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XIX.
Streitlustige Tischgesellschaft.

Nach Miss Van Schaaks Ankunft trieb das Pfarrhaus die Frage um, ob man ihr zu Ehren einen Empfang oder ein Abendessen veranstalten solle. Das erste wäre natürlich leichter gewesen, aber dann hätte die gesamte Kirchengemeinde eingeladen werden müssen; und als Bella bedachte, was dies bedeuten würde, sank ihr der Mut. Sie wusste sehr genau, wie ein solcher Empfang aussehen würde und konnte sich all die kauzigen, peinlichen Musterstücke von Krämern, Kurzwarenhändlern, Apothekern und Landadvokaten mit ihren Ehefrauen vorstellen, wie sie vor ihrer Cousine Revue passierten; sie hörte schon all die fürchterlichen Redensarten, die sie von sich geben würden, und sah Kates schroffe Herablassung, wenn sie es leid wurde, liebenswürdig zu sein, und anschließend ihre hochnäsige Verachtung, wenn es ihr reichte, herablassend zu sein. Das alles würde natürlich Gerede nach sich ziehen und böses Blut machen, woran am Ende sie und ihr Vater zu leiden haben würden.

Im Grunde genommen war dies die unangenehmste Seite ihrer Stellung als Pfarrerstochter, dass sie stets ängstlich der öffentlichen Meinung Rechnung tragen musste. Bei jedem denkbaren Gesprächsthema, zu dem die Kirchengemeinde geteilter Meinung war, musste sie erfindungsreich taktieren wie ein Präsidentschaftskandidat. Da sich ihr Vater undiplomatisch und unbekümmert verhielt, musste sie doppelt gewieft und umsichtig vorgehen; und nicht selten bewältigte sie ein hartes Stück Arbeit, wenn sie wieder einmal einige seiner übereilten Aussagen schön reden musste.

Mr. Robbins hatte sein Urteil zu Gunsten des Abendessens und gegen den Empfang abgegeben, hauptsächlich weil er gute Mahlzeiten liebte und Empfänge hasste. Er nahm das Problem, wie man die vier Nagetiere loswerden könne, auf die leichte Schulter, während Bella es hoffnungslos verzwickt fand. Es war unmöglich, jedem der Herrn eines der Nagetiere zuzuteilen und außerdem eines ihr selbst zu reservieren, weil es erstens total lächerlich aussehen würde, und zweitens weil es gar nicht genug Schüsseln, Gabeln und Gläser für eine solche Runde gegeben hätte.

Kalte Schauer überliefen sie, wenn sie daran dachte, bei einem Abendessen in Gegenwart ihrer kritischen Cousine den Vorsitz übernehmen zu müssen; und als ihr die Vorstellung des exquisiten, unübertrefflichen Festes, das ihr in Gramercy Park gegeben worden war, blitzartig vor Augen trat, versank sie in Tiefen des Elends. Sie wünschte sich sogar, Kate wäre ein New Yorker Sonnenmythos geblieben und nie zur tatsächlichen Welt von Torryville hinab gestiegen. Aber das waren natürlich verbrecherische Gedanken, und Bella schämte sich ihrer Gefühle.

Das Abendessen musste ausgerichtet werden, da war nichts zu machen. Nach einigem jämmerlichen Ränkeschmieden wurde festgesetzt, dass zwei der Nagetiere krank sein würden – zu einem angemessenen Lohn, und die beiden anderen hätten Besuche auf dem Land abzustatten.

Weil das Geschirr (nach zwanzigjährigem Bruchverlust) nur für acht reichte, lag glücklicherweise die Menge allenfalls in Frage kommender junger Leute in der Stadt unter dieser Zahl. Da waren zunächst Horace und Aleck Larkin und Miss Gertrude; dann Dr. Hawk, bei dem davon auszugehen war, dass er einiges vom gesellschaftlichen Leben im Ausland kennen gelernt hatte und so notfalls gewissen Anforderungen genügte, sowie Pussy Dallas, die in New York zur Schule gegangen war und daher eine einigermaßen achtbare Erscheinung darstellte.

Entsprechende Einladungen wurden an diese wenigen Begünstigten versandt und umgehend angenommen. Nächtliche Kriegsräte wurden in Mr. Robbins' Arbeitszimmer abgehalten, und Aufregung beherrschte das Haus. Wein, Schildkröte und Wildpret wurden telegraphisch in New York geordert; zwei Austerngabeln wurden im letzten Moment noch vermisst, und eine Fingerschale wie auch ein Champagnerglas erwiesen sich als zerbrochen, waren aber vom schuldigen Kammermädchen heimlich geklebt worden. Dann weiteres Unheil und weiteres Telegraphieren.

Und um schließlich die Verwirrung auf die Spitze zu treiben, kam Bella in den Sinn, dass sie in ihrer Aufregung die Feindschaft zwischen Aleck und Dr. Hawk vergessen hatte und dass sehr wahrscheinlich ihre angespannten Beziehungen einen unerfreulichen Zwischenfall hervorrufen oder zumindest den Gemütern der übrigen einen Dämpfer verpassen würden. Trotzdem war das jetzt nicht mehr zu ändern.

Als der schicksalhafte Abend nahte, fühlte Bella sich wie ein tollkühner Kapitän, der mit einer hochexplosiven Ladung in See sticht und seine Chancen berechnet, ob er den Zielhafen erreichen werde oder nicht. In nervlicher Hochspannung hatte sie sich fast zu Tode gequält mit all den winzigen Einzelheiten der Anordnung, während ihr Vater gut gelaunt lachte und ihr empfahl, es leicht zu nehmen.

Erst als sie sich in ihr Zimmer zum Ankleiden zurückgezogen hatte, fiel ihr auf, wie abgezehrt sie aussah; ihre Hände zitterten, als sie ihr Haar löste, und sie musste eines der kranken Nagetiere hinab schicken, um ihr einen Fingerhut mit Cognac zu bringen; sonst habe sie Angst, selbst dem Abendessen fern bleiben zu müssen.

