Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Achtzehntes Kapitel

Schottenbauer war in Berlin und ließ nichts von sich hören noch sehen, seine Tätigkeit nahm ihn offenbar vollständig in Anspruch. Percival war am Ort, ließ jedoch im elterlichen Haus gleichfalls nichts von sich hören noch sehen.

Wie in einer großen Stille wandelte Freda umher, und diese Stille verursachte ihr das Gefühl, als bereitete sich etwas vor.

Wo steckte Percival? Zu Hause bei sich? Und wenn er zu Hause war, was tat er? Schrieb er wirklich an seiner Erzählung? Die Mittelsperson zwischen beiden Häusern Nöhring war Therese, die von Zeit zu Zeit herankam, um nach dem Schwiegervater zu sehen.

Heut war sie wieder dagewesen und hatte dem Regierungsrat einen Gruß von Percival überbracht.

»Warum kriegt man denn den jetzt gar nicht zu sehen?« erkundigte sich Papa Nöhring. »Ach Gott, weißt du, Papachen« – dabei hatte sie mit unterdrücktem Kichern zu Freda hinübergesehen, die mit ihr in das grüne Zimmer hinaufgegangen war –, »er hat jetzt so furchtbar viel zu tun. Alle Abend sitzt er und schreibt.«

Als sie dann mit Freda die Treppe hinunterstieg, hatte sie diese am Arme gefaßt.

»Du, Freda, weißt du denn, was Percival macht? Ich hab's vorhin dem Papa nur nicht sagen dürfen, weil er will, daß man eigentlich gar nicht davon spricht – er – er dichtet ja!«

Sie hatte es, obschon niemand sonst zugegen war, Freda ins Ohr gesagt. Jetzt wollte sie sich ausschütten vor Lachen.

»Was sagst du dazu? Was sagst du dazu?«

Freda sagte gar nichts. Sie stand ganz steif und starr. So rot Theresens kicherndes Gesicht geworden war, so blaß und weiß war sie.

»Was denn?« stieß sie endlich heiser hervor.

»Genau weiß ich's ja nicht; ich darf ja nicht nachsehen; aber ich glaube, es wird so etwas wie eine Novelle oder dergleichen. Dabei ist er furchtbar vergnügt, und gestern abend hat er mir gesagt, wir würden nächstens eine Masse Geld ins Haus bekommen.«

Freda verharrte lautlos. Sie stand mit der Schwägerin im Flur; sie forderte sie nicht auf, einzutreten.

»Nun muß ich mich aber auf den Weg machen,« erklärte Therese, »ich habe noch solch eine Menge für unser Diner zu besorgen.«

Sie ging – Freda hatte sie nicht gehalten.

Nachdem Therese hinausgegangen, trat sie in den Salon.

Eine Empfindung schwoll ihr zur Kehle hinauf, an der sie beinahe erstickte, eine gräßlich widerwärtige Empfindung.

»Er dichtet« – wie die alberne kleine Person das gesagt hatte! Wie sie dazu gelacht hatte!

Er dichtete – in zorniger Verachtung schüttelte sie das Haupt – das heißt, er schlachtete die Erfindung des Dichters aus, um etwas daraus zu machen, was ihm Geld einbrachte, womit er seine Champagnerrechnungen bezahlen konnte. – War es denn möglich? War es erhört?

Ein verzweifelter Grimm stand in ihr auf. Nicht die Persönlichkeit Schottenbauers war es, woran sie in diesem Augenblick dachte, sondern die Sache, das Werk. Das verunglimpfte, entweihte Werk.

Diese Entwürfe, in deren jedem einzelnen ein Diamant als Kern steckte, den nur des echten Dichters Hand herauszuschleifen berufen war, hingegeben einem – Menschen, der mit plumper Faust danach langte, um irgend etwas herauszuschlagen, was einem plumpen Leserkreise gefiel.

Mein Gott – mein Gott – mein Gott!

So tief waren ihr die Ideen, die sie da gelesen hatte, in die Seele gedrungen, daß sie sie wie ihr eigenes Fleisch und Blut empfand.

An ihren eigenen Gedanken war Raub verübt, in ihr eigenstes Eigentum war eingebrochen worden. Sie vergaß, daß es ihr Bruder war, der das getan hatte, der Percy, der Heißsporn, der einst so angebetete, vergötterte; zum erstenmal empfand sie, daß etwas in ihr war, woran niemand die Hand anlegen durfte, auch er nicht, der bis dahin alles gedurft hatte. Ihre Seele stand auf und nahm Partei für den Dichter und dessen Werk gegen den Eindringling und den Verunglimpfer des Werks.

