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XX.
Penelopes Freier.

Es war erstaunlich, welche Anziehungskraft dem Pfarrhaus während des Aufenthalts von Miss Van Schaak in Torryville zuwuchs. Dr. Hawk war ein beinahe täglicher Besucher, und in der Stadt liefen Gerüchte um, dass er so gut wie willens war, die geheimnisvolle Hypothekarin seiner Gefühle im Stich zu lassen, falls die blendende Maid vom Gramercy Park dazu gebracht werden könnte, deren Platz einzunehmen. Er bestellte per Express Rosen aus New York und schickte sie, in Begleitung einiger herzerweichender Verszeilen von Omar Khayyam, ins Pfarrhaus; und als sie keinen wahrnehmbaren Eindruck hervorriefen, sandte er eigene, in schwärzeste Melancholie getauchte Gedichte hin.

Er unternahm sogar einen persönlichen Besuch von New York zum Zweck einer rätselhaften Besorgung, und nach seiner Rückkehr wusste er mehr als jeder andere in Torryville über den finanziellen und gesellschaftlichen Status der Familie Van Schaak. Er probierte die Rollen aller den Dichtern bekannten heroischen Figuren, um Miss Van Schaaks Gunst zu gewinnen, kam jedoch am Ende zu dem Schluss, das sie eine schäbige, erdbehaftete Seele sei ohne jeden höheren, verständnisvollen Blick für edlere Dinge. Er brauchte einen ganzen Monat, bis er dies entdeckte, und würde noch länger gebraucht haben, wenn er in der Lage gewesen wäre, auch nur das schwächste Irrlicht von Hoffnung auf dem vor ihm liegenden Dornenpfad auszumachen.

Aber es nützte nichts, sich der Tatsache zu verschließen, dass Miss Van Schaak ihn, wie Horace es ausgedrückt hätte, wie einen »feigen Hund« Im Original: » yaller dog«, was so viel wie »Feigling« bedeutet; die Slang-Version von » yellow« wertet die Bezeichnung zusätzlich ab. behandelte. Sie verhielt sich extrem hochnäsig, und jene eigentümlichen Linien auf jeder Seite ihrer Nase, welche die Gegenwart eines üblen Geruchs vermuten ließen, traten recht deutlich in Erscheinung, sobald auch nur der Name des Doktors ausgesprochen wurde. Über seine feinen Empfindungen konnte sie nur lachen, nannte ihn samt seiner erbärmlichen Theatralik einen lächerlichen kleinen Dorfschönling und vernichtete ihn vollständig, indem sie gelegentlich seine wahllosen Zitate berichtigte. Sie benahm sich so entmutigend, wie eine Frau es einem Mann gegenüber nur sein kann, der offensichtlich gewillt ist, ihr seinen Namen, sein Herz und sein übriges Eigentum zur Verfügung zu stellen.

Natürlich widersprach es aller Voraussicht, wenn er ihr ungeachtet all dieser ungünstigen Anzeichen einen formellen Heiratsantrag machte, der prompt und unzweideutig zurück gewiesen wurde. Trotz alledem konnte der Doktor sich nicht einmal dann in das Unvermeidliche schicken. Er maß sich einen so hohen Wert bei, dass er nicht begriff, wie es jemand nicht wahrzunehmen vermochte, welch eine außergewöhnliche, überlegene Persönlichkeit er sei. Er fand sich selbst so ungemein interessant und war durch die Verehrung der Fräulein von Torryville so verwöhnt, das er sich Miss Van Schaaks eisige Gleichgültigkeit nur durch die Unterstellung erklären konnte, das jemand (wahrscheinlich Horace oder Aleck) ihn verleumdet habe, oder dass die Gefühle der Dame bereits vergeben seien.

Seltsamer Weise schien aber allem Anschein nach Professor Ramsdale derjenige von Kates Verehrern zu sein, der – um die ortsübliche Redewendung zu gebrauchen – »auf der Innenbahn lief«. Ihn empfahl, dass er ein ziemlich schüchterner Mann war und keine Kapriolen schlug, um sich interessanter zu machen. Er war trotz seiner Beharrlichkeit von Gertrude so entschieden und erbarmungslos abgewiesen worden, dass es sehr entschuldbar gewesen wäre, wenn er begonnen hätte, seine Aussichten auf Trost an anderer Stelle zu prüfen. Er hatte freilich bei einer Gelegenheit erklärt, dass er, wenn Gertrude ihn siebenmal zurückwiese, sogar bis zum siebzigsten Mal durchhalten werde; aber ich fürchte, dass Treue, wenn sie zu solchen Extremen getrieben wird, schon nicht mehr als Tugend gelten dürfte; vielleicht empfand Ramsdale selbst seine Beständigkeit als Don-Quijoterie.

