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II.
Ein Emporkömmling.

Der Ehrenwerte Obed Larkin, Horace' und Alexanders Onkel, war in Torryville ein bedeutender Mann und besaß ein Gefühl für die mit seiner Stellung verbundene Verantwortung. Nicht nur durch seinen Reichtum ragte er heraus, auch seine Menschenliebe entsprach seinen Millionen. Er hatte die Larkin-Hochschule gegründet, eine weithin bekannte koedukative Institution, die vom schönen Hügel die Stadt überschaute. Mit einer ›flotten Million in bar‹ hatte er sie ausgestattet, wie er gewöhnlich sagte, wenn einer der Professoren gegen seine Autorität rebellierte; und er beteuerte, dass er niemals diesen Geldbetrag gespart haben würde, wenn er nicht während seines gesamten Lebens auf Tabak oder Whiskey in jedweder Form verzichtet hätte. Er hatte darum gegen rauchende Professoren ein starkes Vorurteil; und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er ihnen die Anweisung erteilt, binnen vierundzwanzig Stunden die Stadt zu verlassen. Wie er jedoch widerwillig zugab, mussten auch andere Überlegungen in Betracht gezogen werden; und obwohl er entschieden behauptete, ein Raucher werde sich auch ab und zu betrinken und sei damit ungeeignet, die Jugend zu unterrichten, sah er sich dennoch verpflichtet, einige dieser verwerflichen Charaktere an seiner Lehrstätte zu dulden. Er konnte es gleichwohl nicht unterlassen, sie, nicht anmaßend zwar, aber mit vielen unbehaglichen Sprechpausen, in Bezug auf ihre fehlerhaften Gewohnheiten zu schulmeistern; und wenn sie ihn mit Argumenten besiegten, was oft geschah, flammte er nicht sofort auf, sondern ging nach Hause, käute innerlich alles wieder und wurde um so ärgerlicher, je mehr er an die Respektlosigkeit dachte, die sie ihm gegenüber bezeigt hatten.

Diese aufgeblasenen Habenichtse! Verdankten sie ihm nicht alles? Zehrten sie nicht von den Früchten seiner Arbeit? Wo wären sie, hätte nicht er seine Hochschule gegründet und ihnen eine Anstellung gegeben – gegen aufwendige Entlohnung?

Es nahm kaum Wunder, dass der Ehrenwerte Obed Larkin diesen Standpunkt gegenüber Professoren vertrat, die von seiner Auffassung in der Whiskey-und-Tabak-Frage abwichen; schließlich hatten seine Mitbürger lange genug sein Selbstwertgefühl genährt, indem sie ihm in allem nachgaben. Der Zustrom von Studenten und Ausbildern hatte dem Wachstum der Stadt einen großen Auftrieb gegeben und den Immobilienwert um das Fünffache gesteigert. Dafür war die Stadt natürlich dankbar. Die Größe und Güte von Mr. Larkin hatte in Torryville deshalb den Rang eines Glaubensartikels. Die Tatsache, dass er, der reich genug war, um irgendwo ein herrliches Leben zu führen, sich für Torryville entschieden hatte, bewies in aller Deutlichkeit, dass die Stadt ein höchst wünschenswerter Wohnsitz war und dass die Investition in Eckgrundstücke mit Sicherheit Gewinn abwerfen werde.

Soweit es seine äußere Erscheinung betraf, beeindruckte der Ehrenwerte Obed Larkin nicht besonders. Er war ein hochgewachsener, hagerer, knochiger Mann mit einem großen Kopf und starken, schlichten Zügen. Er besaß jene durchtriebene, selbstüberzeugte Miene des erfolgreichen Emporkömmlings; unter all dem aber lauerte eine gewisse Unzufriedenheit, die durch drei tiefe senkrechte Stirnfalten betont wurde. Er schien allenthalben an etwas Unerfreuliches zu denken, ständig bereit zu sein, jemanden herunter zu putzen und mit dessen Selbstwertgefühl Katz und Maus zu spielen.