Als Mr. Robbins diese Botschaft erhielt, rannte er selbst in Hemdsärmeln hinauf mit einer Branntweinflasche in der Hand, während die Sockenhalter zu den Absätzen nieder baumelten; er konnte jedoch ins jungfräuliche Gemach nicht vorgelassen werden und musste seiner Ausgeschlossenheit in ängstlichen Fragen durch die Tür Ausdruck verleihen, die zuletzt vorsichtig geöffnet wurde, so dass die Flasche ihren Weg durch den Spalt nehmen konnte.

Ohne eine Zofe sich zum Abendessen zu kleiden, ist eine Leistung, zu der nur wenige Frauen dieses Alters in der Lage sind. Aber Not macht erfinderisch; und es ist erstaunlich, welche Kunststücke eine Frau zu vollbringen weiß, wenn ihr keine fremde Hilfe, auf die sie zurückgreifen kann, zur Verfügung steht. Die eine Dienerin des Hauses, die in Notfällen als Zofe agiert hatte, war am frühen Nachmittag in Miss Van Schaaks Zimmer gerufen worden und dort verblieben, bis das gebieterische Fräulein, strahlend anzuschauen, ins Wohnzimmer hinab gestiegen war.

Bella, die mit ihrem tollpatschigen und ziemlich übellaunigen Nagetier vorlieb nehmen musste, erlitt zwei oder drei Nervenzusammenbrüche auf ihrem Bett und hätte geheult, wenn sie nicht gewusst hätte, dass Tränen Spuren hinterließen. Als schließlich ihre Toilette beendigt war, schwor sie einen ebenso feierlichen wie lautlosen Eid, dass sie, bevor sie noch einmal ein Abendessen gäbe, sich erst von allen guten Geistern verabschieden müsse.

Sie traf ihren Vater draußen vor der Tür stehend, gut aussehend, glatt und distinguiert, aber mit einem Gesicht voller ängstlicher Fragezeichen.

»Oh, keine Sorge, Papa, es geht mir gut,« sagte sie beschwichtigend; und dann, als er sie mit zufriedener Erleichterung küsste, rief sie mit hysterischem Lachen:

»Oh, Papa, du schrecklicher Mensch, du bist ganz mit Reispuder bedeckt!«

Um die Spuren dieser unvorbereiteten Umarmung zu beseitigen, mussten sich beide einige Minuten in ihre Ankleidezimmer zurückziehen, und als sie wieder in Erscheinung traten, ihre gefühlvollen Impulse zügeln.

»Oh, wie reizend wir aussehen!« rief der Pfarrer, der genau wusste, was von ihm erwartet wurde; »absolut bezaubernd!«

»Na, Papa!« stieß seine Tochter in geheucheltem Missfallen hervor, »sei nicht so grässlich! Du weißt genau, dass ich komplett abscheulich aussehe!«

»Also, wenn du abscheulich aussiehst, mein Liebling, dann bin ich außer Stande, Schönheit zu beurteilen.«

»Nun mal ehrlich, Papa: Seh' ich nicht gerädert und ausgelaugt aus?«

»Oh, mein süßes Kind, du bist frisch wie eine Rose,« rief er ohne rot zu werden.

»Wie eine verwelkte Rose, meinst du?«

»Nein, eine Maréchal Niel Rose Diese gelbe Rose, nach dem damals als Held von Solferino umjubelten französischen Feldmarschall Adolphe Niel benannt und 1864 auf den Markt gekommen, erlebte zur Zeit des Romangeschehens wegen ihres Dufts und ihrer Blütenform eine begeisterte Mode., frisch gepflückt, zu eineinhalb Dollar das Stück.«

Er hatte lange genug mit Frauen zusammen gelebt, um Kompromisse mit seinem Gewissen schließen und gut- und böswillige Verlogenheit auseinanderhalten zu können. Es war für seine Tochter wichtig, dass sie glaubte, heute abend gut auszusehen, und nicht einmal die Folter der Inquisition hätten ihm das Zugeständnis abgerungen, dass die Angst Spuren auf ihrem zarten Gesicht hinterlassen hatte. Ehrlichkeit ist letztlich in einer kultivierten Gesellschaft eine problematische Tugend.

Bella ahnte vielleicht vage die Heuchelei ihres Vaters, für die sie ihm jedoch dankbar war. Sie hinterließ einen Zweifel, der sich infolge der verzwickten Vorgänge in ihrem Gemüt in eine schmeichelhafte Gewissheit verwandeln mochte.

»Papa,« sagte sie und schaute ihn an, während Feuchtigkeit sich in ihren Augen sammelte, »du bist absolut reizend.«

»Ich?!« rief er fröhlich. »Meine Güte, Kind, ein alter Kerl wie ich! Du glaubst anscheinend, ich hätte ein Kompliment provozieren wollen?«

»Nein, Papa, aber du bist einfach süß!«

»Na schön, Liebling. Was müssen wir für eine bezaubernde Familie sein?! Und da stehen wir herum und verschwenden sorglos unsere Süßkraft aufeinander. Wäre es nicht Zeit für uns, hinunter zu gehen?«

Sie nahm mit nervösem Zittern seinen Arm und stützte sich merklich auf ihn, während sie zum Wohnzimmer hinab stiegen.

»Ich wünschte, ich wäre für die nächsten vier Stunden tot, Papa,« flüsterte sie bebend.

»Mein liebes, süßes Kind, nun sei vernünftig,« antwortete er in zärtlich schmeichelndem Ton; »weißt du, alles wird gut gehen. Aber sollte etwas schief gehen,« fügte er nach einer Pause hinzu, »dann denk daran: Rechtfertige dich nicht dafür. Tu es mit einem Lachen ab; mach einen Scherz daraus.«

Sie lauschte mit einem fernen Blick, als hätte sie nur halb vernommen, was er gesagt hatte.