Alles in allem beruhte sein Rang in Kates Augen zuerst und hauptsächlich nicht auf seinem Durchhaltevermögen als zurückgewiesener Liebhaber, sondern darauf, dass er ein guter Reiter war. Er saß nicht nur gut zu Pferde, sondern besaß die Muskeln eines Herkules und vermochte jedes Pferd zu handhaben, das in diesem Teil des Bundesstaates zu finden war. Ausritte waren das einzige in Torryville gebotene Vergnügen, das Kate nicht langweilte, und da Ramsdale den einzigen verfügbaren Kavalier für solche Ausflüge darstellte, hätte sie blind gegenüber ihren eigenen Interessen sein müssen, wenn sie ihn nicht gnädiger Weise als Freund zugelassen hätte. Etwas Ernstes, Robustes hatte er zudem an sich, das Vertrauen schaffte und Brillanz abscheulich erscheinen ließ. Beruhigend wirkte er, gemütlich – ein sicherer Zufluchtsort vor ermüdenden Zwischenfällen und geistiger Anstrengung.

Er besaß die seltene Fähigkeit zu schweigen, ohne dumm zu erscheinen, und seinem Begleiter Schweigen zuzugestehen, ohne dass Verlegenheit aufkam. Meile um Meile ritten sie zusammen, den einen Hügel hinauf, den anderen wieder hinunter, ohne den Mund zu öffnen, es sei denn zu einer gelegentlichen Bemerkung über ihre Pferde oder das Wetter. Wenn ihr Sattelgurt zu fest saß, lockerte er ihn; war er zu lose, zog er ihn fest. Er hob sie herunter vom Sattel und in den Sattel hinauf mit schöner unsentimentaler Genauigkeit, als sei sie ein netter Junge, den er in Obhut genommen hatte. Wenn das Pferd unruhig wurde oder »sich nicht benahm«, hob er seine Hufe einen nach dem anderen, klaubte einen Kiesel heraus, der sich unter dem Hufeisen eingekeilt hatte, verlängerte oder kürzte die Zügel, tätschelte das Tier und sprach mit ihm wie mit einem alten Freund. Kate bezweifelte nicht länger, dass Männer dieser Art ihre Vorzüge hatten und Frauen eine schlechtere Wahl treffen konnten, wenn sie einen von ihnen als lebenslangen Gefährten nahmen.

Und dennoch (so widersprüchlich ist die weibliche Natur): wenn Ramsdale, durch ihre Gunst ermutigt, einen Ausflug ins Gebiet der Gefühle zu unternehmen wagte, fühlte sie sich verletzt, als hätte er ihr Vertrauen missbraucht, und erkältete ihn durch ihre kühle Ferne bis ins Innerste seines Herzens. Der Professor nahm die Warnung an, ließ das gefährliche Thema fallen, schlüpfte unerschütterlich zurück in seine Rolle des Herrenreiters und bewahrte sich so vor weiterer Demütigung.

Kate war etwas enttäuscht, wenn es auch ihr Gemüt nicht wahrnehmbar berührte, dass Horace Larkin sich fern hielt und sich nicht in den Zirkel ihrer Verehrer einreihte. Gerüchtweise hatte sie vernommen, dass er so gut wie verlobt sei mit ihrer Cousine Bella, ja, dass sogar der Tag ihrer Hochzeit bereits feststehe. Aber auf jeden Fall behelligte er Bella nicht mit seinen Aufmerksamkeiten; und wenn er in sie verliebt war, so verdiente er Anerkennung für den Erfolg, mit dem er seine Gefühle verbarg.

Bella hatte zwar eine sehr klare Andeutung hierauf am Tag der Tischgesellschaft abgewiesen; Kate war indes der Meinung, dass sie mit Horace verlobt zu sein wünschte und dies eben keine vollendete Tatsache war, was sie durch ihren peinlichen kleinen Aufschrei deutlich gemacht hatte. Sehr wahrscheinlich war er dazu gedacht, Unbefugte vor dem Betreten des Grundstücks unter Androhung strafrechtlicher Konsequenzen zu warnen.

»Wie gefällt dir Horace Larkin?« hatte Bella mit gleichgültiger Miene gefragt, die in die Irre geführt hätte, wenn sie nicht ein bisschen übertrieben gewesen wäre.

»Er gefällt mir sehr gut,« hatte Kate in gedankenloser Direktheit geantwortet. »Ich denke, er ist ein sehr kluger Mann.«

»Oh, ich bin ja so froh, dass er dir gefällt,« hatte ihre Cousine in plötzlichem Feuereifer ausgerufen; »ich glaube auch, dass er unglaublich klug ist.«

Es war natürlich schwierig zu bestimmen, wieviel Absichtlichkeit in dieser anscheinend arglosen Erklärung lag; Kate lehnte es ab, sie ernst zu nehmen oder es sich zu gestatten, sich von irgendwelchen Vermutungen beeinflussen zu lassen. Es kränkte sie dennoch mehr, als sie zugeben wollte, dass der einzige Mann in Torryville, dem sie die Ehre ihrer Bevorzugung erwiesen hatte, die Impertinenz besaß, sich rar zu machen und keine Gelegenheit zu suchen, den Eindruck, von dem er recht gut wusste, dass er ihn gemacht hatte, zu vertiefen. Frauen, dachte sie, hätten ein Monopol auf diese Taktik, und es sei unter der Würde eines Mannes, es mit ihnen in puncto kompliziertem Gehabe aufnehmen zu wollen.

