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XIII.
Göttliche Unzufriedenheit.

Für jemanden, der sich von ernster Krankheit erhebt, sieht das Leben oft merkwürdig verwandelt aus. Banale Dinge, die zuvor wertlos schienen, werden kostbar und bedeutsam. Der Gesundende kehrt zurück, wie ein Reisender aus dem Grenzland des Todes; seine gewohnte Umgebung wirkt zunächst auf unbestimmte Weise fremd: sie muss sich selbst erst neu an einen verwandelten Bewertungsmaßstab anpassen.

Bei Gertrud folgte auf die physische Erschöpfung eine barmherzige Apathie, die den Kampf der Gefühle in ihrer Brust dämpfte und dadurch ihr Leben zu einer Zeit rettete, wo der leiseste Hauch von Leidenschaft die schwache Flamme ihres Daseins hätte ausblasen können. Als ihre Kräfte zurückkehrten und ihre Sinne langsam wieder erwachten, schien über ihre Vergangenheit ein leichter Vorhang gesunken, durch den ihre Erinnerungen sich nur undeutlich in schattenhafter Blässe abzeichneten.

Sie wusste, dass etwas Lebenswichtiges zwischen Dr. Hawk und ihr vorgefallen war, fand es indes unnötig, sich zu dessen Erkenntnis aufzuraffen. Die Verse von Omar Khayyam schwebten auf sie zu wie eine lautlose Melodie aus »unermesslicher Ferne«, und sie verfolgten sie mit der Hartnäckigkeit eines Albtraums, obgleich sie sich nur an einige fragmentarische, aber faszinierende Teile erinnern konnte. Jedoch den Arzt zu bitten, sie zu wiederholen, sähe wie ein Annäherungsversuch von ihrer Seite aus und wie eine Einladung zur Fortsetzung gefühlsmäßiger Beziehungen. Sein Kommen und Gehen betraf sie dennoch zutiefst, und seine Stimme besaß immer noch die Macht, ihre Nerven mit bebender Erregung zu erfüllen.

Mit der Wiedergewinnung ihrer Kräfte schien auch Ihr Interesse an ihm zurück zu kehren; und wenngleich sie versuchte, es gewissermaßen auf Armeslänge zu halten, damit es keinen Schritt zu nahe trat, konnte sie dabei keinen vollständigen Erfolg verbuchen. Die sporadischen Besuche des Doktors, die sich nach langen Abwesenheiten in einer einzigen Woche häuften, um wiederum von auffälliger Vernachlässigung gefolgt zu werden, beschäftigten ihren Verstand mehr als sie ahnte. Freilich besaß sie den Schlüssel zur Deutung dieser seltsamen Unregelmäßigkeit, und sie musste ihn einfach in einer Weise anwenden, die ihrem Selbstgefühl schmeichelte. Das Verhalten des Doktors besagte – so klar, wie Handlungen es ausdrücken konnten –, dass er mit all seiner Kraft gegen eine überwältigende Leidenschaft kämpfte und dabei gleichwohl Niederlagen erlitt, die nach Gertruds Auffassung nicht weniger ehrenvoll für seine Person waren als seine Siege.

Auch dass sein Streit mit Aleck, der in verzerrter Form ihre Ohren erreichte, ihn nicht veranlasste, alle Beziehungen zu dem Haus abzubrechen, das ihm eine solche Beleidigung angetan hatte, überzeugte sie von einem heroischen Zug in seinem Wesen. Sogar die furchtbare Demütigung, dass er für einen halben Tag polizeilicher Aufsicht unterstellt wurde, hatte er mit würdevollem Schweigen ertragen; und die ganze scheußliche Farçe, in der er unfreiwillig eine Rolle spielte, hatte bei ihm kein Bedürfnis nach Vergeltung geweckt. Gertrude konnte nicht daran zweifeln, dass sich diese unvernünftige Großherzigkeit nur aus seiner Liebe zu ihr erklären ließ; und obwohl sie sich davon überzeugt hatte, dass sie selbst seine Liebe nicht erwiderte, ärgerte sie sich über Aleck, weil er ihm Steine in den Weg gelegt hatte.