»Es wird etwas geschehen, dass wir wünschen, wir hätten diese Leute niemals zusammen gebracht,« murmelte sie.

In dem Pfarrer glomm dunkel ein Gedanke auf, aber es war keiner, über den man hätte sprechen können, und so schwieg er. Er hörte das Rascheln gestärkter Röcke und voluminöser Draperien über sich, und empor blickend erkannte er Kate, die in ihrer ganzen prächtigen Gewandung auf ihn nieder schaute. Ein Stechen nistete sich in seiner linken Seite ein, als diese glänzende Erscheinung sich neben seine ermüdete und nervöse Tochter stellte und sie, wie es ihm erschien, in grausamem Triumph verfinsterte. Ich fürchte dennoch, dass er Kate Unrecht tat. Sie kam gar nicht auf die Idee, ihr außerordentliches, vollendetes Selbst mit ihrer reizbaren kleinen Cousine zu vergleichen. Sie wirkte kühl, frisch und unabhängig, weil sie von dem Gefühl getragen war, dass für sie nicht das Geringste bei diesem Abendessen auf dem Spiel stand, dem sie als einer gelinden Abwechslung zugestimmt hatte, und weil es unhöflich gewesen wäre, zu zeigen, wie vollkommen gleichgültig ihr die ganze Sache war.

Die Gesellschaft traf pünktlich ein, außer Miss Dallas und Dr. Hawk, der davon ausging, dass eine leichte Verspätung schick sei. Horace, ein wenig unbehaglich in seinem Anzug wirkend, war der erste, der Miss Van Schaak vorgestellt wurde und ihr versicherte, dass er glücklich sei, ihre Bekanntschaft zu machen. Sie stellte fest, dass er sich nur im Nacken, aber nicht in den Hüften verbeugte und dass er ein seidenes Halstuch trug. Das kleine spöttische Lächeln, das häufig in ihren Mundwinkeln lauerte, kräuselte ihre feinen Lippen, aber sie unterdrückte es sofort.

In einem kühl-seegrünen Seidenkleid von delikatestem Farbton trat Gertrude vor und schüttelte ihr die Hand, verzichtete jedoch auf eine Vorstellung, als kennten sie sich von früher. Kates weibliches Luchsauge registrierte alle Einzelheiten des Gewandes und entschied, dass es sehr hübsch und malerisch sei, aber jener höchsten Stilnote entrate, die man außerhalb New Yorks kaum zu sehen bekam.

Der Pfarrer wiederum, dem mehr an Schönheit als an Stil lag, stieß einen langen, hörbaren Seufzer der Bewunderung aus.

»Ist das nicht ziemlich gemein von Ihnen, Miss Gertie,« sagte er mit seinem schlauen, freundlichen Lächeln, »einem alten Herrn wie mir solche Fallen zu stellen?«

Gertrude erhob gelangweilt ihre blauen Augen und sah dem Pastor ins Gesicht, bis ein träges, widerstrebendes Lächeln sich über ihre Züge ausbreitete.

»Sie wissen, Mr. Robbins,« sagte sie, »das es immer mein Bestreben war, Sie zu fesseln; aber sie erinnern mich an den gewieften alten Fuchs, der um die Löwenhöhle herum schnüffelte und schmeichelhafte Reden hielt, aber sich einzutreten weigerte.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass der fragliche Fuchs schmeichelhafte Reden hielt.«

»Oh, ja, wissen Sie nicht mehr, wie er sagte, dass alle Spuren zum Löwen führten und keine von ihm weg? Und wenn der Löwe, wie ich mir einbilde, eine Löwin war, muss sie sich gewaltig geschmeichelt gefühlt haben.«

In diesem neckischen Ton unterhielten sie sich noch zehn oder fünfzehn Minuten weiter, bis Dr. Hawk und Miss Dallas in Erscheinung traten. Dann wurde das Abendessen gemeldet, und jeder Herr reichte seinen Arm der Dame, die ihm zugeteilt war. Bella hatte lange um unversiegelte Briefumschläge gerungen, die den Herren durch einen Diener in der Garderobe überreicht werden sollten; ihr Vater hatte indes beharrlich darauf hingewiesen, dass ›so viel Stil‹ die Kirchengemeinde gewiss schockieren und seinen Gegnern im Gemeinderat in die Hände spielen werde. Dementsprechend nahm er selbst die Rolle des Dieners an und erteilte die nötigen Hinweise. Er bot Kate seinen Arm und schritt voran ins Esszimmer; Dr. Hawk folgte mit Gertrude; dann kam Aleck mit Pussy Dallas, und Horace und Bella bildeten die Nachhut.

Mr. Robbins sprach kurz und mehr geschäftsmäßig das Dankgebet, und der angemietete Diener goß goldenen Sauterne Ein edelsüßer Weißwein aus dem Anbaugebiet Bordeaux. (der einem Fest König Belsazars Ehre gemacht hätte) in böhmische Gläser, die durchsichtig wie Luft und leicht wie Blasen waren. Die Austern Im Original » Blue Points«, also jene kleine Austern-Art von der Südküste Long Islands. wurden ohne viel Konversation abgefertigt, außer einigen mild scherzhaften, an den Gastgeber im Hinblick auf die Tafel im Allgemeinen gerichteten Bemerkungen. Der Sherry, körperreich, weich und von dunkler Bernsteinfarbe, entstammte einem erlesenen, alten Jahrgang, und Mr. Robbins befand sich in äußerster Versuchung, die Etikette zu verletzen und seinen Gästen mitzuteilen, welch kostbares Zeug sie da tranken; aber er beherrschte sich, obwohl er zusammenzuckte, als er sah, wie Horace sein Glas mit derselben Empfindung leerte, als wenn es ein Milwaukee-Lagerbier gewesen wäre.