Sie hörte munkeln, dass Horace »Netze auslege« wegen seiner Frühjahrs-Wahlkampagne, und dass er bereits einen sicheren Platz habe, wenn er Mitglied der Versammlung werden wolle. Aber es schien ihr unvorstellbar, dass jemand eine solche Angelegenheit wichtiger finden könne als die Pflege ihrer wertvollen Gunst. Sie gab nicht im Entferntesten ihre Beunruhigung in dieser Sache preis, aber trotzdem dachte sie ziemlich oft über die Motive und Absichten dieses rätselhaften jungen Mannes nach, der es sich leisten konnte, eine Bekanntschaft, die Millionen Dollar wert war, einfach weg zu werfen, als ob es ein abgebranntes Streichholz wäre.

Noch litt ihre Eitelkeit unter den Beeinträchtigungen, die Horace' Betragen ihre verursachte, da überraschte er sie eines Nachmittags, indem er mit dem hohen Familien-Buggy und dem schmucken Jim vorfuhr und sie zu einer Fahrt einlud. Das schien ziemlich befremdlich – besonders das Erklimmen jenes unbequemen Gefährts, das einen in so unerfreulich nahen Kontakt mit seiner Begleitung brachte; aber sie entschied nach kurzem Zögern, dass sie viel zu sehr daran interessiert war zu erfahren, was er als nächstes tun werde, als dass sie diese Chance aus Rücksicht auf die Etikette hätte verstreichen lassen.

So brachen sie denn gemeinsam auf, erzeugten in jeder Straße, auf der sie erschienen, Aufregung (obwohl es wenig äußere Belege dafür gab) und verbreiteten Staubwolken über ungemähte Wiesen. Wenn auch das Wetter ausgezeichnet war, weder zu warm noch zu kalt, und die Sonne mit höchst wohltuender Mäßigkeit schien – als hätte sie keinen anderen Wunsch auf Erden, als sich beliebt zu machen –, schien ihr Begleiter zeitweise ein wenig distanziert und beschwerte sich über das Pferd ohne den geringsten sichtbaren Grund. Weder war er brillant noch auffallend liebenswürdig, bemühte sich aber mit einigem Erfolg wenigstens um Höflichkeit.

Er wies mit seiner Peitsche auf die verschiedenen Farmhäuser, an denen sie vorbei kamen, erzählte, wer dort lebe, und erwähnte die notwendigen Umstände im Leben der Bewohner. Ein Farmer war verdächtigt worden, seine erste Frau vergiftet zu haben, obwohl nie ein Beweis dafür erbracht wurde; ein anderer hatte seiner Gemahlin das Leben zur Hölle gemacht und sie mit bewundernswerter Zuvorkommenheit mit einem Seil versorgt, als sie drohte, sich aufzuhängen; ein dritter hatte etwas gegen die Heirat seiner Tochter mit dem Sohn eines Nachbarn, woraufhin die jungen Leute ein Pferd und den Buggy genommen und einander in den Armen liegend sich gegenseitig mit Pistolen erschossen hatten, und das Pferd hatte in alter Gewohnheit den Heimweg angetreten und sie direkt vor die Tür des unnachgiebigen Vaters gebracht.

Es gab noch einiges mehr von derselben Art; der Schluss, den Horace daraus zog, lautete, dass es ein großer Fehler sei anzunehmen, dass die schlimmsten Verbrechen sich nur in der Stadt ereigneten. In den Vereinigten Staaten würden die Leute ebenso wie in Russland Verbrechen aus purer Langeweile begehen; im Ganzen gesehen wolle er sie dafür nicht tadeln. Wenn ihm im Leben nichts anderes Interessante passiere – wenn er keinen Ehrgeiz hätte, sich mit einem bestimmten Sinn fürs Leben auszustatten, dann sei es nicht unwahrscheinlich, dass er irgendwann anfangen werde, seine Frau zu schlagen, um Geschehnisse zu liefern, die ihm selbst und genauso seiner Frau die Monotonie des Daseins linderten.

Kate mochte Flachsereien dieser Art durchaus, fühlte sich aber zu Einwänden bemüßigt, um das Gespräch aufrecht zu erhalten.

»Aber stellen Sie sich vor, Ihre Frau hätte etwas dagegen,« sagte sie, »was würden Sie dann tun?«

»Ich würde ihr so viel Disziplin beibringen, dass sie nichts dagegen hätte,« antwortete er in komischem Ernst.

»Ich fürchte, Sie würden nach der Hochzeit einige unerfreuliche Entdeckungen machen,« stieß sie lachend hervor.