Um Ruhe vor solchen zudringlichen Gedanken zu erlangen, begann Gertrude wieder zu zeichnen und mit Ton zu modellieren. Ihr gescheiterter Versuch eines Basreliefs stand vertrocknet und rissig auf dem Brett, und Nettie, das Zimmermädchen, das ihn vom Dachboden herunter holen sollte, verlor die Hälfte davon unterwegs. Es handelte sich um den Kopf einer Nonne – und zwar einer sehr aristokratischen Nonne –, die von ihrer niederträchtigen Verwandtschaft in ein Kloster weggesperrt worden war.

Eine Nonne war für Gertrude immer eine poetische Figur gewesen; sie hatte sich selbst einmal mit Haube und Stirnband photographiert, um zu wissen, wie sie aussah, falls sie sich einmal entscheiden sollte, selbst eine zu werden. Sie fühlte in sich die Fähigkeit sowohl zur Entsagung wie auch zu hochgemuter Rebellion gegen Tyrannei, was beides für sie passenden Ausdruck nur in einem Dasein als Nonne erhalten konnte. Tatsächlich empfand sie in sich eine unerschöpfliche Befähigung zu jedem Gefühl, das für den Augenblick interessant erschien.

Nachdem sie sich mit frischem Ton versorgt hatte, begab sie sich wieder mit Begeisterung ans Werk und arbeitete drei Tage, im Wechsel von Eifer und Verzweiflung, an dem Gedanken, den sie ausdrücken wollte. Aber ihr kritisches Vermögen überflügelte stets so sehr ihr praktisches Geschick, dass sie nie etwas vollenden konnte, ohne den Wunsch es zu zertrümmern. Zwar hatte sie keine Zweifel an der Vortrefflichkeit ihrer Ideen; aber ihre Finger wurden von einem verdrehten Geist geführt, der sich dem verweigerte, was sie von ihnen wollte – so dass sie ihre feinsinnigen Absichten in etwas Peinliches und Banales verkehrten.

Sie warf einen Blick in den Ruskin John Ruskin (1819-1900), britischer Schriftsteller, Maler, Kunsthistoriker und Sozialphilosoph. Bei dem im Roman als »der Ruskin« bezeichneten Buch handelt es sich vermutlich um: The Elements of Perspective, Arranged for the Use of Schools and Intended to be Read in Connection with the First Three Books of Euclid (1859)., in der Hoffnung von ihm ein wenig Anleitung zu erhalten, und erfuhr dabei, dass sie ihr Studium dem Nahen und Vertrauten widmen solle und dass der unverdorbene menschliche Fuß eine sehr schöne Kombination harmonischer Linien darstelle. Mit der charakteristischen Impulsivität ihres entflammbaren Temperaments zog sie ihre Schuhe und Strümpfe aus und begann ihre Füße zu studieren. Ja, Ruskin hatte Recht – sie waren im Ganzen recht brauchbar. Große, ziemlich edle Linien – ein hoher Spann – nur der kleine Zeh war etwas deformiert und mit einem Hühnerauge verziert.

Gertrude wurde geradezu besessen von dem Verlangen, sie zu modellieren. Sie verdeckte ihre Nonne mit einem feuchten Lappen, ergriff ihre Modellierstäbe und arbeitete zügig die Umrisse eines Fußes heraus. Den Kaminvorleger aus Tigerfell zog sie vor, setzte ihren Stuhl und ihre Staffelei darauf und stellte gegen das Kamingitter einen Spiegel, in dem sich der Fuß des Entwurfs klar spiegelte. Sie bückte sich dann und wann, um Breite, Länge und Weite mit einem Zirkel zu messen und wurde von ihrer Arbeit so in Anspruch genommen, dass sie das mehrmals wiederholte Klopfen an der Tür überhörte. Sie summte und sprach mit sich selbst in Ausrufen ermutigender Zustimmung oder auch der Kritik.

»Nun, Gertie, das geht ja nicht,« sagte sie zum Beispiel, wenn sie ein plump modelliertes Gebilde beäugte, »das kannst du besser.« Oder wenn etwa die Leichtigkeit einer Formung ihr Freude machte: »Gertie, liebes Mädel, das hast du gut gemacht; damit bin ich einverstanden.«

Sie befand sich inmitten eines solchen Selbstgesprächs, als der Türknauf vorsichtig gedreht wurde und sie Dr. Hawks dunkles Gesicht in der Öffnung erkannte.