Trotz aller Bemühungen des Wirtes um allgemeine Unterhaltung blieb der Ton an der Tafel während der ersten halben Stunde steif, und niemand, außer vielleicht Kate, fühlte sich vollständig entspannt. Horace unternahm zwei oder drei nutzlose Versuche, Bella in die Konversation einzubeziehen; aber sie verfolgte mit ihren Augen den Diener und war mit ihren Gedanken in der Küche, so dass sie ihm nur wahllos und abgelenkt antwortete und so bewies, dass sie nicht zugehört hatte. Dann und wann erteilte sie flüsternd dem Butler Anweisungen und lachte nervös über die nüchternsten Bemerkungen ihres Tischpartners – schließlich ist Lachen in der Regel angemessener als Tränen.

Horace, einer solchen Vernachlässigung von ihrer Seite ungewohnt und zu begriffsstutzig, sie der Situation zu Gute zu halten, war geneigt, sich in seinen Panzer zurück zu ziehen und seine Brillanz für sich zu behalten. Man hatte ihn (ach! er hätte sich nie träumen lassen, mit welcher tieferen Absicht) auf derselben Seite der Tafel wie Miss Van Schaak plaziert, mit Gertrude und Dr. Hawk dazwischen, und so konnte er den Ehrengast weder sehen noch sich mit ihm unterhalten.

Ein ziemlich peinliches Schweigen begann sich in der Gesellschaft auszubreiten, als endlich der Pfarrer verzweifelt vorpreschte, die Sprache auf Literatur brachte und eine bekannte Autorin erwähnte, die er zu bewundern gestand.

»Finden Sie nicht, dass ihr ›Tuscaroora‹ Ein Werk dieses Titels scheint nicht zu existieren, so dass auch die ungenannte Autorin fiktiv sein wird. – Die ›Tuscarora‹ sind übrigens ein US-amerikanischer Indianerstamm. ein bezauberndes Werk ist?« sagte er, sich an Miss Van Schaak wendend.

»Ja, es ist, glaube ich, ganz nett,« antwortete sie etwas lebhafter; »aber wussten Sie, was ich dieser Tage über sie hörte? Sie hat einen Bruder, der Schneider ist!«

Alle brachten ihr Erstaunen über einen so anormalen Umstand zum Ausdruck, außer Horace, der sich vorbeugte, um einen Blick auf das Gesicht der jungen Dame werfen zu können, und sagte:

»Und? Ist er ein guter Schneider?«

Dies erregte natürlich Gelächter, in das Kate herzlich einstimmte.

»Warum wollen Sie das wissen?« fragte sie fröhlich; »wollen Sie ihm einen Auftrag geben?«

»Nein,« antwortete Horace in seinem trockenen, sachlichen Stil, »aber ich sehe nicht, warum es jemandes Ansehen schaden sollte, nur weil sein Bruder Schneider ist; ich für meinen Teil hätte lieber jemanden zum Bruder, der ein guter Schneider, als einen, der ein schlechter Anwalt oder ein mittelmäßiger Arzt ist.«

»Wir wollen doch bitte nicht persönlich werden, Mr. Larkin,« rief Dr. Hawk; »Ihr Bruder könnte Einspruch erheben.«

Das war ein schriller Ton, und jeder fühlte es. Aleck verfärbte sich ein bisschen und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, nahm im Übrigen aber die Herausforderung nicht weiter zur Kenntnis.

Kate allerdings fühlte sich plötzlich beschwingt. Die starke, sichere Stimme, die den Mut aufbrachte auszusprechen, was ihr als eine höchst abwegige Meinung erschien, erregte ihren Widerspruchsgeist und setzte ihr Denken in rasche Bewegung.

»Darf ich Sie fragen, Mr. Larkin,« fing sie an, »was Ihrer Meinung nach einen Menschen schätzenswert macht?«

»Wie gut er es versteht, sich an seine Umwelt anzupassen,« antwortete Horace ohne Zögern.

»Ach herrjeh! Ist das nicht schrecklich? Ich fürchte, dann bin ich ein entsetzlich unschätzenswertes Geschöpf.«

»Gestatten Sie, Ihnen da nicht zuzustimmen. Ich kenne Ihre Umwelt nicht, aber wenn ich Sie sehe, habe ich keine Schwierigkeit, meine Schlussfolgerungen zu ziehen. Ich würde sagen, dass Sie das vollkommenste Produkt einer bezaubernden Umwelt sind, das ich je erblickt habe.«

Er hatte diese ziemlich gewichtige Bemerkung mit einer Stimme beendet, als richte er sich an die Geschworenen, und wollte gerade zu seinem filet de b?uf zurück kehren, als er ein Paar großer erschreckter Augen auf sich gerichtet sah.

»Oh, Miss Bella, was ist los?« fragte er, ein wenig von Reue ergriffen. »Wenn Sie mich so vorknöpfen, werde ich den Mund halten.«

Kate hatte das Kompliment zu sehr überwältigt, um sogleich zu antworten. Schmeicheleien war sie hinreichend gewohnt; das geradezu wissenschaftliche Aroma dieses Kompliments jedoch und der überzeugte Ton, in dem es geäußert worden war, verliehen ihm eine neuartige, nicht unerwünschte Eindringlichkeit.

Mr. Robbins hatte inzwischen die Gelegenheit ergriffen, seinen Einwand einzuflechten.

»Was Sie da sagen, Mr. Larkin,« hob er, seinen Wein mit sichtlichem Wohlgefallen schlürfend, etwas skeptisch an, »läuft das nicht darauf hinaus, dass der erfolgreichste Mensch der schätzenswerteste ist?«

»Ja,« sagte Horace entschlossen. »Erfolg ist im Grunde nur Anpassung an die Umwelt. Oder?«

»Gewiss.«

»Würden Sie sagen, dass der Hecht, der alle anderen Fische im See auffrisst, der schätzenswerteste Fisch ist?« warf der Doktor ein, bemüht seine Intellektualität zur Schau zu stellen.