Beim Gehen beugte er sich etwas vor, so dass sein derber grauer Kinnbart einen Teil seiner Hemdbrust verbarg. Seine Oberlippe war gewöhnlich von steifen, weißen Bartstoppeln bedeckt, was den Eindruck herrvorrief, dass die letzte Rasur zwei oder drei Tage zurück lag. Zwei tiefe, wie Grenzlinien auf einer Karte längs verlaufende Falten trennten die Mundregion von der der Wangen. Seine graublauen Augen, überschattet von mächtigen, nach oben sich aufwerfenden Brauen, bekundeten Gerissenheit und Scharfsinn. Bisweilen lauerte in ihnen ein Funke Humor, wie ein genialer Kommentar zu einem verbotenen Text. Gewöhnlich aber wirkten sie forschend, was Fremde oft verwirrte. »Wie schlau du auch immer zu sein glaubst: ich werde herausfinden, was es mit dir auf sich hat,« schienen sie zu sagen; und da Höflichkeit Mr. Larkin selten Zurückhaltung auferlegte, ist es nicht verwunderlich, dass vielen seine Gesellschaft weniger zusagte, als dies zuzugeben klug war war.

Bewerber um Stellen in der Hochschule neigten dazu, mit einer ungünstigen Meinung über ihn davon zu gehen. Erstens schienen die von ihm gestellten Fragen (einem Mann akademischer Bildung) oft absurd; und zum zweiten zielte wohl der beständig prüfende Blick unmittelbar auf die Erzeugung von Verlegenheit.

Sein Benehmen, so schlicht und ungeheuchelt es war, hatte dennoch jenes Gönnerhafte an sich, das der praktische Mann in den Vereinigten Staaten gerne dem Gelehrten gegenüber annimmt und das der erfolgreiche Millionär gegenüber der gesamten erfolglosen Menschheit zur Schau trägt.

Wenn Mr. Larkins magere, gebeugte Gestalt, in einem rostbraunen Gehrock, mit einer leichten Ablagerung von Schuppen auf seinem Kragen, auf dem Campus auftrat, bemühten sich Professoren und Tutoren – es sei denn, sie hatten ein Hühnchen mit ihm zu rupfen – ihm nicht über den Weg zu laufen.

Eine Anzahl von Anekdoten, die sub rosa und mit heimlicher Schadenfreude erzählt wurden, illustrierte seine Ansichten in Bildungsfragen; aber sie waren nur für den privaten Verbrauch bestimmt. Wenn er gelegentlich einen Professor mit seinem Gespräch über Dinge, von denen er nichts verstand, langweilte, neigte er dazu, das rücksichtsvolle Schweigen, mit dem sein Opfer ihm lauschte, als bewunderndes Staunen und Anerkennung zu missdeuten.

Er hatte im Ganzen keine besonders schmeichelhafte Meinung in Bezug auf den praktischen Sinn und das Urteilsvermögen von Gelehrten; aber er hatte nicht die entfernteste Idee, dass sie seine eigenen Äußerungen zu Bildungsthemen mit ähnlicher Respektlosigkeit betrachteten.

Wenn ein Professor bei einer Gelegenheit auf Erhöhung der Fördermittel für die Bibliothek drang, trieb ihn Mr. Larkin in die Ecke mit folgender Bemerkung:

»Sie wollen mehr Bücher, hm? Ich wette mit Ihnen um einen Dollar: Sie ha'm noch nicht 'mal alle gelesen, die Sie schon ha'm. Lesen Sie erst die, dann reden wir weiter.«

Und schmunzelnd über seine Gerissenheit schlenderte er weiter, um einen Unterrichtenden in ein Gespräch zu verwickeln, den er sich vornahm, weil er einige Bewerber bei den Aufnahmeprüfungen nicht hatte bestehen lassen.

Seinen Argumenten war nicht zu widersprechen, insbesondere wenn er mit den zurückgewiesenen Bewerbern daher kam und persönlich auf ihrer Zulassung bestand. Er war selbst nie auf einem College gewesen, und es war ihm nicht klar zu machen, dass bestimmte Voraussetzungen im Wissen nötig waren, bevor anderes nutzbringend gelehrt werden konnte.

Er war ein Emporkömmling, und als Rechtsanwalt Graves, der Witzbold der Stadt, sagte, da er sich selbst ›hochgebracht‹ habe, habe er genug übrig, auch einen Bruder ›hochzubringen‹. Der fragliche Bruder werde jedenfalls kein Emporkömmling bleiben.

