Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Man war im November, der Winter schritt vor; ein Winter mit Frost und Kälte und reichlichem Schnee. Auf dem Dache des Nöhringschen Hauses türmten sich weiße Ballen; Wege und Bäume des Gartens waren tief verschneit; alle Fensterkanten wie mit silbernem Flaum umwoben.

Wenn man draußen vorüberging, erschien das Haus wie ein Gesicht, das aus weißer Pelzkappe hervorschaut; wenn man hineintrat, spürte man, daß drinnen nicht Winter war. Wer hätte sagen können, welche Jahreszeit dort herrschte? Im Märchen gibt es keine Zeit. Und ein Märchen war in dem Hause. Drei glückselige Menschen waren darin.

An dem Tage, als Schottenbauer zum erstenmal, noch blaß und mühselig, die Treppe hinuntergestiegen und in den Salon getreten war, hatte er beide Hände über dem Kopf zusammengeschlagen – auf dem großen runden Tisch mitten im Salon lagen all seine Papiere und Schreibereien; sein Arbeitsstuhl stand vor dem Tisch.

»Nicht, daß du darum nun gleich wieder anfangen und schreiben sollst,« erklärte Papa Nöhring, »nur damit du es gemütlich hast und siehst, daß du zu Hause bist.«

Schottenbauer wiegte langsam den Kopf.

»Aber mitten in dem eleganten Salon?«

»Was das anbetrifft,« sagte Freda, »siehst du, da hab' ich mir einen ganz besonderen Federwisch angeschafft, mit dem ich jeden Morgen die Papiere abstäube – darf ich's?«

Sie zeigte ihm den zierlichen Federquast.

Er nahm ihn ihr aus der Hand und umspielte damit zärtlich ihr feines Näschen.

»Ob du es darfst? Ich bin abergläubisch, siehst du. Nun weiß ich, daß deine Augen und deine Hände jeden Morgen auf meiner Arbeit ruhen werden – das wird mir Glück bringen.«

So ging ihnen die Zeit vorbei wie ein Traum, wo hundert Jahre sind wie ein Tag, und wo ein Tag gleich hundert Jahren ist.

Von der schneegepolsterten Straße drang kaum ein Laut zu ihnen hinein; Besuche durften immer nur kurz verweilen; Gesellschaften waren vorläufig noch ganz ausgeschlossen.

Wie abgeschieden von der Welt lebten die drei Menschen, und in der Stille, die sie umgab, war es wie ein feiner, geheimnisvoller Ton, wie der Ton, den wir vernehmen würden, wenn unsre Sinne scharf genug wären, um das Wachsen der Blätter an den Bäumen, das Sprießen der Frucht auf dem Felde hören zu können – ihre Seelen waren es, deren Aufblühen sie vernahmen, die sich öffneten in schauernder Lust und ineinanderwuchsen mit Fasern, Fäserchen und sehnsüchtig klammernden Trieben.

Jeder Tag war ein Fortschritt in Schottenbauers Genesung; und indem er zwischen Vater und Tochter saß mit dem Gefühl, daß er es sei, der alles von ihnen empfinge, war in ihnen die Empfindung, daß er sie beschenkte, indem er ihnen das ersehnte Gut, seine Wiederherstellung, nicht plötzlich und auf einmal, sondern langsam, Tag für Tag, gewährte, so daß jeder einzelne Tag seinen Reichtum und seine Gabe besaß.

Des Abends mußte immer noch früh zur Ruhe gegangen werden, und Freda war es, die mit sanfter Energie darüber wachte, daß es geschah. Der alte Papa fing schon wieder an, über die Stränge zu schlagen, und wenn sie des Abends plaudernd zusammensaßen, fand er es immer noch zu früh zum Gutenachtsagen.

Wenn Schottenbauer dann verschwunden war, blieb er gewöhnlich noch mit der Tochter ein Weilchen allein. Er reckte die Arme aus: »Es ist um toll zu werden vor rasender stiller Glückseligkeit.«

Nun kam auch die Zeit, wo Schottenbauer wieder zu lesen anfangen konnte.

Eines Tages, als er allein im Salon saß und lässig mit den Augen umhersuchte, bemerkte er einen Haufen Blätter, die, locker in eine Zeitung eingeschlagen, auf dem untersten Fach des Notenrepositoriums neben dem Flügel lagen. Waren das Noten?