»Vielleicht. Aber ich bin dem Umgang mit ihnen gewachsen. Ehe, wissen Sie, ist ein Vertrag gegenseitiger Zustimmung …«

»Ich würde sie lieber eine Übereinkunft gegenseitigen Entgegenkommens nennen.«

»Oh, nein, das würde niemals funktionieren. Meinungsverschiedenheit ist unvermeidlich. Entgegenkommen auf Seiten des Mannes wäre fatal für den häuslichen Frieden. In einer gut organisierten Familie muss es ein gewisses Maß an Despotismus geben – einen klugen, väterlichen Despotismus, wenn Sie wollen. Kultivierte Leute stimmen Missverständnissen zu und missverstehen sich freundschaftlich; Wilde missverstehen sich und bekämpfen sich deshalb.«

»Dann klassifizieren Sie sich selbst unter die Wilden?«

»Oh, ja; ich würde mich nicht wundern, wenn ich noch eine Menge Wildheit in mir hätte.«

»Dann kann ich nur hoffen, dass Sie auch eine Wilde heiraten werden.«

»Das bezweifle ich; denn ich bin immerhin so weit kultiviert, dass ich eine kultivierte Frau heftig verehre.«

Er wandte sich ihr zu und schaute sie mit jäher Entschlossenheit an; und lag es daran, dass dieser Blick so unerwartet kam, oder an seiner offensichtlichen Bedeutsamkeit: sie fühlte einen unklaren Aufruhr in ihrem Herzen und starrte hinaus über den See, um ihre Errötung zu verbergen.

Eine solche Erfahrung hatte sie bisher noch nie gemacht. Sie hatte nie zuvor einen Mann getroffen, der sie so vom Sockel geworfen und sie zum Verlust ihrer vornehmen Gelassenheit gebracht hatte. Sie kannte aus Romanen die Symptome der Liebe und argwöhnte, dass dies eines von ihnen sei. In die goldene Seelenruhe, die ihre Tage bisher bestimmt hatte, war nie zuvor eine Empfindung eingedrungen, die stark genug gewesen war, ihren großartigen Gleichmut zu erschüttern.

Horace Larkin wusste, dass er einen Punkt gemacht hatte; er gab dem Pferd die Peitsche, und eine Weile wirbelten sie rasant über die ebene Straße am Seeufer entlang. Das Wasser glänzte wie Glas, und ein Fischer, der hinaus gerudert war, um seine Netze zu prüfen, entsandte von seinem Bug lange, sich ausbreitende Wellen zum Ufer. Einige verirrte Möwen, die eigentlich auf einem Binnensee nichts zu suchen hatten, kreisten schweigend über ihm und tauchten gelegentlich in sein Kielwasser, um Bekanntschaft mit den Nachahmern ihrer selbst machen, die zur Begegnung mit ihnen von unten herauf schwebten. Hässliche kleine Bootshäuser, zerklüftete Baumwurzelzäune und Ahornbäume, Kiefern und Heuschrecken schienen ein Rennen um ihr Leben hin zu dem schnellfüßigen Jim und den Buggyinsassen zu laufen – Kate empfand den Rausch der Geschwindigkeit und atmete in tiefem Behagen.

Sie saß zurückgelehnt, betrachtete verstohlen ihren Begleiter und bemühte sich, den Eindruck zu analysieren, den er auf sie machte. Sie hatte ihren gewohnten Gleichmut nahezu zurück gewonnen, wenngleich es ein Störungszentrum – wie es im Wetterbericht heißt – unter der Oberfläche gab, dort, wo das Herz mit seinen Wurzeln im uranfänglichen Seelendämmer verschlungen ist. Er hatte Recht, dachte Kate, oder wenigstens halbwegs Recht, sich einen Wilden zu nennen; sie war sich nicht ganz sicher, ob es eben diese Wildheit in ihm war, die sie anzog. Dabei wurde sie jener dunklen Furcht gewahr, die bei einer Frau ihrer Art der Beginn von Liebe sein mochte; sie wusste, dass sie, wenn er sich unwiderruflich entscheiden sollte, sie zu seiner Frau zu machen, sich am Ende ergeben musste. Sie hoffte fast – heimlich fürchtend, ihre Hoffnung könnte sich erfüllen –, er werde den Gedanken an sie aufgeben, sie wieder zurück gleiten lassen in ihr belangloses Leben und seinen eigenen Weg ohne sie gehen.

Sie hatte immer gedacht, sie würde einen hübschen Mann heiraten. Er war nicht hübsch, wohl eher das Gegenteil. Die Art, wie er im Buggy saß: halb entspannt sich vorbeugend mit den Ellbogen auf den Knieen; die rohe Kraft seiner Züge, die Beliebigkeit seiner Kleidung, das allgemeine Fehlen von Schliff in seiner gesamten Erscheinung – alles bewies, wie fern er ihrer Lebenssphäre stand. Er war nicht von reiner Rasse; sie unterstellte sogar beinahe, dass er – gemessen an ihrem früheren Maßstab – nicht einmal ein Gentleman war. Und doch lag in ihm etwas, das jeden Mann, den sie bisher kennen gelernt hatte, im Vergleich unbedeutend erscheinen ließ. Er war ein Mann – jeder Zoll von ihm – und er hatte das rechte Maß seiner selbst genannt, als er gesagt hatte, dass nichts, was im Bereich seines Ehrgeizes liege, ihm unerreichbar sei.