Einige Tage nach diesem klopfte Therese wieder bei Nöhrings an.

Heut ging sie nicht erst zu dem Regierungsrat hinauf; vom Flur aus riß sie Freda in den Salon hinein. Man sah ihr an, daß etwas Besonderes sich ereignet haben mußte.

Aus der Tasche ihres Mantels zog sie ein Zeitungsblatt hervor, eine Nummer des Amts- und Kreisblattes; sie schlug es auseinander und hielt es Freda vor die Augen. Mit fetten Buchstaben war ein Titel gedruckt, darunter las man »Erzählung von Bruno Waldenberg«.

Verdutzt starrte Freda auf das Blatt.

Jetzt aber krümmte Therese sich vor Lachen, während sie wie ein Kreisel im Zimmer umherfuhr. »Verstehst du's denn nicht? Verstehst du's denn nicht? Bruno Waldenberg – das ist ja er!«

»Percival?«

»Na aber natürlich doch! Und das ist ja die Erzählung, von der ich dir gesagt habe.«

Sie hatte so gelacht, daß sie das Taschentuch herausholen und sich die Augen trocknen mußte. Mit einem Griff hatte Freda die Zeitung an sich gerafft.

»Er meinte ja,« erklärte Therese weiter, »für einen Regierungsassessor paßte es sich nicht, wenn man von ihm im Kreisblatt läse, daß er Novellen schreibe. Er hat ja auch natürlich ganz recht. Darum ist er zu dem Oberregierungsrat gegangen – du weißt ja – und hat mit ihm ausgemacht, daß er als Bruno Waldenberg schreiben wolle.«

Therese bekam abermals einen Erstickungsanfall.

»Seitdem nenn' ich ihn nie anders mehr als Bruno Waldenberg!«

Freda hatte unterdessen wie geistesabwesend in die Zeitung geblickt und auf Theresens Geplapper kaum hingehört. Die Buchstaben schwammen vor ihren Augen.

Der Titel war Percivals Erfindung, denn Schottenbauer hatte seinen Entwürfen vorläufig keinen Namen gegeben; ein Blick aber hatte ihr verraten, daß er in der Tat eine von den Skizzen zu seiner Erzählung benutzt hatte.

Ohne einen Laut von sich zu geben, stand sie da.

»Na – du wirst es wohl noch behalten und lesen wollen?« fing Therese wieder an.

Das brachte Freda wieder zu sich.

»Ja, ja – laß es mir hier.«

»Ich kann's mir abholen, wenn ich dir die Fortsetzung bringe; es hat natürlich eine ganze Menge Fortsetzungen. Ist der Papa oben?«

»Der Papa –?« Freda war so mit ihren Gedanken beschäftigt, daß sie sich auf das Nächstliegende besinnen mußte.

»Nein, nein – er ist ausgegangen.«

»Also grüß' ihn und sag' ihm, Percival ließe ihm sagen, das Diner würde pikfein werden; hörst du? pikfein –« Sie wandte sich, um hinauszugehen.

»Aber was mir dabei einfällt – dein Schottenbauer weißt du, hat uns einen recht dummen Strich durch die Rechnung gemacht.«

Freda blickte auf.

»Er hat uns zum Diner abgeschrieben.«

»Ab–geschrieben?«

»Ja, weil sein Stück gerade den Abend zum erstenmal aufgeführt wird. Dumm – nicht wahr? Hätten wir das früher gewußt – aber jetzt war's doch natürlich zu spät, unser Diner zu verschieben? Nicht wahr?«

Freda atmete auf. Hatte sie doch im ersten Augenblick nicht anders gedacht, als daß er von Percivals Handlungsweise erfahren und aus Zorn darüber abgesagt hätte.

»Na – nun geh' ich aber wirklich«, erklärte Therese – noch einmal aber kam sie zurück und fiel der Schwägerin um den Hals.

»Gott, du, Freda, was mir einfällt – nun haben wir ja jede einen Dichter zum Mann!«

Sie barst wieder vor Lachen über ihren Einfall, so daß sie den empörten Blick nicht wahrnahm, mit dem Freda sie maß, und gar nicht merkte, wie unsanft diese sich von ihr losmachte.

