Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Drittes Kapitel

Als sie mit dem Vater beim Frühstück zusammensaß, konnte sie sich nicht verhehlen, daß er nicht zum besten aussah.

Er schien müde und abgeschlagen; er aß und trank, aber mehr aus Pflichtgefühl, wie es schien, als mit herzhaftem Appetit.

Sie streichelte seine Hand.

»Gut geschlafen. Papachen?«

Der Regierungsrat lächelte, mit seinem gewohnten gutmütigen Lächeln. »Na – er hatte schon besser geschlafen, um die Wahrheit zu gestehen–«

Dann legte er seine Hand auf die ihrige.

»Aber ängstige dich nur nicht.«

Hatte sie so ängstlich ausgesehen? Sie war sich dessen kaum bewußt.

»Wann fahren wir denn weiter?« fragte er, indem er sich in den Stuhl zurücklehnte.

Freda blickte auf.

»Wollen wir uns denn Genua nicht ein bißchen ansehen?«

»Ja, ja, freilich – man kann doch nicht so an den Sachen vorübergehen.«

Er nickte wie jemand, der die Unabwendbarkeit einer Pflicht anerkennt.

»Dann mußt du aber die Führung übernehmen«, fuhr er lächelnd fort; sein Lächeln sah aus, als wollte er sagen: »Du hast ja überhaupt die Führung.«

»Bist du über Genua unterrichtet?«

Das war Freda nur in sehr geringem Maße. Aber sie hatte ja den roten Ariadnefaden bei sich, den Baedeker.

Sie klopfte auf das Buch.

»Der hier wird uns schon sagen, was und wo wir zu suchen haben. Ich schlage vor, Papachen, du setzt dich jetzt still hin und rauchst deine Zigarre; währenddessen lese ich hier unser Pensum nach und dann gehen wir los.«

Papa Nöhring war es zufrieden. Während seine Tochter sich über den Baedeker hermachte, setzte er sich in einen Schaukelstuhl, zündete seine Zigarre an und rauchte träumerisch vor sich hin. Es war ihm ganz recht, daß sie von ihrer Lektüre lange in Anspruch genommen wurde. In dem kühlen, weiten Salon zu sitzen, war gut, besser als da draußen die Hitze und der Lärm. Hier war Ruhe – und er brauchte Ruhe.

Endlich war es so weit, daß man sich auf den Weg machen konnte, und nun wurde es ein schöner, aber auch sehr heißer und anstrengender Tag. Nachmittags kam man zurück.

»Es ist noch vieles, was wir nicht gesehen haben«, meinte Freda.

»Aber nur heute nicht mehr«, wehrte der Regierungsrat ab. Also blieb man noch den nächsten Tag. Und weil der alte Mann nicht ermüdet werden durfte und nicht zuviel auf einmal sehen sollte, auch noch den dritten und den vierten. Nun aber ließ es ihm keine Ruhe mehr; er wollte fort nach dem Bestimmungsorte, nach Bordighera.

Wenn er die kahlen Bergwände ansah, von denen die Sonnenstrahlen wie Pfeile abprallten, um sengend auf die Menschen herniederzufallen, zauberte ihm seine Phantasie, wenn er an Bordighera dachte, einen Ort voll tiefer, schattiger Ruhe vor, einen Ort voller idyllischen Behagens, der mehr und mehr und ohne daß er es merkte, die Gestalt des Gartens annahm, wo die Amseln sangen und die Nachtigallen, des heimatlichen, des Nöhringschen Gartens.

Endlich also, am fünften Tage, saß man wieder im Eisenbahnzug, und nun fuhr man in mehrstündiger Fahrt den Küstenweg entlang, auf der einen Seite das Meer, das wie ein unermeßlicher, blendender Schild lag, auf der andern Seite die Berge, kahl und sonnenverbrannt wie die Berge bei Genua.

»Daß man auch gar kein Grün zu sehen bekommt!« stöhnte Papa Nöhring leise.

Freda, den unfehlbaren Baedeker in der Hand, tröstete ihn. »In Bordighera sind Palmen, Papachen, wirkliche echte Palmen.«

»Palmen – soso.«

»Ja, und Ölbäume in ganzen Wäldern, und Zypressen.«

»Wälder?« meinte der Regierungsrat, »na – das ist gut.«!