Nachdem sie sechs oder sieben Meilen das Seeufer entlang gefahren waren, fand sich eine Straße, die über die Hügel zurück zur Stadt führte und einen viel ausgedehnteren Blick über die Landschaft gewährte. Der Hang war felsig, und oft reichte das überwachsende Geäst der Platanen bis in die Mitte der Landstraße und schlug sein feuchtes Laub den Insassen des Buggys ins Gesicht. Das verursachte leichte Aufregung, unvorhergesehene Zusammenstöße und Berührungen, für welche die anständige Kate, falls sie einer anderen widerfahren wären, die strengsten Eigenschaftswörter angewendet hätte. Aber irgendwie konnte sie in diesem Fall dem Astwerk seine Impertinenz nicht übelnehmen; vielmehr weckte die Aufregung ihre Lebensgeister, bis sie von ihrem eigenen heiteren Lachen und ihrer unsinnigen, hemmungslosen Freude selbst einigermaßen überrascht wurde. Das war gewiss nicht die Kate, die vor drei Wochen New York verlassen hatte – deren eisiger Anstand den Mut aller außer den wagemutigsten Bewerbern um ihre Hand hatte erstarren lassen.

Gegen sechs Uhr abends erreichten sie den Hochschul-Campus und fuhren langsam vorbei an dem großen Sandsteinbauwerk mit seinen langen, ebenmäßigen Reihen von Fenstern, in denen die Abendsonne mit feurigem Glühen brannte. Sie trafen auf Studentengruppen, die mit ihren Büchern und Brotbüchsen aus den Labors kamen, und einige koedukative Fräulein mit Tennisschlägern.

Die breiten, kiesgestreuten Alleen waren auf jeder Seite mit jungen Ulmen und Ahornbäumen bepflanzt, die künftigen Generationen weiten Schatten versprachen, und eine leuchtend rote Kapelle ragte mit ihrer Turmspitze in einen leuchtend blauen Himmel.

Entlang der Straße lagen nicht weit von einander die Häuser der Professoren in allen Abstufungen architektonischer Protzigkeit oder Schlichtheit; unterhalb von diesen waren zwei ziemlich große und ansehnliche Gebäude zu erkennen, welche die Kapitelhäuser der geheimen » Greek Letter«-Gemeinschaften Bei den » Greek Letter Societies« handelt es sich um Studentenverbindungen, die allerdings nicht den deutschen Burschenschaften ähneln, sondern der Traditionslinie geheimer Bruderschaften folgen. Bis heute gibt es z.B. die » Chi Phi Fraternity«, gegründet 1824, deren Name auch zeigt, was es mit der Bezeichnung » Greek Letter« auf sich hat. Ihre »Kapitelhäuser« beinhalten die Räumlichkeiten der jeweiligen Verbindung. Ursprünglich standen Gesellschaften dieser Art für Herzensbildung und Streben nach Höherem; es waren, wie Hannes Stein 2015 schrieb, »studentische Vereine, in denen ernsthafte junge Männer über den Sinn des Lebens debattierten und Shakespeare lasen, sich zu Gentlemen bildeten und ihre Professoren abends zu einem gepflegten Cocktail einluden. Nach dem Bürgerkrieg in den USA kamen Rituale des › hazing‹ hinzu, also der Schikane: Neumitglieder mussten sich nach allen Regeln der Kunst demütigen oder dem Ekel aussetzen lassen, ehe ihnen gestattet wurde, den › pledge‹ zu leisten, das Gelöbnis, mit dem sie Mitglied ihrer Gemeinschaft wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg mutierten die Fraternitys dann zu Saufklubs, in denen unverhohlen mit sexuellen Eroberungen geprotzt wurde.« Der im weiteren Text vorgeführte Kapitelsaal bestätigt die frauenfeindliche Richtung solcher Verbindungen bereits am Ende des 19. Jh. bildeten. Horace erklärte Kate gerade, soweit sein Schwur Das in der vorigen Anmerkung als › pledge‹ bezeichnete Gelöbnis., ihre Geheimnisse zu wahren, es zuließ, diese Institutionen, als plötzlich auf dem Dach einer dieser geheimnisvollen Gebäude ein Flagge gehisst wurde.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Kate mit lebhaftester Neugier.