»Ja, würde ich. Bei den Bedingungen, unter denen er lebt, hat er nur die Wahl zu fressen oder gefressen zu werden. Ich respektiere ihn dafür, dass er einen klaren Blick für seine Lage beweist.«

»Und dies übertragen auf menschliche Bedingungen,« fuhr der Pfarrer fort, »würde zu dem Grundsatz führen, dass der erfolgreichste Räuber der schätzenswerteste Mensch wäre. Die längste Tatze und der stärkste Kiefer: das ist es, was Ihnen Respekt abnötigt.«

»Nun ja,« erwiderte Horace mit prächtiger Kaltblütigkeit, »ich respektiere starke Kiefer und lange Tatzen, und das tun Sie auch, nur haben Sie nicht den Mut, das zuzugeben. Der räuberische Zustand ist, wenn auch sehr gemildert, noch nicht überwunden. Wenn ich vor der Alternative stehe, entweder ein Raubtier zu sein oder ein Tier, auf das Jagd gemacht wird, bin ich lieber ein Raubtier. Das Gesetz hingegen, das ich nur in bescheidener Weise repräsentiere, bezieht seine Existenz aus dem Zweck, die räuberischen Instinkte des Menschen zu bändigen und, so weit es möglich ist, die Beute vor dem Raubtier zu schützen.«

»Ich dachte, es existiere zu dem Zweck, starke Kiefer stärker und lange Tatzen länger zu machen,« stieß Kate in lebhaftestem Interesse hervor.

»Es wird zu diesem Zweck recht häufig angewendet,« gab Horace mit derselben ruhigen Überlegenheit zu; »aber es wurde nicht zu diesem Zweck entwickelt.«

»Sie dürfen nicht auf ihn hören, Miss Van Schaak,« rief der Doktor; »er ist ein eingefleischter Zyniker.«

»Es ist meines Bruders Steckenpferd,« bemerkte Aleck, sich etwas über den Tisch vorlehnend, »dass die Vorsehung uns den Streich gespielt hat, uns mit Instinkten und Leidenschaften auszustatten, die wir glauben, zu unserer persönlichen Befriedigung und Beglückung erhalten zu haben, während sie die ganze Zeit nur einem allgemeinen Zweck dienen, wie etwa der Erhaltung der Rasse und dem Wohlstand der Gesellschaft.«

»Da sehen Sie, Aleck: in was für tiefe Gewässer sind wir da geraten?« warf der Pfarrer mit unbestimmter Besorgnis ein.

»Nein, bitte, Onkel; lassen Sie ihn fortfahren,« bettelte Kate mit funkelnden Augen; »es interessiert mich ungemein!«

»Ich ziehe mich zu Gunsten des Juniorchefs der Firma zurück,« murmelte Horace und widmete seine Aufmerksamkeit wieder seinem lange vernachlässigten Teller.

»Nun, meine Damen und Herren,« seufzte der Pfarrer, »ich geb's auf. Aber Sie kriegen keinen Madeira, so lange Sie sich mit den Rätseln des Daseins herumquälen. Champagner können Sie sowieso nicht bekommen, weil dies ein geistliches Haus ist, wo das Fleisch abgetötet werden muss.«

Er hatte gehofft, durch diese scherzhafte Drohung dem Gespräch eine andere Wendung geben zu können, was zum Teil gelang. Denn fünf oder zehn Minuten lang gestattete man den Problemen der Schöpfung Ruhe, und es entstand eine Diskussion über das ewig frische und unerschöpfliche Thema: die Ehe.

»Nun, Liebe,« bemerkte Bella vom unteren Ende der Tafel (es war das erste Mal, dass das arme Kind sein Gemüt von der Speisenfolge abzuwenden gewagt hatte), »Liebe ist persönlich. Wer hat je davon gehört, dass einer sich in das Wohlergehen der Gesellschaft verliebt hätte?«

»Niemand hat vielleicht jemals davon gehört,« erwiderte Horace; »aber jeder tut es.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie es tun?« stieß Bella hervor, die selbst nur persönlich war.

»Ich könnte es gar nicht vermeiden, es zu tun. Ich würde wahrscheinlich nicht hingehen und mich mit einer jungen Dame wegen des Wohlergehens der Gesellschaft verloben oder zumindest würde ich ihr das nicht sagen; und ich könnte mich sogar mit dem Annahme betrügen, dass ich es nur täte, um mir selbst eine Freude zu machen – oder der jungen Dame.«

»Sie sind abscheulich!« rief sie gereizt.

»In diesem Fall nun hätte ich keinen Erfolg damit gehabt, die fragliche Dame zu erfreuen,« wiederholte er nüchtern; »aber das ist ohne Bedeutung.«

»Sagten Sie gerade, es sei ohne Bedeutung, ob Sie Erfolg damit hätten, die mit Ihnen verlobte Dame zu erfreuen?« erkundigte sich zweifelnd Kate mit erhobenen Augenbrauen.

»Ja, Ma'am,« gab der unerschütterliche Horace zur Antwort, innerlich glucksend über das köstliche Paradox; »es hat mit dem Problem nichts zu tun.« Nichts bereitete ihm so viel Vergnügen wie sich mit der Miene logischer, juristischer Sachlichkeit über etwas lustig zu machen.

»Ich glaube, Sie würden bald herausfinden, dass es doch so wäre,« brach es aus Miss Dallas in ihrem schrillen Sopran hervor.

