen Mohren Gemeint ist Othello, »der Mohr von Venedig«, wie Shakespeares Drama im Untertitel lautet; dieser tötet aus wahnhafter und durch den Intriganten Jago beförderter Eifersucht seine geliebte Ehefrau Desdemona und daraufhin sich selbst. sie in ihren Armen hielt.

Hawk und Gertrude bemerkten bei ihrer Rückkehr erstaunt, dass ihre Abwesenheit keinerlei Besorgnis verursacht hatte; ebensowenig Aufsehen erregte ihre Rückkehr. Die jungen Männer und Frauen, eher nachlässig beaufsichtigt von einer frisch verheirateten Dame, die in die Rolle eines Chaperons Anstandsdame. geschlüpft war, waren zu Paaren das Seeufer auf und ab geschlendert, nachdem das Pseudo-Bootsrennen zu Ende war, und niemand wurde vermisst, weil es keinen gab, der jemanden zu vermissen gehabt hätte.

Ungefähr um sieben Uhr abends, nach einem frugalen Mahl, das aus Kaffee und hartgekochten Eiern bestand, brach die Gesellschaft auf und machte sich auf den Heimweg. Die Dämmerung breitete sich über den See; die von den Booten aufwärts zischenden Raketen explodierten mit widerhallendem Knall am schweigenden Himmel und ließen ihre vielfarbigen Sterne nieder sinken. Der Mond stand groß, rot und schläfrig hinter den östlichen Hügeln und betonte durch sein Leuchten die dunklen, gezackten Linien des Waldes. Ein verirrter Mückenschwarm tanzte über dem stillen Wasser, sang einen Moment lang sein zorniges kleines Lied in die Ohren der Picknicker und wirbelte alsbald davon.

Etwas berührend Urtümliches lag in der Freimütigkeit, mit der persönliche Vorlieben gezeigt und anerkannt wurden, und in dem Fallenlassen von Koketterie, als die Dämmerung weicher und dunkler wurde; in dem süßen instinktiven Befolgen des großen allumfassenden Gesetzes, das von Anbeginn die Welt beherrschte und die Schöpfung mit innerster Fürsorge zusammen hält. Es geschah nichts Unbesonnenes, außer dass Hände im Schutz des Dämmerlichts gedrückt und dass kühne Komplimente und zärtliche Bekenntnisse geflüstert wurden, die morgen vergessen sein würden. Sie bedeuteten nur ein scheues, tastendes Nachgeben gegenüber der dunklen Anziehung zwischen jungen Männern und Frauen und wurden nicht ernst genommen. Sie waren lediglich eine Erscheinung des Frühlings – des großen Wiedererwachens der Natur. Der Sonnengott, der kühne Buhler, küsst die schlummernde Erde, und sie erwacht, errötet und erwidert den Kuss.



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