»Das ist ein Gruß an Sie,« antwortete sie; »es ist meine Bruderschaft.«

»Das ist aber nett von ihnen. Empfangen sie Besucher?«

»Aber sicher. Ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen das Haus zu zeigen, wenn Sie gerne möchten.«

»Das würde ich sehr gerne. Aber sagen Sie mir erst, was Sie dort tun.«

»Oh, wir praktizieren schreckliche mitternächtliche Riten, von denen Ihnen jedes einzelne Haar auf Ihrem Kopf zu Berge stehen würde, wie die Quaste eines gereizten Stachelschweins.«

Sie lachte, während er ihr aus dem Wagen half; Jim nutzte die Gelegenheit, sich so zu schütteln, dass sein Geschirr rasselte, willigte aber ohne weitere Vorhaltungen ein, sich am steinernen Koppelpfosten anbinden zu lassen. Ein halbes Dutzend Studenten, bemüht die Ehre des Hauses zu erweisen, erschien auf dem Platz, ohne auf das Erklingen der Türglocke zu warten, und wurde von Horace mit Miss Van Schaak bekannt gemacht. Einer der jungen Männer, namens Lovel, sah erfreut und verlegen aus, während ein anderer, namens Cottrell, sich mit seinem munteren Selbstvertrauen und bunten modischen Aufzug als Bewohner der pazifischen Küste kund tat. Die beiden bildeten ein Empfangskomitee und stellten mit großem Stolz die hübschen Anordnungen des Hauses vor.

»Und jetzt,« sagte Kate, seinen Arm nehmend, zu Cottrell, der sie mit überfließender Zuvorkommenheit belagerte, »würde ich gern ein paar der Geheimnisse kennen lernen.«

»Ich bedauere sagen zu müssen, dass wir nicht befugt sind, Fremden den Zugang zu den Kapitelsälen zu gestatten,« erwiderte der Californier mit plötzlichem Ernst.

»Wer verbietet es Ihnen?«

»Unsere Gesetze und Traditionen.«

Kate musste wieder lachen und wandte sich an Horace, um ihn um die Ausübung seiner Autorität zu bitten. So öffnete man nun die Tür zu einem großen sonnigen Raum mit schönem Ausblick auf den See und das Tal.

»Wollen Sie mir die Ehre geben und eintreten?« fragte Cottrell mit einem gastlichen Wink seiner Hand; »dies ist meine bescheidene Wohnstatt.«

Der Raum war hell und heiter und in ziemlich luxuriösem Stil möbliert. Zigarrenduft durchzog die Atmosphäre. Die Wände waren bedeckt mit Kupferstichen und Zeichnungen, die allesamt nackte Nymphen und Göttinnen, antike wie moderne, darstellten, und zwischen die Rahmen war eine Vielzahl von Schauspielerinnen in Strumpfhosen und verschiedenen pikanten Stellungen angeheftet. Es gab Ledas, Galateas, Danaës, aus dem Meerschaum sich erhebende Venusse; und Lydia Thompsons, Maude Branscomes, Mary Andersons Zeitgenössische, d.h. nicht fiktive, britische und amerikanische Tänzerinnen, Sängerinnen und Schauspielerinnen. und zahllose andere schauspielernde Zelebritäten, von denen niemand wusste, wo sie herkamen. Über dem Kamin hing in großem Rahmen eine gestickte Motto-Tafel mit der Aufschrift: »Koedukation stiehlt die Zeit« Frauenfeindliche Abwandlung der berühmten Sentenz » Procrastination is the thief of time« (Aufschieben stiehlt die Zeit), die ihrerseits von dem britischen Dichter Edward Young (1683–1765) in seinem Gedicht » Night Thoughts« (1742/45)formuliert worden war.; und zwischen den Fenstern war eine andere, vertraute Mottotafel, wiederum gestickt, zu sehen: »Gott wird für uns sorgen«, dem in ornamentaler Schrift »mit Zigarren« hinzugefügt worden war.

Kate war zuerst schockiert über die Verderbtheit des jungen Mannes, aber zu sehr Frau von Welt, um ihre Missbilligung zu verraten. Trotzdem entdeckte Cottrell einen Ausdruck von Zurückhaltung in ihrer Miene und bemerkte entschuldigend:

»Wissen Sie, wir haben alle unsere Spezialgebiete, sonst gäbe es keinen Spaß im Leben. Mein Spezialgebiet sind Mädchen, das von Lovel Briefmarken.«

Der schüchterne Lovel errötete bis zu den Ohren über diese niederträchtige Verleumdung, war jedoch zu einer intelligenten Revanche außer Stande.

»Gehen Sie in diesen Raum und schauen Sie,« rief Cottrell; »seine Wände sind mit Kouverts bedeckt, so dass man keinen Zoll der Holzverkleidung sehen kann.«

»Das ist nicht wegen der Briefmarken,« stammelte der errötete Jüngling; »es ist wegen der Autogramme.«

»Er hat Gladstone William Ewart Gladstone war viermal britischer Premierminister und einer der bedeutendsten britischen Politiker in der zweiten Hälfte des 19. Jh., Bismarck, Grant, den deutschen Kaiser und andere hohe Tiere ohne Ende,« erklärte der Californier, in Lovels Wohnung voran gehend.