Er nahm den Pack auf und entfaltete ihn. Es waren mehrere Nummern des Amts- und Kleisblatts, und es war Bruno Waldenbergs Erzählung.

Als Freda, die in der Wirtschaft tätig gewesen war, einige Zeit später eintrat, sah sie ihn lesend am Fenster sitzen. Sie erkannte, was er las, und blieb lautlos stehen.

Soeben legte er das letzte Blatt aus der Hand. Er wandte das Haupt, und als er sie in der Entfernung stehen sah, reckte er die Hand nach ihr aus. Schüchtern trat sie heran.

»Du – hattest es schon gewußt?« fragte sie.

»Er hatte mir ja geschrieben, daß er wollte,« erwiderte er, »gelesen hatt' ich's noch nicht.«

»Und nun – bist du ihm – böse?«

Sie hatte das Haupt an seine Wange geschmiegt.

Er legte den Arm um sie und schob sie sanft herum, so daß ihr Gesicht dem seinigen gegenüber war.

»Aber Freda – böse? Wenn ein Stoff benützt ist, so ist er darum doch noch nicht geschrieben?«

Sie schlug die Hände zusammen. Ihr Gesicht leuchtete auf.

»Mein Gott,« rief sie, »wie einfach das ist und wie wahr! Und daran hatte ich gar nicht gedacht!«

Vor dem Stuhl, auf dem er saß, stand eine Fußbank; kniend sank sie darauf nieder und stützte die Arme auf seine Knie.

»Wieviel klüger du bist als ich! Wieviel besser, größer und klüger als wir alle, alle, alle!«

Sie ließ sich niedergleiten, so daß sie zu seinen Füßen saß; mit schweigendem Lächeln blickte er in das holde Antlitz hinab, das sich zu ihm erhob.

»Siehst du,« sagte er dann, »nun sitzest du geradeso bei mir, wie auf dem alten Bilde mit dem Percival.«

»Was für ein Bild?« fragte sie.

»Auf deinem Nähtischchen – geh', tu mir die Liebe, bring' mir's einmal her.«

Freda erhob sich, und als er das Bild in Händen hielt, sah er mit liebevollem Blick darauf nieder.

»Siehst du, wenn ich den Percival nicht liebgehabt hätte vom ersten Augenblick an, so würde ich ihn liebgewonnen haben, seit ich gesehen habe, wie ihn die Freda hier auf dem Bilde ansieht.«

Sie saß wieder, wie sie eben gesessen hatte. Zärtlich streichelte er das geliebte Haupt.

»Es ist nicht mehr weit bis zu Weihnachten«, fing er wieder an; »willst du mir ein Geschenk machen?« Fragend blickte sie auf.

»Schenk mir das Bild – willst du?«

Sie schlang sich mit den Armen um ihn.

»Das alte Ding – möchtest du haben?«

»Ja,« erwiderte er, »und dafür will ich dir alsdann auch etwas schenken – weißt du was? Die Geschichte des alten Bildes will ich erzählen, die Geschichte von Freda und Percival Nöhring. Und das wird eine von denen sein, weißt du, die man nicht aufzuschreiben braucht vorher, weil es ein Erlebnis ist, das man nicht vergißt.«

Er hatte das Haupt zu ihr gesenkt. So tief ineinander versunken saßen sie da, daß sie es überhörten, wie die Tür sich geräuschlos öffnete.

»Na, Kinder!« ertönte Papa Nöhrings fröhliche Stimme.

Nun fuhren sie auf, und Schottenbauer ging auf ihn zu.

»Weißt du, was wir gemacht haben, Papachen? Wir haben uns gegenseitig aufgebaut, die Freda und ich, zu Weihnachten.«

»Wahrhaftig,« rief Papa Nöhring, »daran hatt' ich ja noch gar nicht gedacht.«

»Siehst du,« meinte Schottenbauer, »wie gut, daß wir dich daran erinnern; denn von dir erwarten wir auch ein Geschenk.«

»So, so? Na, was wird's denn sein?«

»Daß du uns die Hochzeit ausrichtest unter dem Weihnachtsbaum.«

»Ist 'ne Idee!« lachte Papa Nöhring auf. »Was sagt denn die Freda dazu?«

Sie sagte nichts. Sie schmiegte sich an den Vater, eng, fest und süß, und ihre schweigenden Augen sprachen vernehmlicher, als Worte vermocht hätten: »Ja, ja, ja.«


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