»Also adieu, Freda; soll ich Percival von dir grüßen?«

Ein unverständliches Gemurmel war die Antwort, und dann war Freda allein.

Endlich. –

Und nun fing sie an zu lesen.

Sie hatte aber kaum die erste Seite zu Ende gebracht, als sie das Blatt von sich schleuderte, so weit sie vermochte, voller Empörung.

Es war wirklich ganz wie sie vermutet hatte, und beinahe noch schlimmer.

Die Gedanken Schottenbauers waren in roher Weise verwandt; der Vorgang voll tief innerlichen Lebens, den er angedeutet, war zu einem rein äußerlichen Geschehnis verunstaltet; der Anfang ließ erkennen, daß die ganze Geschichte auf einen plumpen, für das untergeordnetste Lesevolk berechneten Effekt hinauslaufen würde.

Dabei eine Form und ein Stil, die in jeder Zeile den ungelenken Dilettanten, ja den Stümper verrieten.

Keuchend ging Freda im Zimmer auf und nieder. Sie erlebte das Entsetzlichste, was eine vornehme Seele erleben kann, mit ansehen zu müssen, wie ein hervorragender Geist durch einen untergeordneten vergewaltigt wird.

Ein untergeordneter – ja.

Sie unterbrach ihren hastigen Gang und schlug die Hände vor das Gesicht – dieser untergeordnete Geist war der, von dem sie einst gefabelt und geträumt, um dessentwillen sie den andern gehaßt und verfolgt hatte – war ihr Bruder, ihr Bruder. Sie war die Phantastin gewesen, die sich aus dem hübschen Jungen mit dem freundlichen Gesicht ein höheres Wesen zusammenfabuliert, die ihre dichtende Seele in ihn hineingetragen und sich eingebildet hatte, sie sähe ihn, während sie in Wirklichkeit immer nur sich selbst gesehen hatte.

Die Hülle war gefallen, die Stunde der Erkenntnis schlug; kein Ausweichen, kein Bemänteln und Verbrämen war jetzt möglich mehr; so hoch er einst vor ihr gestanden hatte, so tief sank er in diesem Augenblick hinab. Die verzweifelte Grausamkeit des Fetischanbeters war in ihr, der den Götzen, wenn er nicht mehr hält, was er versprochen, in die dunkelste Ecke schleudert und ihm die eigene Torheit als Schuld und Sünde anrechnet.

Ein Bewußtsein kam ihr, daß es zwischen Menschen eine höhere Verwandtschaft als die des Blutes, eine tiefere Liebe als die zwischen Blutsangehörigen gibt – sie gedachte des Mannes, dem sie in ihrem Innern unrecht getan hatte, solange sie ihn kannte, und an dem heut ein Verbrechen, ein häßliches, verübt worden war, ein Verbrechen, an dem auch sie mitschuldig war, auch sie. Ob sie nicht zum Vater hinaufgehen und ihm vorschlagen sollte, daß sie bei Percival absagen wollten? Der Gedanke an das Diner war ihr so greulich in diesem Augenblick. Bevor sie aber den Gedanken noch zur Ausführung zu bringen vermochte, kam ihr der Regierungsrat schon mit einem Briefe Schottenbauers entgegen, den er soeben empfangen hatte.

Schottenbauer bat ausdrücklich, daß sie nicht zur ersten Aufführung nach Berlin kommen, sondern zu Percival gehen möchten. Percival freute sich nun einmal so auf sein Fest; er hätte ihm schon absagen müssen; wenn auch sie fernblieben, würde er es sein, der ihm die ganze Freude zerstörte.

Außerdem – solch eine erste Aufführung wäre immer solch eine aufregende Geschichte. Wenn irgend möglich, würde er noch am Abend nach der Aufführung mit dem Nachtkurierzug zu ihnen kommen, und er dächte es sich so köstlich, aus dem Trubel und Lärm in ihre süße Stille zu entfliehen.

»Na,« meinte Papa Nöhring, »wenn sie ihn den Abend wirklich von Berlin fortlassen und er dann noch zu uns kommt und uns alles erzählt, das kann wirklich sehr hübsch werden. Meinst du nicht?«

Freda nickte bejahend.

»Also wollen wir nur dem Jungen den Gefallen tun und zu seinem famosen Diner gehn.«


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