Ezekiel Larkin war einer jener sanguinischen Männer, die kopfüber in eine Unternehmung eintauchen, ohne gehörig die Wahrscheinlichkeit hinsichtlich des Erfolgs abzuwägen. Er war klüger als der Ehrenwerte Obed, wäre jedoch in absoluter Armut verkommen, wenn der letztere ihn nicht unter seiner Fittiche genommen hätte.

Es wurde eine Geschichte erzählt, die angeblich niemand glaubte, ohne dass man sie ganz in Abrede stellte, dass nämlich Obed sein Vermögen einer Erfindung von Zeke verdanke. Wie auch immer es damit stand, es gab etwas in der Beziehung der Brüder, das den Verdacht nährte. Dass sie einander nicht liebten, war vielleicht nicht sehr verwunderlich; aber dass ein so durchtriebener Geschäftsmann wie Obed wieder und wieder einwilligte, in Zekes Unternehmungen zu investieren, von denen er wissen musste, dass sie zum Scheitern verurteilt waren, und geduldig das irrtümliche Betragen seines älteren Bruders ertrug, konnte man sich nur dadurch erklären, dass letzterer etwas bei ihm ›gut haben‹ musste.

Für nachsichtige Urteile war Obed sonst nicht bekannt, und er respektierte augenscheinlich keine anderen Eigenheiten außer seinen. Er war mit langsamen Schritten aus dem Nichts aufgestiegen und behauptete, dies sei der einzig geeignete Weg, Ansehen zu erreichen. Sein Bruder und er selbst hatten beide ihr Leben als Steinmetze begonnen und wären vielleicht Steinmetze geblieben, wenn er nicht durch Verbesserungen im Brückenbau, die Obed sich patentieren ließ, an profitable Aufträge zu öffentlichen Arbeiten geraten wäre und so die Mitbewerber hätte unterbieten können.

Die nachfolgenden Schritte in seinem Aufstieg entsprachen naturgemäß seinem wachsenden Wohlstand und Einfluss. Er machte während des Krieges gewaltige Summen in seinem rechtmäßigen Geschäft, war aber zudem interessiert an Verträgen mit der Armee, die ebenfalls hübsche Gewinne abwarfen. Zu Ende des Krieges ließ er sich in Torryville nieder, wo er eine Papierfabrik errichtete, eine nationale Bank und im Laufe der Zeit eine blühende Hochschule. Ohne erkennbare Anstrengung verkraftete er all die Würden, die seinen Mitbürger zu vergeben hatten, ging zur Legislative, wurde ein Senator des Bundesstaates und erhielt wiederholt die Nominierung zum Gouverneur.

Nach seines Bruders Tod nahm er 1867 seine Neffen in sein Haus, ließ sie auf die Hochschule gehen und etablierte für sie eine vielversprechende profitable Rechtsanwaltspraxis. Er machte die Firma der Larkin-Brüder überall da zu seinen rechtlichen Vertretern, wo in seinen unterschiedlichen Unternehmungen seine Interessen mit denen anderer kollidierten, und schaffte es so, ihnen einen großen Teil ihrer Arbeit zukommen zu lassen.

Soweit es Mr. Larkins häusliche Beziehungen betrifft, so waren sie in jeder Hinsicht beispielhaft. Sein Glück war nur von einem Missstand überschattet: seine Frau hatte keine Kinder bekommen. Um diesen Mangel zu beheben, hatte er die Söhne seines Bruders adoptiert und darüber hinaus ein kleines Mädchen namens Gertrude, das er, in einer Don-Quijote-Stimmung, in einem Asyl, Spital oder einer ähnlichen Einrichtung, aufgelesen hatte. So jedenfalls lautete die Legende in ihrer offiziellen Version.

Miss Gertrude selbst, inwischen siebzehn Jahre alt, konnte sie weder bestätigen noch bestreiten, da sie erst drei Jahre alt gewesen war, als Mr. Larkin sie aus ihrem ursprünglichen Lebensraum herausgeholt hatte. Die vierzehn fetten Jahre ihres Lebens hatten die Erinnerung an die drei mageren verschlungen. Und dennoch blieb die Dunkelheit ihrer Herkunft ein äußerst wirksamer Umstand bei der Formung ihres Charakters. Sie wusste, oder wähnte zu zu wissen, dass die Erinnerung daran sich gegen sie richtete, und dieses Bewusstsein bürdete ihr eine gewisse Zurückhaltung auf, die viele als Stolz missverstanden.