Seine Beschreibung erwies sich als richtig; die Wände waren bis zur Decke hinauf buchstäblich versteckt unter Umschlägen, welche die Autogramme berühmter Personen trugen. Aus dem Wohnzimmer konnte Kate einen Blick durch die offene Tür des Schlafzimmers werfen, wo sich ein in Esche möbliertes Büro mit einem Spiegel im Eastlike-Stil Dieser Architektur- und Design-Stil, auf den amerikanischen Architekten und Schriftsteller Charles Eastlake (1836–1906) zurückgehend, kann als US-Ausgabe des spätviktorianischen Stils betrachtet werden. befand, an dessen Rahmen etwa ein Dutzend Photographien von immer demselben Mädchen angepinnt war (und es war ein liebliches Mädchen); über dem Kamin schließlich hing ein entzückend peinliches Familienbild, mit Vater und Mutter in ihrem Sonntagsstaat in der Mitte sowie drei Söhnen und vier Töchtern, einige mit den Händen rechtwinklig auf der benachbarten Schulter, einige mit gekreuzten Beinen, und alle sahen so deprimiert und verlassen aus, als hätten sie ihren allerletzten Freund verloren.

Während Kate das Wesen und die Geschichte dieses jungen Mannes aus seiner Umgebung ablas (und obwohl sie keine poetische Ader hatte, konnte sie nicht umhin, das Anrührende darin wahrzunehmen), ertönte eine sanfte Messingglocke, und Cottrell lud sie mit viel Zeremoniell ein, die Bruderschaft durch ihre Anwesenheit beim Abendessen zu ehren. Sie reichte die Frage an Horace weiter; er erklärte, dass nichts dagegen spreche. Demzufolge wurden sie in das Speisezimmer geleitet; es war mit colorierten Holzstichen geschmückt, die Szenen aus dem deutschen Universitätsleben darstellten, z.B. »Landesvater«, »Fuchsritt«, »Gänsemarsch« Burschenschaftliche Bräuche, die mit dem Kneipen, der Mensur und der Initiation zu tun haben. etc. Es gab auch das große Bild eines Mannes, der mit Begeisterung Muschelsuppe aß, und auf die Glasabdeckung war ein Papierstreifen geklebt, worauf geschrieben stand: » De Profundis Clam-av-i« Allusive Travestie des Beginns von Psalm 130 » De profundis clamavi ad te, Domine« (Aus den Tiefen rufe ich, Herr, zu Dir), der in der christlichen Begräbnisliturgie Verwendung findet. Die Anspielung ergibt sich aus der englischen Bezeichnung für Muschelsuppe: » clam chowder«., was nach Cottrells Erläuterung bedeutete: »Ich habe eine Muschel aus den Tiefen.«

Kate entwickelte im Laufe des Abendessens so viel Interesse an diesen zweiundzwanzigjährigen jungen Männern, welche die beiden Tische umlagerten, dass sie fast zu essen vergaß. Sie erlebte mit Vernügen, wie sie neidisch Cottrells Kühnheit bewunderten, sie zu auf so freie und unbeschwerte Art zu unterhalten, und wie sie wirkungslos versuchten, seine lauten, prahlerischen californischen Manieren nachzuahmen.

Sie war zuvor nie auf die Idee gekommen, dass ›Jungs‹ in jenem amphibischen Alter, wo sie keine Kinder mehr, aber noch keine Männer sind, irgendwelche nennenswerten Eigenschaften hätten haben können; aber sie kam jetzt zu dem Schluss, dass es kein Alter gebe, das nicht seinen Charme hatte. Die einzige Frau in so einer Gesellschaft zu sein, die scheue Verehrung ihrer Weiblichkeit zu spüren – »das ewig Weibliche« Boyesen setzt das Goethezitat, wie schon zuvor die »Szenen aus dem Universitätsleben«, im deutschen Originalwortlaut. –, war eine neuartige, köstliche Erfahrung. Sie hatte sich in ganzen Leben nicht so mütterlich gefühlt, so erhoben und überlegen, so zärtlich und duldsam gegenüber männlicher Albern- und Narrheit. Ihre plötzlichen Ausbrüche von Freude, ihre telegraphische Verständigung durch Blicke und Grimassen und die unbändigen Dummejungenstreiche von einigen der jüngeren, die sie nicht zu beobachten vorgab, ließen sie die Merkmale des Genus »Jungs« erkennen wie nie zuvor. Die rasche Röte, die auf die Wangen derer sprang, die den Mut hatten, sie anzusprechen; ihr Bemühen, ihre Verlegenheit vor ihren Kameraden zu tarnen, und ihr Heldengefühl, wenn sie sich als achtbar erwiesen hatten, mutete an wie ein Schauspiel. Kates Anwesenheit stellte für sie ein Ereignis dar, weckte den ritterlichen Instinkt in ihnen und veranlasste sie zu hilflosen Demonstrationen einer Galanterie, die sie in eben dem frechen Stil, in welchem sie erdacht waren, dann doch zu verwirklichen nicht den Mut hatten.