»Ich fürchte, Sie missverstehen mich, meine Damen,« fuhr Horace fort, nahm einen Schluck Claret Ein roter Bordeaux-Wein. und wischte sich mit der Serviette seinen Schnurrbart; »ich behaupte lediglich, dass derjenige Mann, der glaubt zur eigenen Befriedigung oder Vergnügung zu heiraten, ein verblendeter Dummkopf ist. Er hegt gewisse Illusionen, was vom sozialen Gesichtspunkt aus sehr günstig ist, weshalb es dennoch Illusionen bleiben. Für die Existenz der Gesellschaft ist es von grundsätzlicher Bedeutung, dass er Kinder haben und ihnen große Sorgfalt widmen sollte – damit sie sich gut an die Umwelt anpassen. Keine Institution könnte hierfür geeigneter erscheinen als die Ehe, so wie jetzt existiert. Wenn er seiner Frau überdrüssig wird, könnte er denken, dass es seinem Glück förderlich wäre, sie fort zu schicken und eine andere zu nehmen. Da aber kommt die Gesellschaft und sagt ihm: ›Nein, mein Lieber, das darfst du nicht. Du musst bei Deiner Abmachung bleiben, ob du willst oder nicht!‹ Ich denke, die Gesellschaft hat vollkommen Recht, das zu sagen; aber niemand wird mich davon überzeugen, dass es aus Rücksicht auf das Glück des Mannes geschieht, dass sie dies verlangt. Nein, es geschieht um der Erhaltung der Gesellschaft willen.«

»Aber die Gesellschaft sagt nichts dergleichen,« protestierte Mr. Robbins ernst; »sie gestattet vielmehr einem Mann, wenn es für ihn oder für seine Frau nicht mehr gut ist, dass sie zusammen bleiben, sich zu trennen, mit der Bedingung, dass er sie und seine Kinder weiter unterstützt.«

»Ganz recht; aber die Gesellschaft gibt dieser gewaltsamen Wiederaufnahme der Freiheit so strenge Strafen bei, dass der Mann sehr leichtsinnig sein muss, wenn er das wagt. Und darüber hinaus werden Scheidungen in den meisten Bundesstaaten überhaupt nur unter recht demütigenden Bedingungen zugestanden. Aber wie ich schon sagte: ich habe an dieser Sachlage nichts zu bemängeln. Ich finde sie vollkommen angemessen. Nur wäre es, glaube ich, klug, vor der Unterzeichnung des Vertrages einen klaren Blick für seine Bestimmungen zu haben.«

»Dann vermute ich, Mr. Larkin, dass Sie nie zu heiraten beabsichtigen.«

»Oh doch, Miss Van Schaak; aber ich beabsichtige ebenso, mir möglichst günstige Bestimmungen zu sichern.«

»Und wäre es indiskret zu fragen, was Sie als günstige Bestimmungen betrachten?«

»Zuerst Gesundheit, dann Wohlstand; und zu guter Letzt Ausgeglichenheit.«

»Und was beabsichtigen Sie im Gegenzug für all diese hübschen Dinge anzubieten?«

»Mein wertvolles Selbst, Miss Van Schaak,« antwortete er mit einer rhetorischen Geste; »den Wert von jemandem, den niemand besser kennt als ich; einen Mann,« fuhr er fort, sein eigenes Verhalten vergnügt parodierend, »der seine Überlegenheit gegenüber der gewöhnlichen Gattung bis in die Spitzen seiner Zehen und Finger fühlt, und für den nichts, was in Reichweite seines Ehrgeizes liegt, nicht zu erlangen wäre.«

Diese Lobrede wurde mit einem Ausbruch von Gelächter begrüßt; und im Schutze dieses Lachens erhielt Mr. Robbins Gelegenheit, zu Kate sotto voce Mit halber Stimme; in gedämpftem Ton. sagen:

»Sie denken vielleicht, das sei ein Scherz; aber ich versichere Ihnen: er meint es Wort für Wort so, wie er es sagt.«

»Tatsächlich?! Welch ein interessanter Mann!« antwortete Kate flüsternd; und in der Tiefe ihres Herzen begann sich für Horace Larkin ein Gefühl von tiefem Respekt und Bewunderung fest zu setzen. Er sah ein bisschen ungehobelt aus, wie er da an der Tischecke saß, während er kantig, schroff und in aller Gemütsruhe alles in Frage stellte, aber er war trotzdem ungeheuer eindrucksvoll. Und sie zweifelte nicht, dass sie, falls sie sich jemals entscheiden sollte, ihn als Bewerber um ihre Gunst zu berücksichtigen, ihn kultivieren und seine krassesten Kanten glätten könnte.

»Ich hoffe, Sie haben Erfolg, eine Dame zu finden, die Ihre Ansichten bezüglich Ihres Wertes teilt,« sagte sie lächelnd.

»Oh, da besteht keine Gefahr, Ma'am,« lachte er mit deutlicher Absicht zu schockieren; »ich kenne ganze Scharen von ihnen.«

»Aber wenn Heirat das ist, was Sie sagen,« flötete Pussy, über ihre eigene Kühnheit errötend, »dann kann ich nicht glauben, dass Sie etwas damit zu tun haben wollen.«

»Was habe ich denn gesagt, das sie wäre?« fragte Horace, dem Mädchen zunickend, als sei es ein schüchternes Kind.

»Sagten Sie nicht, es wäre ein Vertrag?«

»Ja, und gewöhnlich ein ziemlich schlechter.«

»Das erinnert mich daran,« sagte Aleck, »was Mike Maginnis dieser Tage zu Onkel Obed bemerkte. Sie wissen ja, dass Mike gerade aus dem Gefängnis in Sing Sing Neben der vor San Francisco liegenden Gefängnisinsel Alcatraz (die Haftanstalt dort ist inzwischen aufgelöst) war Sing Sing (der Name geht zurück auf das indianische Sint Sinks, was "Stein auf Stein" bedeutet) das bedeutendste und bekannteste Hochsicherheitsgefängnis. Es wurde bis 1828 von Häftlingen gebaut und befindet sich, als staatliches Gefängnis, in Ossining, etwa 50 Kilometer entfernt von New York City im US-Bundesstaat New York. zurück gekommen ist, wo er vier Jahr wegen Totschlags gesessen hat. ›Nun, Mike,‹ sagte Onkel Obed zu ihm, ›wie hat dir Sing Sing gefallen?‹ ›Deibel auch, Mister Larkin,‹ antwortete Mike; ›ich mag's nich', nee, überhaupt nich'; und das sag' ich Ihn'n, Mister Larkin, wenn se's nich' bald gesell'jer un' gemütlicher mach'n, zum Henker, dann wird kein anständ'jer Mann mehr dahin woll'n.‹ Das entspricht so ziemlich der Ehe, wie Horace sie definiert hat; sie muss dringend verbessert werden, oder kein anständiger Mann wird sie mehr eingehen wollen.«