»Darf ich hinein kommen?« fragte er überrascht, als er ihre Beschäftigung sah. »Mr. Larkin bat mich, Ihnen einen ärztlichen Besuch zu machen.«

Gertrude sprang verwirrt auf, gewahrte plötzlich die Unvollständigkeit ihrer Toilette, warf sich auf's Sofa nieder und zog ihre Füße unter ihr Kleid. Bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte, kam es ihr nicht in den Sinn, dass sie ihn am Eintreten hätte hindern können.

»Entschuldigen Sie,« fing er an, während er sich langsam näherte; »aber ich nahm an, sie lägen krank im Bett. Ihr Vater sagte mir, dass Sie zum Essen nicht herunter gekommen seien.«

»Nein, ich hab's vergessen,« antwortete sie hastig; »ich hatte zu tun.«

»Ihre Mahlzeit haben Sie vergessen?« wiederholte er vorwurfsvoll. »Dann muss Ihre Beschäftigung, worin auch immer sie bestand, Sie sehr gefesselt haben.«

»Sie war – ziemlich fesselnd.«

Seine Blick fiel plötzlich auf den Klumpen feuchten Tons, der sich in einer Kiste auf dem Boden befand, und den noch unverdeckten Fuß auf dem Ständer.

»Aber, meine liebe junge Dame, was ist das?« rief er aus und wies auf diese überraschenden Gegenstände. »Eifern Sie Phidias Phidias (5. Jh. v.u.Z.) war einer der bedeutendsten Bildhauer der Antike; seine Werke sind vollständig vernichtet und nur in Form von Kopien vorhanden. nach?«

»Nein,« erwiderte sie errötend, als habe man sie bei etwas Beschämendem erwischt. »Ich schlage nur die Zeit tot.«

»Zeit war, glaube ich, immer Ihr Feind,« bemerkte der Doktor.

»Sie ist der Feind jeder Frau, solange sie von nichts etwas weiß.«

Sie nahm ein Skizzenbuch auf und begann, um ihre Verlegenheit zu verbergen, seine Seiten mit einer Miene von Interessiertheit umzuwenden.

»Sie scheinen mit dem Los der Frau im Allgemeinen im Kampf zu liegen,« fuhr ihr Besucher zögernd fort.

»Für eine Frau von Geist ist das alles, wofür ihr Los gut ist.«

»Um damit zu kämpfen?«

»Ja.«

»Empfinden Sie Ihres als so unbefriedigend?«

»Ja – ich leide unter – der göttlichen Unzufriedenheit,« sagte sie, schwach lächelnd ihre Augen zu ihm aufhebend.

»Dagegen kann ich kein Mittel verschreiben. Es handelt sich um eine Erkrankung, die – wie die Gicht – schmerzlich ist, aber eine gewisse Auszeichnung verleiht.«

Sie gab darauf keine Antwort, sondern ergriff einen Bleistift und fing an, auf ein leeres Blatt ihres Skizzenbuches zu kritzeln. Er wandte sich der Staffelei zu, auf der das verdeckte Basrelief stand. Ohne um Erlaubnis zu bitten, entfernte er den Lappen und untersuchte das Flachbildwerk mit einem Blick gespannter Aufmerksamkeit.

Gertrude warf über den Rand des Skizzenbuches Blicke verborgener Ängstlichkeit auf sein Gesicht. Sie wollte gleichgültig wirken; aber eine dunkle Unruhe schwelte in ihren Nerven.

»Das ist ein Stück Autobiographie, nicht wahr?« sagte Hawk nach einer peinlich langen Pause.

