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VIII.
Ein theatralischer Freier.

Als Dr. Hawk am Abend der Séance die Elm Street zur Larkin-Villa hinunter geschlendert war, trat er nicht sofort ein, sondern blieb einige Minuten draußen im Zwielicht und starrte auf die dunkle Fassade des Hauses, als schätze er ihren Wert. Es war ein großer, quadratischer, anspruchslos wirkender Ziegelsteinbau, leicht schieferfarben gestrichen, mit hervortretenden Erkerfenstern und einem Flachdach. Es hatte einst den Doktor als ein Wunder an Pracht beeindruckt; doch seit seiner Rückkehr aus Europa hielt er seinen Stil für ärmlich. Trotz alledem repräsentierte es eine schöne Menge Geld, und das beeindruckte immer.

»Eine recht komfortabler Kasten,« sagte er sich, als er die Stufen hinaufstieg und die Türglocke läutete.

Ein Dienstmädchen geleitete ihn in den geräumigen Korridor; dessen Boden war mit Teppichen bedeckt, und die Wände waren bemalt mit graugelben, in geometrische Quadrate unterteilten Marmormustern. Er enthielt eine Garderobe für die Hüte und Mäntel, und darüber hingen Porträts des Landesvaters und seiner Gattin. Eine breite Treppe führte in den ersten Stock, und an der Rückseite gewährte eine Tür Zugang zum Garten.

Eine unzweideutige Atmosphäre von bodenständiger Gemütlichkeit und Patriotismus durchdrang das Haus. Plumpe Konfeis von Grant, Seward, Stanton und Sumner Wichtige Politiker der republikanischen Partei; zu Grant s. Anm. 5. bestätigten Letzteres, während ersterer Eindruck sich aus einer Kombination von Geräumigkeit, angenehmer Temperatur und dem Fehlen jeglicher Zurschaustellung ergab. Die ersten, dem Auge des Doktors beim Eintritt in den Salon begegnenden Gegenstände waren Rogers' Nathaniel Rogers (1787-1844), amerikanischer Porträtmaler. Gruppenbild von Beecher, Garrison und Whittier Lyman Beecher war bis Mitte des 19. Jh. ein bedeutender presbyterianischer Geistlicher, zugleich Mitbegründer der den Alkoholismus bekämpfenden American Temperance Society; berühmt wurde seine Tochter Harriet Beecher Stowe mit Ihrem Roman »Onkel Toms Hütte«, der gefühlvoll die Sklaverei in den Südstaaten anklagte. – William Lloyd Garrison trat als Journalist für die Sklavenbefreiung, für Sozialreformen und für die Emanzipation der Frau ein. – John Greenleaf Whittier war Quäker und Poet; er wurde von Garrison gefördert und trat ebenfalls, auch in seinen Gedichten, für die Sklavenbefreiung ein., das auf einem Marmortisch am Fenster stand, und eine mittelmäßige Kopie von Carpenters Francis Bicknell Carpenter (1830-1900), amerikanischer Maler, vor allem bekannt für das im Text erwähnte Gemälde » First Reading of the Emancipation Proclamation of President Lincoln«. ›Lincoln und sein Kabinet‹, das über dem Klavier hing.

Die Möblierung (die nicht den geringsten Anflug ästhetischer Geschmäcklerei aufwies) bestand aus schwarzem Walnussholz, gepolstert mit rotem Rips. Die Fenstervorhänge besaßen dieselbe Farbe und waren anscheinend auch aus demselben Material, aber dort, wo sie dem Licht ausgesetzt waren, stark ausgeblichen. Die verputzten Wände trugen graue Bemalung mit langen Streifen und Eckschnörkeln, die ihre dekorative Absicht nur andeuteten. Auf dem Kaminsims aus strahlend weißem Marmor tickte sittsam eine streng anmutende schwarze Uhr, die den Portikus eines griechischen Tempels darstellte, zu ihren beiden Seiten geziert von je einem großen Strauß Wachsblumen unter einer Glasglocke.

Dr. Hawk betrachtete diese Gegenstände von der Höhe seiner Auslandserfahrung mit verächtlichem Mitleid und malte sich die Taktik aus, die er anwenden würde, sie los zu werden, wenn er im Haus so viel Vertrautheit gewänne, dass ihm das Recht zu Kritik zustände.

Er hatte sich fast schon entschieden, wie dies anzustellen sei, als ein schwacher süßer Duft und ein ankündigendes Rascheln vom anderen Ende des Raumes seinen Vorstellungen eine neue Richtung gaben. Er stand auf und verbeugte sich mit jener ausländischen Geziertheit, die er oft annahm, wenn er glaubte, damit zu beeindrucken zu können. Gertrude beantworte seinen Gruß mit einer Gleichgültigkeit, die nur durch ein müdes Lächeln vor Unhöflichkeit bewahrt wurde.

Dr. Hawk war in Fällen anormalen Verhaltens seiner Patienten in der Lage, dies mit dem Blick des Pathologen zu vermerken und sich nicht verletzt zu fühlen. Gertrude dagegen hatte es stets abgelehnt, ihn anders als in seiner rein privaten Eigenschaft anzuerkennen, und war entschlossen, seine medizinische Fürsorglichkeit als Unverschämtheit zurück zu weisen.

»Miss Gertrude,« sagte er und schaute sie traurig-zärtlich an, »Sie waren wirklich grausam.«

Er mochte es so wenig, das zu sagen, was von ihm erwartet wurde, dass er oft unterließ, ein »Guten Morgen« oder »Guten Abend« hervorzubringen.