»Aber wenn die Ehe eine so schlechte Sache ist,« bemerkte Bella, nachdem das Gelächter sich gelegt hatte, »warum leiden dann so viele an unglücklicher Liebe?«

»Ich kenne nicht viele, bei denen das so ist,« erwiderte Horace; »aber vielleicht haben Sie Recht. Ich kannte 'mal einen, der an unglücklicher Liebe zu sich selbst litt.«

»Unglückliche Liebe zu sich selbst!« rief Kate. »Wie war das möglich?«

»Na ja, er war ein überaus eitler Bursche, von Kopf bis Fuß selbstverliebt; aber in seinen nüchternen Augenblicken wusste er sehr genau, dass er ein geistloser Windbeutel war, der sich bloß über seine Fähigkeiten hinaus aufblies. Er liebte sich selbst, war jedoch unfähig, seine eigene Zuneigung zu erwidern.«

Horace ließ seinen Blick heimlich zu Dr. Hawk gleiten, während er diesen Vorfall berichtete, unterließ es aber, die Anspielung so zuzuspitzen, dass sie von jemand anderem hätte verstanden werden können.

Die Unterhaltung sank jetzt zu Banalitäten ab, wurde im Ton dagegen immer lebhafter, und es war offenkundig, dass jeder beschwingte Augenblick zur Gänze mit Vergnügen aufgeladen war. Sogar Gertrude, die sich in Gesellschaft gewöhnlich zurück hielt, verlor ihre Teilnahmslosigkeit und verwickelte sich in eine scherzhafte Kontroverse mit dem Doktor.

Die Eiscreme war unglücklicherweise nicht sonderlich geschickt zu früh aus dem Kühlschrank genommen worden; Bella, die sich gerade zum Ausbleiben unerwünschter Zwischenfälle gratuliert hatte, begann ihr armes Hirn zu zermartern, wie sie durch einen Scherz dieses Unheil lindern könnte. Aber sie musste feststellen, dass sie zu humorvollen Beiträgen nicht in der Lage war, während ihr Vater völlig geistesabwesend aß, ohne zu entdecken, dass etwas nicht stimmte.

»Ich fürchte, meine Damen und Herrn,« sagte sie schließlich, einer glücklichen Eingebung folgend, »dass diese Eiscreme ein wenig unter Ihrer Beredsamkeit gelitten hat.«

»Wieso?« fragte Mr. Robbins in männlicher Beschränktheit. »Ich finde sie sehr gut.«

»Wie könnte überhaupt Eiscreme von Beredsamkeit beeinflusst werden?« fragte Dr. Hawk.

»Sie macht sie weich,« sagte Bella in der Hoffnung, sich klar genug zu äußern.

»Wie merkwürdig!« gab der Doktor von sich. »Ich habe zwar Beredsamkeit kennen gelernt, die mich weich gemacht hätte, aber dass sie Eiscreme auftauen könnte …«

»Wir haben zuviel geredet, und die Eiscreme musste warten,« rief die Tochter des Hauses mit verzweifeltem Lachen. »Haben Sie es jetzt verstanden?«

»Sie meinen, ich hätte zuviel geredet,« bemerkte Horace trocken; »denn ich war's, der den größten Teil des Gesprächs bestritten hat.«

»Sie könnten gar nicht zuviel reden, selbst wenn Sie wollten,« murmelte sie vertrauensselig und richtete ihre großen, verträumten Augen in unverhüllter Verehrung auf ihn. Sie erzählten eine Geschichte, die sie schon so oft erzählt hatten, und sie sagten ihm nichts, dessen er sich nicht bereits vollkommen bewusst war. Aber diese zärtliche Botschaft, die sonst immer eine kleine Antwort erhalten, weil sie ihm eine schmeichelhafte Genugtuung gewährt hatte, war ihm nun unangenehm und verursachte ihm leichtes Unbehagen. Anstatt sie wie ein Liebhaber zu quittieren, wie er sonst oft getan hatte, beugte er sich über seinen Teller und gab vor, den bedeutsamen Blick nicht wahrzunehmen. So sah er auch nicht das heiße Erröten, das diese Demütigung über den Nacken des Mädchens und ihre Wangen ergoss und bis in die Spitzen ihrer rosenfarbenen Ohren brannte.

Mittlerweile war der Kaffee serviert worden, und Mr. Robbins überreichte die Schlüssel zu seiner kostbaren Vitrine dem Diener, der sogleich mit drei Schachteln sorgfältig sortierter Zigarren zurückkehrte. Die Herren trafen ihre Wahl, und die Damen ergriffen die Gelegenheit, sich ins Wohnzimmer zurück zu ziehen. Ihr Abgang gab das Signal zu vermehrter Ausgelassenheit im Speisezimmer, während im Wohnzimmer ein peinliches Schweigen Überhand nahm. Jede fühlte sich den anderen gegenüber so seltsam fremd; Kälte breitete sich zwischen ihnen aus, und niemand konnte sich eine Bemerkung vorstellen, die nicht ganz und gar künstlich gewirkt hätte.