Ihr Gesichtsausdruck war unbestimmt, tastend, unerweckt, aber zugleich weich und mädchenhaft. Es war dieser süße, einfältige Ausdruck, den Homer der Hera zusprach, wenn er sie ›kuhäugig‹ nannte. Gertrudes weit offener, kindlicher Blick erzeugte dieselbe Vorstellung. Seine jungfräuliche Scheu wechselte jedoch zeitweise mit angeregtester Lebhaftigkeit und Unternehmungslust. Wenn aber jemand ihr Wohlwollen ausnutzte, um vertraulich zu werden, schlug ihr Benehmen augenblicklich um zu kalter, hochmütiger Unempfänglichkeit. Ihr dunkelblondes, welliges Haar wurde Gegenstand fortwährenden Experimentierens, wie es zu richten sei; doch was man auch mit ihm anstellte: es schien außer Stande, den edlen Umriß ihres Kopfes zu verschandeln.

Insgesamt war sie für sich selbst ebenso ein Mysterium wie für andere; und wäre sie nicht so schön gewesen und darüber hinaus Mr. Larkins Adoptivtochter, so hätte niemand sich bemüßigt gefühlt, ihr Rätsel zu lösen. Unter diesen Umständen unterhielt die Stadt ihr gegenüber eine Einstellung, die nichts weniger als günstig war, und Gertrude, indem sie die unterschwellige Feindschaft spürte, zahlte diese mit Zinsen zurück.

»Mit dem Mädchen kommt man nicht klar,« hieß die landläufige Rede; »aber was kann man von einer Person erwarten, die direkt aus der Gosse aufgelesen wurde? Mr. Larkins Güte hat ihr den Kopf verdreht.«

Teeschlürfende Kassandren mittleren Alters waren nie verlegen um die Prophezeiung verhängnisvoller Konsequenzen von Mr. Larkins großmütigem Verhalten gegenüber Gertrude. Sofern diese Prophezeiungen, in abgeschwächter Form, Mr. Larkins Ohr erreichten, machten sie keinen Eindruck auf ihn. Er war von Natur aus zu sanguinisch, um zu glauben, dass irgendetwas, das ihn betraf, katastrophal ausgehen könne.

Mädchen waren allerdings wunderliche Geschöpfe, und man wusste nicht immer, was sie im Schilde führten. Aber er hatte beobachtet, dass sie im Allgemeinen am Ende ganz brauchbar ausfielen. Zu seiner Zeit hatte er eine Menge Mädchen gekannt, und die meisten von ihnen hatten eine Phase, in der alle möglichen Eskapaden und Narreteien irgendwie zu ihrer Natur gehörten; aber trotz alledem waren sie ebenso anstandslos wie jede unter das eheliche Joch geschlüpft, und alsdann waren sie selbstverständlich brauchbar. Sollte Gertrude ein wenig hochnäsig sein: ach Gott, das bedeutete nichts! Sie war ein hübsches Mädchen, und er hatte beobachtet, dass hübsche Mädchen mehr Flausen im Kopf hatten und schwerer zu handhaben waren als die unscheinbaren. Aber auch aus ihnen würde gewiss, wiederholte er sich vertrauensvoll, etwas Brauchbares werden.

Wenn Mrs. Larkin dieses Vertrauen, ebenso wie in manch anderer Beziehung, nicht teilte, so lag es mehr an ihrem Temperament als an ihrer Überzeugung. Mrs. Larkin besaß einen Hang zu düsteren Vorahnungen und nährte einen unterdrückten Widerwillen gegen den Optimismus ihres Mannes. Sie widersprach ihm nie, hauptsächlich deshalb, weil sie sich aufgrund ihrer angeborenen Trägheit unfähig fühlte, sich zu einem Streit aufzuraffen; statt dessen äußerte sie ihren Widerspruch durch Seufzen und drückte ihn in schwermütigen Blicken und Kopfschütteln aus.