»Wie meinen Sie das?«

»Es ist eine Art Personifikation der göttlichen Unzufriedenheit.«

»Tatsächlich?« entgegnete sie etwas heuchlerisch. »Dessen war ich mir nicht bewusst.«

»Machen Sie das einem anderen weis,« versetzte er brüsk. »Diese rebellisch aufgeworfene Lippe – ich kenne das Original davon. Dieser schöne höhnische Zug – derselbe wie in den Lippen des Apollo von Belvedere Berühmte antike Marmorskulptur (römische Kopie eines griechischen Bronzewerkes, das zwischen 350 und 325 v.u.Z geschaffen wurde), Ende des 15. Jh. in der Villa Neros in Anzio wiederentdeckt; gilt seither als herausragendes Beispiel klassischer Bildhauerkunst. Der Name rührt von dem Standort im Statuenhof des vatikanischen Belvedere. – die erhabene Verachtung für die lästigen kleinen Gemeinheiten des Lebens – ich weiß auch, wo das herkommt. Der Chor der greinenden, summenden und brummenden Insekten des Misthaufens, gemischt zu einem dumpfen, hohlen Einklang, hat sie, anstatt ihre Seele einzuschläfern, ihrer Überlegenheit bewusst gemacht. Dieses Kinn von edler Stärke und Unbeugsamkeit kündet von ausdauernder Rebellion und Herausforderung des Schicksals. Die Haube und das Stirnband, die all diese Stärke und Lieblichkeit in ihrem dumpfen Rahmen halten, sind Torryville – das stumpfsinnige, teilnahmslose, in seiner Enge selbstzufriedene Torryville, wo ein Streben über Brot und Butter hinaus den Mann zum Sonderling macht und die Frau zur Verbrecherin.«

Gertrudes Skizzenbuch war auf ihren Schoß gesunken; sie lauschte zuerst mit Interesse, dann mit Entzücken, und als er fertig war, sprang sie, ihre Barfüßigkeit vergessend, auf, warf sich aber umgehend wieder aufs Sopha und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie schämte sich ihrer Aufregung, vermochte sie jedoch nicht zu beherrschen. Noch nie hatte jemand so ganz aus ihrem Herzen gesprochen. Nie hatte sie gehofft, in jemandem ein so subtiles Verständnis ihres innersten Selbsts zu finden. Ein Mann, der mit einer so tiefen Einsicht begabt war – durfte er nach gewöhnlichen Philistermaßstäben beurteilt werden? Wenn er sich von anderen unterschied, gereichte der Unterschied ihm nur zum Vorteil.

Der letzte Rest Misstrauen gegenüber dem Doktor schwand aus Gertrudes Herzen. Sie erkannt in plötzlich geklärter Sicht die Größe dieses Mannes, den sie so lange falsch beurteilt hatte. Sie fühlte, wie seine dunklen, traurigen Augen auf ihr ruhten, als sie dort lag und sich töricht ihrer Gefühle schämte. Sie schämte sich nun wiederum ihrer Scham; und so erhob sie sich in angestrengter Selbstbeherrschung zu einer halb sitzenden Stellung und richtete voller Ergebung und Dankbarkeit einen langen, freimütigen Blick auf den Doktor.

Hawk, der sogleich die Bedeutung dieses Blicks erkannte, wandte der Nonne den Rücken zu, nahm einen Stuhl und ließ sich in der Nähe des Sophas nieder. Eine sanfte Wärme schien von Gertrude auszustrahlen und kribbelte wohltätig durch seine Adern. Wäre ein Funke schlichter männlicher Geradlinigkeit in ihm gewesen, hätte er nun die Frucht pflücken können, die zitternd an ihrem Stiel hing und bereit war, ihm in den Schoß zu fallen. Aber der Rausch vorweggenommenen Sieges, der einen anderen Mann vor Glück besinnungslos gemacht hätte, steigerte Hawk hingegen seine Besinnung bis in die Fingerspitzen. Er musste seine kleine Komödie zu Ende spielen, sogar auf das Risiko unvorhergesehener Katastrophen hin.

»Miss Gertrude,« begann er in zärtlich bebendem Bass, der Spuren sprechtechnischer Geübtheit verriet, »wenn ich wagen darf, zu Ihnen zu sprechen, wie mein Herz es mir befiehlt …«

»Warum sollten Sie nicht mit mir sprechen?« flüsterte sie wild errötend.

»Ah, mein Kind, Sie kennen mich nicht! Sie kennen mich nicht!« murmelte er mit verzweifelter Stimme.