»Mädels,« sagte Pussy Dallas schließlich in ihrem schrillen Stakkato, »ich finde Zigarren einfach furchtbar. Männer sollten entweder mit dem Rauchen aufhören, oder Frauen sollten auch damit anfangen. Das würde ihnen nur recht geschehen.«

»Du musst schrecklich abhängig von männlicher Gesellschaft sein, Pussy,« bemerkte Gertrude. »Ich habe nichts dagegen, wenn sie rauchen, so viel sie wollen.«

»Na, von mir aus!« verkündete Miss Dallas. »Ich denke, es macht mehr Spaß, sich mit Männern zu unterhalten als mit Damen. Es ist irgendwie nicht aufregend, sich mit Mädchen zu unterhalten. Egal was man da sagt, es kommt nichts dabei 'raus.«

Pussy Dallas hatte sich den Spitznamen »Studententrost« eingehandelt, wegen ihrer unverhüllten Hingabe an das männliche Geschlecht, und besonders an jenen Teil, der die Hochschule bevölkerte. Man sagte von ihr (obwohl es natürlich eine niederträchtige Verleumdung darstellte), dass sie es sich zur Regel gemacht habe, sich mit wenigstens einem Mann pro Kurs zu verabreden. Sie besaß ein zartes, blondes Gesicht mit Grübchen und sah aus wie die kokette Unschuld. Sie war stets in Bereitschaft für alles, was »Spaß« versprach, typisch amerikanisch in ihrer lachenden, verantwortungslosen Mädchenhaftigkeit. Das Leben war für sie ein anhaltender »Jux«, ohne andere Sorgen als solche, die sich aus schlechtem Wetter ergaben oder wenn ein Herr die Verabredung nicht einhielt. Ihr frischer Schmollmund schien zum Küssen gemacht und erfüllte, sofern das Gerücht nicht log, seine Bestimmung. Sie weidete sich an Unfug und hatte sich deshalb an diesem Abend etwas eingeengt gefühlt durch die würdevolle Gesellschaft und eine gewisse Ehrfurcht, die sie Horace Larkin gegenüber unterhielt: er war der einzige jüngere Herr in Torryville, mit dem sie nicht liebäugeln konnte.

Es erleichterte die vier Fräulein, als das Scharren der Stühle auf dem harten Holzboden das Ende des »Tabakkollegs« ankündigte. Sobald die Flügeltüren geöffnet wurden, ging Horace in gedankenloser Impulsivität, die ihm ganz unähnlich sah, zu dem Sofa, auf dem Miss Van Schaak saß, und setzte sich – in aller Ruhe den Doktor, der dasselbe Ziel verfolgt hatte, verdrängend – neben sie.

Hawk stand vor ihr in seiner Hamlet-Attitüde, und seine Augen glühten vor schwermütiger Verehrung. Er setzte drei- oder viermal zu aufrüttelnden Bemerkungen an, erschlaffte indes unter Horace' schamlosem Blick, redete unzusammenhängend und verlor sich in Konfusion.

Kate lächelte in offensichtlichem Vergnügen und wandte frauenhaft ihre ungeteilte Aufmerksamkeit dem Sieger zu. Ein Band der Sympathie schien zwischen ihnen an der Tafel hochgeschnellt zu sein, und jeder war sich des anderen Wohlwollen bewusst. Sie unterhielten sich lebhaft eine halbe Stunde, bis draußen der Klang von Rädern und das Schnauben der Pferde daran erinnerten, dass es Zeit sei aufzubrechen.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die übrige Gesellschaft das Signal mit Freude vernahm; Horace hingegen, der sich selbst in seiner Brillanz überbot, sprach eifrig weiter, um einen Vorwand zum Bleiben zu haben. Natürlich hörte er sich gern selber reden. Welcher gute Redner tut das nicht? Noch viel mehr aber gefiel ihm zu beobachten, welche Wirkung seine Rede auf Kate hatte. Sie reagierte keineswegs demonstrativ, explodierte nicht etwa oder verfiel in Ausrufe über seine Bonmots und überraschenden Paradoxien. Vielmehr lag eine beständige Gelassenheit in ihrer Haltung, sogar wenn sie angeregt war, und eine bezaubernd weltläufige Würde, die vollkommen mit ihrer guten Herkunft harmonierte. Sie gab ihm auf unbeschreibliche Art das Gefühl, dass die ihm von ihr zugemessene Aufmerksamkeit etwas Kostbares sei, das nicht leicht jemandem bewilligt werde; und ihm schmeichelte diese zurückhaltende, qualifizierte Anerkennung von ihrer Seite mehr als die aufgeregte Begeisterung der Fräulein, die sich ihm täglich an den Hals warfen. Trotzdem war er unsicher, ob ihre freundliche Zuwendung mehr war als das natürliche Verlangen jeder Frau zu gefallen, verstärkt durch perfekte Umgangsformen und umfangreiche Erfahrung in den gesellschaftlichen Kunstfertigkeiten.

Dieser Zweifel quälte ihn, als er sich erhob, um Abschied zu nehmen und das zu beseitigen, was so lange seinen Aufbruch verschoben hatte. Aber es war immer noch da, als er mit seinem Bruder durch das trübe Mondlicht ging, und vermischte sich irgendwie mit dem frischen, feuchten Duft aufbrechender Knospen und sprießenden Laubs, der in warmen Wellen durch die Nacht zog.

»Ich mag Frauen, die nicht aus der Haut fahren,« sagte er im Ton tiefer Überzeugung zu Aleck.

   

Als dagegen im Pfarrhaus alles still und Kate zur oberen Region hinaufgestiegen war, stand Bella da und starrte auf ihren Vater mit einem kleinen erzwungenen Lächeln und einer kläglichen Vortäuschung leichten Herzens, wovon er sich gleichwohl nicht hintergehen ließ. Sie sah bleich aus und erschöpft bis zum Tode; ein seltsames Grau wurde um ihre Augen sichtbar, die in fieberischer Helligkeit brannten.

»Mein liebes Kind, was ist los?« fragte er in liebevollem Kummer.

»Oh, Papa, ich habe mir nur gerade selbst gratuliert, dass alles so gut ging,« zwitscherte sie matt in einem unnatürlichen Sopran und wurde ohne jegliche Vorwarnung in seinen Armen ohnmächtig.



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