Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Einundzwanzigstes Kapitel

Früh am nächsten Morgen erschien der Arzt wieder und stellte mit Erstaunen fest, daß der Zustand des Verwundeten sich überraschend zum Guten gewandt hatte.

»Die Luft hier im Hause scheint ihm merkwürdig zu bekommen«, sagte er, als er mit Nöhring Vater und Tochter aus dem Krankenzimmer trat. Dabei zwinkerte er mit den Augen zu Freda hinüber.

Es war der alte Medizinalrat, der langjährige Hausarzt bei Nöhrings.

Papa Nöhring schlug ihm auf die Schulter.

»Immer ein gutes Zeichen,« sagte er, »wenn die Doktoren anfangen, schlechte Witze zu machen.«

Inzwischen hatte sich die Nachricht von dem Eisenbahnunfall und von Schottenbauers Verletzung in der Stadt verbreitet.

Bald nachdem der Arzt gegangen war, klingelte es wieder hastig und laut an der Haustür. Percival stand davor.

»Kann ich ihn nicht sehen? Nicht einen Augenblick sehen?«

Sein Gesicht war wie vereist in Bestürzung und Angst.

Vor der Tür des Krankenzimmers berieten Papa Nöhring und Freda, ob sie ihn hineinlassen dürften. Im Augenblick, als sie zu der Entscheidung gelangt waren, daß es unmöglich sei, vernahm man aus dem Innern des Zimmers Schottenbauers Stimme.

»Ist es der Percival? Oh, den laßt nur herein.«

»Aber keine Aufregung!« flüsterte ihm die Schwester hastig zu, »Ruhe!«

»Ja, ja –«

Seinem Versprechen zum Trotz liefen ihm aber dennoch die Tränen über die Wangen, als er zu Schottenbauer herantrat und dessen Hand ergriff.

Schottenbauer sah zu ihm auf und sah den Ausdruck tiefen Mitgefühls in dem gutmütigen, hübschen Gesicht.

»Wie konntet ihr ihn denn fortschicken wollen?« wandte er sich an Freda und den Papa; »wißt ihr denn nicht, daß alles mir gut tut, was Nöhring heißt?«

Er hielt Percival noch immer an der Hand, dann machte er ihm ein Zeichen, daß er den Kopf zu ihm herabbeugen sollte.

Ein Lächeln ging über seine Züge, das alte freundlich-schalkhafte Lächeln. Er flüsterte ihm etwas zu, und Freda, die unverwandt zugesehen und gehört hatte, gewahrte, wie Percival feuerrot wurde. Sie glaubte verstanden zu haben, daß er ihn gefragt hatte: »Wie geht es denn, Bruno Waldenberg?«

Als Schottenbauer Percivals Verlegenheit sah, streichelte er begütigend über sein Gesicht.

»Ich habe soviel zu tun gehabt – habe dir noch gar nicht antworten können auf deinen Brief – du hast dich gewiß schrecklich aufgeregt – armer Kerl.«

Percivals Augen leuchteten förmlich auf. Er preßte Schottenbauers Hand.

»Morgen komm ich wieder,« sagte er, »morgen komm ich wieder, du – du – famoser –«

Mit einem hastigen Kopfnicken riß er sich los. Als er draußen war, flog Freda hinter ihm drein.

»Percy!« Auf der Treppe hatte sie ihn erhascht und hielt ihn fest. »Du hast an ihn geschrieben?«

Die Röte der Verlegenheit lag noch immer auf seinem Gesicht. Er blickte an der Schwester vorbei.

»Natürlich, und du siehst, wie er es aufgenommen hat.«

Sie hatte mit beiden Händen in sein Haar gegriffen und schüttelte seinen Kopf in der zärtlichen Art der früheren Tage.

»Ach – du Junge – du Junge!«

Eine Zentnerlast hatte auf ihrer Seele gelegen – und ein Lächeln des Menschen dort drinnen hatte die Last hinweggeblasen.

Percival duldete, daß sie ihn an den Haaren zupfte. Dann riß er sich los. »Es ist ein Mensch – na, überhaupt – ich sage kein Wort!«

Damit sprang er die Treppe hinunter.