Sie war eine große, blonde, gut aussehende Frau von etwa vierzig, mit traurigen blauen Augen und gesundem Teint. Sie ließ die Schultern etwas hängen und ging schwerfällig, nicht so sehr wegen ihrer Beleibtheit als wegen der Leidenslast, die sie drückte. Oft legte sie Pausen ein, als ob sie sich zu erinnern bemühte, wo sie entlang gehe.

In ihrem Gesicht gab es eine wahrnehmbare Ungleichheit zweier Hälften, wenngleich sie nicht unmittelbare Aufmerksamkeit auf sich zog. Auf der linken Seite herrschte eine merkwürdige Zusammenziehung von Muskeln, durch die der Mundwinkel ein wenig herab gezogen wurde, was dem Gesicht den Ausdruck chronischer Unzufriedenheit aufprägte. Sie konnte daher nur auf einer Seite ihres Mundes lächeln, während der andere einen solchen Leichtsinn zu missbilligen schien.

Sie kleidete sich stillos beziehungsweise stilistisch anspruchslos, und ihre Kleidung hing um sie quäkermäßig steif herum. Da sie gleichermaßen Schwierigkeiten hatte, sich im Winter warm und im Sommer kühl zu halten, bildeten verdrießliche Bemerkungen zum Wetter das Hauptmaterial ihrer Konversation. Ein roter Kammgarnschal wallte entweder von ihren Schultern herab oder baumelte an ihrem Arm und diente, wie boshafte Kritiker beteuerten, dem Zweck, den schlechten Schnitt ihrer Kleider zu kaschieren.

Wonach Mrs. Larkin vor allen Dingen schmachtete, war eine Aufgabe; keine bloß selbstauferlegte Pflicht, sondern ein unmissverständlicher Ruf von oben, so wie ihn von alters her die Propheten erhalten hatten. Sie war auf ihre Art eine religiöse Frau, glaubte aber, dass Religion in einer allgemeinen Missbilligung des Irdischen bestand und in einer Vorliebe für traurige Gespräche.

Es war ihr eine Quelle des Kummers, dass sie nie Gottes Stimme in der Stille der Nacht hatte rufen hören, wie es Samuel als Kind geschehen war; obwohl sie außergewöhnliche Träume hatte, in denen ihr Pastor, Reverend Arthur Robbins, sich verlasst sah, göttliche Warnungen und Befehle zu erkennen, war sie etwas zu gewissenhaft, ihm zuzustimmen. Ihre Begeisterungsflammen für dieses oder jenes Anliegen, dem die Kirche beipflichtete, beruhten gewöhnlich auf dem Einfluss von Mr. Robbins; aber entweder war sie, wie sie zu versichern liebte, ein zerbrechliches Gefäß, oder ihr weltlicher Sinn war nicht ganz so tot, wie sie gerne geglaubt hätte: ihr Eifer neigte zum Nachlassen, bevor viel erreicht war.

Sie hatte ihre »Indianer-Manie« Der Autor spielt hier auf den »Indian Craze« an, der etwa 1890 bis 1915 in den Vereinigten Staaten währte; es handelt sich hierbei um eine kollektivpsychologische Erscheinung, die sich in einer massenhaften kulturellen und kommerziellen Zuwendung zum nativen Amerika äußerte und zu einem gesteigerten Verlangen nach indianischem Kunstgewerbe, zu zahlreichen Ausstellungen und sogar zu politischer Beschäftigung mit den Ureinwohnern bis hin zu legislativen Maßnahmen führte. (Siehe Elizabeth Hutchinson: The Indian Craze: Primitivism, Modernism, and Transculturation in American Art, 1890–1915. 2009.) gehabt, während der sie sich in beträchtliche Unkosten stürzte, um Mr. Robbins Traktat »Wissenschaft und Bibel versöhnt« übersetzen zu lassen in etwas, das sie unschuldig für »die indianische Sprache« hielt. Sie hatte mit offiziellen Stellen in Washington und mit indianischen Agenten im Hinblick darauf korrespondiert, wie man diesen Traktat durch Unterstützung der staatlichen Agenturen verbreiten könne, und war sehr befriedigt gewesen von dem Interesse, das Ihre Korrespondenten für das Projekt bewiesen hatten. Ein Armeeoffizier, der einige Tage ihres Mannes Gast gewesen war, hatte allerdings die Grausamkeit besessen, ihre Illusionen zu zerstören, und von da an war ihr Interesse an den Indianern zu Ende. Ein Projekt zum Übertritt der katholischen Konvertiten in China zum evangelischen Glauben und ein anderes zur Verbreitung der Frohen Botschaft unter den Moslems waren ebenfalls kurzlebig und kostspielig.