Während Kate mit Horace Larkin nach diesem köstlichen Abenteuer den Hang hinab fuhr, war sie so anbetungswürdig zart, schlicht und liebenswert, dass sogar sein kühles Blut entzündet wurde und seine Augen mit unverhüllter Verehrung auf ihr ruhten. Wohlgefühl überschlich ihn; trotz ihrer Unzulänglichkeiten schien die Welt doch mehr in Ordnung zu sein, als es ihm jemals vorgekommen war. Es war ein Luxus zu leben, und jeder Atemzug schien voller und wärmer, kam von tiefer unten und stachelte das Blut zu reicherem, stärkeren Pulsieren. Er staunte fast, dass Reue ihn so wenig bekümmerte; schließlich hatte er mit einem gewissen zärtlichen und zerbrechlichen Herzen, dass für ihn viele Jahre unbeirrt geschlagen hatte, ein skrupelloses Spiel getrieben. Er wusste, dass diese Fahrt Bella unglücklich gemacht haben musste, und er versuchte sich zu einzureden, dass es ihm leid für sie tue; doch musste er am Ende zugeben, dass er sich trotz seiner abscheulichen Herzlosigkeit äußerst behaglich fühlte.

Als Horace sich von Kate am Tor des Pfarrhauses trennte, war er sich darüber im Klaren, dass er in ihrer Bekanntschaft große Fortschritte gemacht hatte, vielleicht sogar in ihrem Wohlgefallen. Er war ein zu vorsichtiger Mensch, um rasche Schlüsse zu ziehen, denn er besaß ein übermächtiges Gespür für die Millionen, die hinter Kate standen, und den Respekt, den jene auf ihre voraussichtliche Besitzerin übertrugen. Aber diese Tatsache minderte nicht im Geringsten die Empfindung seines eigenen Wertes. Wenn er sich nach reiflicher Überlegung entschließen sollte, Kate Van Schaak zu heiraten, so würde er dies verstandesmäßig angehen; und es gab nichts, das jenseits seiner Kräfte gelegen hätte, wenn er seinen Verstand konzentriert darauf richtete. Gleichwohl war er beileibe nicht sicher, ob er Kate zu heiraten wünschte; sie gehörte einer anderen Welt an als der seinigen und konnte sich vielleicht nicht bereitwillig an die Bedingungen anpassen, die für ihn natürlich waren und ihn zufriedenstellten. Die Sache verdiente jedenfalls überdacht zu werden, und er beschloss, sie umfassend zu überdenken.

Als Kate am Abend ihre geschmeidige, jungfräuliche Gestalt entkleidet hatte und bereits leichter Schlummer ihr gepflegtes, festes Gehirn umschleierte, stahlen sich leise Melodiefetzen ihr Fenster hinauf und mischten sich in ihre Träume. Sie träumte, sie sei von zwölf starken Adlern über die Wipfel sonnenvergoldeter Wälder getragen worden, und die Adler hätten plötzlich ein Lied angestimmt – das wonnigste und exstatischste Lied, das je in ihren Ohren erklungen war. Aber während sie sangen, wurden sie nach und nach immer matter und schmolzen dahin in Fetzen goldenen Dampfes, während das Lied, das ihr Leben und ihre Substanz erschöpfte, immer stärker wurde und schließlich den weiten Raum ringsum erfüllte.

Sie erwachte, setzte sich im Bett auf und lauschte angestrengt. Es konnte keinen Zweifel geben: Da sang jemand, und nicht nur einer, sondern mehrere. Sie hörte deutlich einen Tenor das hohe G tremolieren, sie »Liebling« nennen, sie bald anflehen zu erwachen, und bald darauf, süß zu schlummern; und ein gedämpfter Chor von Bariton- und Bassstimmen begrüßte diese Gefühle zu und stimmte in dieses Verlangen ein.

Sie musste mehrmals ihre Augen reiben, bevor ihr die Lage klar wurde; man hatte ihr ja nie zuvor in ihrem Leben ein Ständchen dargebracht, und so war ihr nicht bewusst, dass dieser mittelalterliche Brauch in Universitätsstädten bis zu Gegenwart überlebt hatte.

Als dann aber das gefühlvolle Quartett beendet war und die mitternächtliche Luft durch die unmotivierte, abwegige Frage durchschnitten wurde

»He, was möchtest du trinken?
Sagte der Frosch zu der Eule,«

wusste sie, dass die Straßensänger die Mitglieder der Greek Letter-Gemeinschaft waren, die sie am Nachmittag unterhalten hatten. Die Antwort der Eule

»Ich nehme 'ne Tintenflasche,
Sagte sie ohne Geheule,«

fand sie so umwerfend komisch, dass sie in lautes Lachen ausbrach und aus dem Bett sprang. Sie wusste nicht, was die Etikette in einem solchen Fall von ihr erwartete, aber nach kurzem Zögern warf sie sich einen elganten blauen Kaschmir-Umhang um, öffnete das Fenster und stand einen Augenblick lauschend da. Dann ergriff sie einen Rosenstrauß, der in einer Vase auf dem Kaminsims steckte, roch daran und warf ihn den Sängern hinunter.

»Ich danke Ihnen, meine Herren,« sagte sie und schloss das Fenster.

Unten entbrannte indes eine unerhörte Balgerei um den Besitz der Rosen.



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