Freda kehrte zurück und setzte sich wieder neben Schottenbauers Bett. Ganz leise setzte sie sich, ganz befangen und demütig. Mit beiden Händen nahm sie seine Hand auf und führte sie an die Lippen.

»Aber – Freda?« sagte er.

Es dauerte lange, bis eine Antwort kam. Auf der Zunge schwebte ihr das Wort: »Du hast mir meinen Bruder wiedergegeben.« Aber sie streichelte nur seine Hand.

»Ich habe bis heute nicht gewußt, was du für schöne Hände hast.«

Sie hielt seine Hand in ihren Händen verwahrt. Dann beugte sie das Haupt auf sein Kopfkissen.

»Wird sie bald wieder schöne Sachen schreiben, die geliebte Hand?«

Er blickte ihr stumm in die Augen, und in seinen Augen las sie, daß der Quell wieder lebendig in ihm war, aus dem seine Dichtung floß, das große, gütige Herz.

Papa Nöhring kam hinzu.

»Die Hausklingel«, sagte er, »habe ich schon mit Papier umwickeln lassen, damit sie nicht solchen Spektakel macht. Aber wir müssen wirklich eine Tafel anbringen, daß Besuche nicht angenommen werden. Das ist ja ein Taubenschlag, unser Haus, ein Taubenschlag.«

Es war, wie er sagte; alles, was mit dem Hause Nöhring auch nur in entferntesten Beziehungen stand, kam herbei, um persönlich Auskunft einzuholen, und alles wurde im Flur drunten abgefertigt und durfte nicht weiter. Wie eine Löwin verteidigte Freda die Pforte seines Gemachs.

Mit Fräulein Nanettchen kam es beinahe zum Kampf; sie wollte die Treppe im Sturm nehmen und mußte fast gewaltsam unten festgehalten werden. Nur das Versprechen, daß, sobald er es vertragen würde, sie sich im Salon bei geöffneten Türen sollte an den Flügel setzen und ihm von unten etwas vorspielen dürfen, bewog sie endlich zum Rückzuge. Eine aber war, gegen die Fredas und Papa Nöhrings vereinte Kräfte nichts ausrichteten, denn als deren Stimme im Flur erscholl, griff Schottenbauer wieder in die Sache ein.

»Nein,« rief er aus seinem Zimmer, »Tante Löckchen schickt nicht fort, die will ich sehen.«

Ein Triumphschrei war die Erwiderung.

»Seht ihr's? Tante Löckchen will er sehen.«

Ein Rauschen ging über die Treppe, und im nächsten Augenblick saß sie an seinem Bett.

»Aber nun sagen Sie mir, Kindchen, Kindchen, was Sie uns für Geschichten machen! Halb zu Tod haben wir uns erschrocken, als wir es gehört haben! Aber nun geht es schon wieder besser, nicht wahr? Und nächstens wird es wieder ganz gut sein, nicht wahr?«

Er nickte lächelnd.

»Wenn man so gepflegt wird –«

Draußen vor der Tür erhob sich jetzt eine schmetternde Stimme.

»Guten Morgen, mein lieber Schottenbauer –«

»Du darfst nicht herein, alter Mann,« erklärte eifrig Tante Löckchen, »du darfst unter keinen Umständen herein!«

»Weiß ich ja,« entgegnete Herr Major a.D. Bennecke, »wollte ihm ja nur sagen, ich bin auch da, und wollte fragen, ob er irgend was braucht, ob ich ihm was besorgen kann?«

Papa Nöhring machte ein beinahe eifersüchtiges, ärgerliches Gesicht. Wer sollte ihm denn etwas zu bringen brauchen, wo er, Papa Nöhring, war?

Schottenbauer griff nach der Hand des Regierungsrats. Er konnte jetzt schon wieder lachen.