Je abgelegener eine Aufgabe für Mrs. Larkin war, um so mehr begeisterte sie sich für sie. Dieser Eigenart ihrer Persönlichkeit war es geschuldet, dass ihre Neffen Horace und Alexander, mit denen sie täglich in ihrem Haus Umgang hatte, ihr nie als Objekte missionarischen Eifers in den Sinn kamen. Horace verfügte über ein unbeirrbares Selbstvertrauen, das ihr beinahe Furcht erweckte, und sein respektloses Lachen entmutigte jedes Interesse an seinem Seelenheil. Alexander wiederum erschien geradezu unverbesserlich leichtherzig und mochte sich mit ihrer Besorgtheit um das Schicksal der Heiden im Jenseits nicht anfreunden. Er behandelte sie mit humorvoller Zuneigung, machte über ihre Projekte gutmütige Späße, rempelte sie in den Fluren an, umarmte sie nach Laune und brachte reichlich Entschuldigungen vor.

»Du brauchst dir nur vorzustellen, ich sei ein Araber oder ein Zulu-Kaffer, Tante,« konnte er dann lachend ausrufen; »und dann würde es dir nichts ausmachen.«

Sie musste ihn einfach gern haben, trotz seiner Leichtfertigkeit; beeinflussen aber konnte sie ihn nicht.

Es war ohnehin nicht Mrs. Larkins Stärke, irgend jemanden zu beeinflussen. Sogar Gertrude, ihre Adoptivtochter, hatte sich längst von ihrer Autorität emanzipiert. Wenn darum ihr Mann seiner Überzeugung Ausdruck gab, dass aus Gertrud noch etwas Brauchbares werden würde, hob sie ihre Augen zum Himmel und seufzte, als bedrückten sie Vorahnungen einer Katastrophe. Hatte sie Gelegenheit, das Mädchen anzusprechen, so schaute sie Gertrude nie an oder richtete ihre Rede unmittelbar an sie, sondern ließ ihre Worte gewissermaßen absichtslos in die Ecken und an die Wände tropfen und überließ es Gertrude, sie aufzusammeln, wenn sie dazu Lust hatte.

Was immer ihre Tochter sagte oder tat, schien eine seltsame Macht zu haben, Mrs. Larkin zu schockieren, die sich dann, anstatt ihre Missbilligung auszudrücken, mit gottesfürchtigem Blick der Zimmerdecke zuwandte und in trostloser Besorgnis ihren Kopf schüttelte. Es war daher kaum zu verwundern, dass Gertrude sich bei dieser Behandlung unwohl fühlte und sich manchmal einer untöchterlichen Redeweise schuldig machte. Aber wenn sie in reuiger Zerknirschung, die solchen Ausbrüchen folgte, sich Mrs. Larkin an den Hals warf und sie um Vergebung bat, kühlten deren unempfängliche Haltung, ihre virtuose Verleugnung aller persönlichen Gefühle und ihre Hinweise auf den Himmel als die einzige Quelle von Vergebung das leidenschaftliche Mädchen ab und gaben ihr das Gefühl, verhärtet und sündig zu sein.

Wenn sie in der vagen Hoffnung auf Trost Zuflucht bei ihrem Vater suchte, so war seine gutgemeinte Uneinsichtigkeit kaum leichter zu ertragen. Seine Überzeugung, dass alles in Ordnung kommen werde, dass niemand es böse gemeint habe, dass aller Ärger und Kummer nur auf leicht zu berichtigenden Missverständnissen beruhten, war geradezu nervtötend. Er hatte sich zwischen ihr und ihrer Mutter stets auf neutralem Boden bewegt; verbindliche Urteile zu fällen, hatte er dabei vermieden, und so verhielt er sich für beide gleichermaßen unbefriedigend.



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