»Doch, ich kenne Sie,« protestierte sie herzlich und schaut ihn mit einem Blick begütigender Zusicherung an. Er hielt ihrem Blick stand; aber es lag nichts als eine kalte und etwas forcierte Schwermut in dem Blick, der ihren zu erwidern suchte. Ein Missklang – ein Schatten – etwas, das so unmerklich war, das es nicht mehr in Worte gefasst werden kann, stahl sich zwischen sie.

Wie ein Funke verlosch plötzlich das zärtliche Licht in Gertrudes Augen und hinterließ ein kühles Vakuum.

»Miss Gertrude,« sagte er mit einer Stimme, die vor flehender Demut zitterte; »urteilen Sie nicht über mich … urteilen Sie nicht über mich, bevor ich Ihnen alles gesagt habe.«

Er stand mit langsamen, wohlüberlegten Bewegungen auf, griff nach seinem Hut und schritt auf die Tür zu. Er verfehlte nicht, einen dramatischen Abgang zu Stande zu bringen, auch wenn die voraus gegangene Szene unbefriedigend geblieben sein mochte.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, sprang Gertrude in einem Aufruhr von Zorn, Verwirrung und Scham auf, rannte zum Bett, warf sich auf die Tagesdecke und verbarg ihr brennendes Gesicht in den Kissen. Es wirbelte ihr im Kopf. So lag sie eine Weile in benommener Lethargie und fühlte nur einen dumpf pochenden Schmerz. Sie konnte keine Klarheit darüber gewinnen, was geschehen war, oder ob überhaupt etwas geschehen war; sie empfand nur eine schmerzhafte Demütigung und ein dunkles Verlangen, jemand anderen zu verletzen, zum Ausgleich für die Verletzung, die sie erlitten hatte. Sie war tatsächlich bereit gewesen, sich in die Arme dieses Mannes zu werfen, wenn er sie denn zu ihrem Empfang geöffnet hätte. Sie hatte ihn unter dem Eindruck, dass er Ermutigung brauche, geradezu eingeladen, ihr einen Antrag zu machen – und er hatte sie kühl zurückgewiesen.

Aber … hatte er sie tatsächlich zurückgewiesen? Binnen Kurzem plädierte Gertrudes Herz bereits für den Doktor und versuchte sich zu überzeugen, dass er es eigentlich nicht böse gemeint habe. Männer waren einfach zu unbeholfen, ihre Anliegen richtig darzustellen. Wie könnte er, der sie so gut kannte, der in so schönen Worten ihr innerstes Verlangen ausgesprochen hatte – wie könnte er sie zurückweisen wollen?

Nein, es war nur seine törichte Loyalität, sein Pflichtgefühl gegenüber diesem elenden Mädchen, das ihr Geld in ihn investiert und sich dafür eine Hypothek auf seine Gefühle gesichert hatte – das war es, weshalb er sich so abscheulich verhalten hatte.

Mit diesem tröstlichen Gedanken erhob sich Gertrude, tauchte ihr Gesicht an der Waschschüssel ins kalte Wasser und klingelte nach ihrer Zofe. Als ihre Toilette abgeschlossen war, bestellte sie ihren Phaëton Kleine, zweiachsige Kutsche, die nicht von einem Bediensteten, sondern vom Herrn oder der Dame selbst gefahren wurde. Der Bedienstete saß auf der hinteren Bank., nahm jedoch nach kurzer Überlegung ihre Anweisung zurück und setzte sich zur Arbeit an ihr Basrelief. Es gelang ihr jedoch nicht, irgend ein Interesse daran aufzubringen. Ihre Nonne mit den verächtlichen Lippen kam ihr vor wie eine hässliche Karikatur. Je länger sie sie anschaute, um so unerträglicher wurde sie ihr. Der Ärger in Gertrudes Brust belebte sich wieder, als sie nachdenklich vor ihrer geschätzten Schöpfung saß. All die feinsinnigen Phrasen des Doktors gingen ihr wieder durch den Kopf, eine nach der anderen, und ihr hart erkämpfter Gleichmut verließ sie.

In einem Anfall von Ekel ergriff sie die Modellierstäbe und versetzte dem Gesicht ihres Konterfeis eine tiefe Scharte.



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