»O ja, Herr Major, Sie könnten mir einen großen Gefallen tun, die braune Diana könnten Sie mir einmal zum Besuche mitbringen, damit ich ihr schönes seidenes Fell streicheln kann.«

»Soll geschehen, mein lieber Schottenbauer! Morgen bringe ich sie Ihnen mit! Komm jetzt mit, Alte, du hast lange genug bei ihm gesessen.« Tante Löckchen schüttelte den Kopf, daß die Lockentrauben klingelten.

»Sehen Sie solch einen Mann! Das ist nun die reine Eifersucht, daß er mich weg haben will von Ihnen, weil er nicht hereingedurft hat! Ach Kindchen, Kindchen, die Männer – aber Sie sind ja selbst einer. Na – also will ich jetzt nur gehn – aber morgen komm ich wieder. Nicht wahr? Und alle Tage. Nicht wahr? Und sobald Sie wieder auf den Beinen sind, kommen Sie herüber zu uns. Nicht wahr?«

Sie wollte fort – an der Hand hielt er sie fest und sah ihr von seinem Kopfkissen aus in die Augen hinauf.

»Tante Löckchen – wissen Sie, woran ich dachte? An den Tag, als ich Sie zum erstenmal über die Brücke habe gehen sehen. Ich war damals eben angekommen, und die ganze Stadt war mir so fremd, und ich dachte so bei mir: ›Hier wirst du gewiß nicht lange aushalten.‹ Und wie ich Sie nun so sah, und obgleich ich noch gar nicht wußte, wer Sie waren, sehen Sie, Tante Löckchen, da wurde mir mit einemmal so ganz anders – und in dem Augenblick hab' ich eine Ahnung gehabt –«

Er unterbrach sich – alle Anwesenden schwiegen – eine lauschende Stille trat ein. Unmerklich öffnete sich die Tür, und allen Verboten zum Trotz wurde ein weißer Schnurrbart sichtbar und ein grauer Kopf, der horchend hereingestreckt wurde.

»Eine Ahnung,« fuhr er leise fort, »daß alles ganz anders kommen würde, als ich es in dem Augenblick gedacht hatte, daß ich mit der Stadt zusammenwachsen würde wie mit einer Heimat, und daß sie mir das Bild der ganzen Menschheit immerdar abspiegeln würde in den Menschen, die hier diese Stadt bewohnen – und nun ist meine Ahnung eingetroffen, Tante Löckchen – ist das nicht merkwürdig?«

Die alte Frau sah auf ihn nieder, und während ihr Tränen in die Augen traten, ging ein schönes, kluges Lächeln über ihr liebes Gesicht.

»Schottenbauerchen, Kindchen, liebes, das kann ich so merkwürdig nicht finden. Ich habe ja von dem, was man die Dichtung nennt, nur so einen schwachen Dunst, wie man zu sagen pflegt. Aber so viel ist mir doch klar geworden, daß die wahre Dichtung, ich meine die, verstehen Sie, die den Menschen wirklich etwas gibt, einen Trost im Kummer und eine Freude in Freuden, nur aus der Erfahrung kommt. Und Erfahrung kann man doch nur an einigen wenigen Menschen machen. Und wenn man die so in sein Herz hereinnimmt und dann wieder aus seinem Herzen herauskommen läßt, daß sie die andern erkennen mit allen ihren Fehlern und Tugenden und Großem und Kleinem, und gleich fühlen, so wie die einigen wenigen sind eben die andern Menschen ungefähr alle auch, sehen Sie, dann ist man eben ein Dichter, und dem ist man dankbar, weil er einem Gutes tut, und den – hat man darum lieb – lieb – sehr lieb.«

Sie neigte sich herab und küßte ihn mit einem langen, langen Kuß. Dann richtete sie sich auf, wischte sich die Augen, nahm ihren alten Mann unter den Arm und ging still mit ihm die Treppe hinunter.

Auf dem Flur drunten blieb sie noch einmal stehen. Freda war ihnen gefolgt. Tante Löckchen breitete die Arme nach ihr aus.

»Freda, Herzenskind, hat er dich gut gefahren, der alte Kutscher, von dem ich dir gesagt habe?«

Fredas Wange lag an ihrer Wange.

»Besser, als ich's verdient habe, Tante Löckchen, ja.«


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