»Grausam?« erwiderte Gertrude; »wie könnte ich grausam gewesen sein?«

»Sie könnten großmütig Verständnis aufbringen, ohne darauf zu bestehen, dass man deutlich wird,« sagte Hawk in seinem klaren, kräftigen Bass.

»Das würde ich, wenn ich es könnte,« versetzte das Mädchen mit etwas mehr Lebhaftigkeit; aber ich fürchte, Doktor, Sie überschätzen die Kraft meiner Intuition.«

»O wahrer Genius, wahres Weib! Du leugnest
  Deine Weibsnatur mit Männerhohn?« Der Anfang des Gedichtes » To George Sand: A Recognition«, der englischen Dicherin Elizabeth Barrett Browning (1806-61).

zitierte er etwas planlos seine Lieblingsdichterin Mrs. Browning. Er erkannte zu spät, dass die Verse auf Gertrudes Fall nicht passten.

»Wir wollen vernünftig sein, Doktor, und Prosa reden,« sagte sie, vergeblich um Verständnis sich mühend. »Wenn ich wäre, was Sie sagen, wäre ich nicht so entmutigt und verzweifelt über meine Unfähigkeit, wie ich es heute bin.«

»Ihre Unfähigkeit – wobei?«

»Bei allem, was ich mir vornehme.«

»Aber wenn Sie alltäglich wären – wie alle anderen – würden Sie sich gar nichts vornehmen. Sie wären auf gewöhnliche Art zufrieden mit gewöhnlichen Nichtigkeiten.«

»Auf gewöhnliche Art zufrieden mit gewöhnlichen Nichtigkeiten; ich muss mir das merken,« stieß Gertrude hervor. »Das ist ein sehr tröstlicher Ausdruck für jemanden, der wie ich zur Unzufriedenheit neigt.«

»Unzufriedenheit ist der prometheische Funke in der menschlichen Brust,« gab der Doktor sententiös zurück; »andernfalls wären wir alle heute noch heulende Wilde anstatt zivilisierte Wesen.«

»Dann muss der Katzenjammer von hohem zivilisatorischem Wert sein, und je mehr wir jammern, um so besser.«

»Das ist vielleicht etwas paradox auf die Spitze getrieben. Aber unzweideutig ist der zufriedene Mensch konservativ und erfindet nichts. Es war die Unzufriedenheit mit der Steinaxt, die den Wilden dazu brachte, nach Eisen zu graben, und den Weg zur Dampfmaschine ebnete. Es waren diejenigen, denen die Monarchie nicht reichte, die die Republik erfanden.«

»Aber was werden die mit Republik Unzufriedenen tun?«

»Sie werden bis zum Ende des Jahrtausends warten – und kämpfen müssen.«

»Du liebe Zeit! Das wird eine lange Arbeit. Ich fühle schon, wie mir die grauen Haare aufsprießen.«

»Geben Sie sie mir, und lassen Sie sie mich als Andenken Ihrer göttlichen Unzufriedenheit behalten.«

»Göttliche Unzufriedenheit! Ich bin auch für diesen Ausdruck sehr verbunden, Doktor. Ein entzückender Ausdruck. Er ist mehr wert als eine Locke grauen Haares. Aber die Séance – ich hätte sie fast vergessen. Wir müssen los.«

Sie erhob sich angeregt und bewegte sich auf die Tür zu. Es war fabelhaft, wie dieser Mann, auch wenn sie entschlossen war, sich ihm gegenüber nicht freundlich zu verhalten, ihre Stimmung hob und ihre Selbstachtung wieder herstellte. Sie nahm seinen Arm, als sie die Treppe hinab stiegen, und fühlte, wie seine anziehenden Augen im Halbdunkel traurig auf ihr ruhten. Ein seltsames Gefühl lief ihr kribbelnd den Rücken hinunter – sie wusste nicht, ob vor Erregung oder vor Schauder.

Warum misstraute sie ihm? Behandelte sie ihn nicht aus unvernünftigem Vorurteil auf diese Weise? Wodurch hatte er sich ihr Missfallen verdient, außer dass er ihr gewagte Komplimente machte, die vielleicht aufrichtiger gemeint waren, als sie glauben mochte? Ihn im Lichte eines möglichen Liebhabers zu betrachten, stand natürlich außer Frage, und es war ja eine wohlbekannte Tatsache, dass er, wenn nicht durch Liebe, so doch durch Pflicht, an eine andere gebunden war. In diesem Wissen lag ein solches Gefühl von Sicherheit, dass sie, ohne Gefahr für ihren eigenen Seelenfrieden, mit seinen Gewissensbissen hätte Mitleid haben und ihn mit freundlichem Mitgefühl hätte trösten mögen.

Ein eigenartiges Zittern überkam sie, als sie die Möglichkeiten der Situation zu erwägen begann. Sie erschauerte erneut, und bevor sie weiter gekommen war, hinderte sie eine sonderbare Benommenheit, ihre Lippen zu öffnen, während zur selben Zeit ein Bleigewicht ihre Brust bedrückte und ihr vorübergehend den Atem verschlug.

»Es geht Ihnen nicht gut, Miss Gertrude,« rief Hawk stehenbleibend und ergriff fest ihr Handgelenk.

»Oh, es ist nichts,« antwortete sie mit gezwungener Leichtigkeit. »Ich habe mich in letzter Zeit zu sehr abgeschlossen, fürchte ich, und zu wenig Bewegung gehabt.«

»Wünschen Sie vielleicht, dass ich Sie nach Hause bringe?«

»Nein, danke. Es wird in einer Minute vorbei sein.«



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