Er dachte an seinen hochstämmigen Kiefernwald zu Hause, an die Eichenwaldungen und Birkenalleen bei der heimatlichen Stadt. Er sprach es nicht aus, um die Tochter nicht zu betrüben, aber er sehnte sich nach seinen grünen deutschen Bäumen. Am Nachmittag kam man in Bordighera an. »O Papa,« rief Freda, als sie ausgestiegen waren, »sieh, wie herrlich! Die Berge!«

Sie deutete in die Ferne, wo man die schneebedeckten Häupter der Seealpen zur Küste hinuntersinken sah.

Es war allerdings ein großartiger Anblick; der Regierungsrat bestätigte es mit stummer Gebärde. Dann sah er sich um, als ob er etwas suchte.

»Wo ist denn nun – der Wald?« murmelte er halblaut.

Freda deutete auf die Bergabhänge gerade vor ihnen.

»Aber so sieh doch nur!«

Die Abhänge waren in der Tat mit dichten Baummassen bestanden; nur daß die Farbe des Laubes eine andere war, als an die er gewöhnt war. Es war nicht das helleuchtende Grün der norddeutschen Bäume, sondern ein stumpfes Graugrün!

Papa Nöhring hielt die Augen darauf gerichtet.

»Was sind denn das für Bäume?«

Seine Frage klang beinahe, als wollte er sagen: »Das sind ja gar keine echten.«

Freda vermochte keine Auskunft zu geben; aber der Portier des Hotels, ein Schweizer, der auf den Bahnhof gekommen war und sie in Empfang genommen, hatte die Frage gehört.

»Das sind Ölbäume«, unterrichtete er den Regierungsrat.

»So – so,« erwiderte dieser, »also – die Ölbäume.«

Jedes der langgezogenen Worte enthielt eine Kritik.

Freda war anfänglich auch durch den ersten Anblick der Ölbäume etwas enttäuscht gewesen, nun aber raffte sie sich auf.

»Komm nur, Papachen,« sagte sie lachend, »morgen, wenn wir darunter spazierengehen, werden sie dir schon gefallen, die Ölbäume.«

Sie schlang ihren Arm in den seinen, und von dem Portier geführt, machten sie sich auf den Weg nach dem Hotel.

Der Gasthof war ein stattliches Gebäude, am Bergabhänge prächtig gelegen. Als sie aber vor demselben ankamen, erfuhren sie, daß das Haus von oben bis unten mit Gästen besetzt war.

Des Reisens unkundig, wie sie beide waren, hatten sie versäumt, sich brieflich oder telegraphisch Zimmer zu sichern. Nun mußten sie mit dem vorliebnehmen, was noch übrig blieb; und das war nicht eben viel. Zwei kleine Räume im obersten Stock, durch den Flur voneinander getrennt, das eine nach vorn, nach dem Meere hinaus, das andere auf den Garten hinter dem Hotel hinausgehend und über den Garten hinweg den Ausblick in die Ölbäume des Bergabhanges gewährend.

Papa Nöhring wählte dieses Zimmer für sich; das leuchtende Meer hatte ihn heute während der ganzen Fahrt geblendet; er scheute sich davor. So richtete er sich hüben und Freda drüben ein. Kaum daß sie damit fertig waren, rief die große Hotelglocke zur Mahlzeit in den Speisesaal.

Papa Nöhring wäre am liebsten gar nicht hinuntergegangen. Wieder die Treppen hinab und dann wieder hinauf – er war so müde – aber um Fredas willen mußte es doch sein.

In dem großen, strahlend erleuchteten Speisesaal waren die Gäste des Hotels in Scharen versammelt; an einer der langgestreckten Tafeln erhielten Freda und der Papa ihre Plätze.

Freda wurde etwas verlegen, als sie die Augen der Herren und Damen auf sich gerichtet sah, die die neuen Ankömmlinge musterten. Und ihre Verlegenheit wuchs, als sie rings um sich her fremde Sprachen vernahm. Französisch, Englisch, Italienisch – aber nirgends Deutsch. Kein deutsches Wort. Das Gefühl der Fremde drang mit aller Wucht auf sie ein. Sie dünkte sich ganz verlassen, und dem alten Papa an ihrer Seite erging es offenbar nicht anders.

Nur leise flüsternd wagten sie, sich miteinander zu unterhalten, denn als echte Deutsche fühlten sie eine Verlegenheit, beinahe eine Scham, ihre Muttersprache laut vor den Angehörigen anderer Nationen ertönen zu lassen. Der Wirt des Hotels, ein freundlicher Deutschschweizer, begrüßte sie, indem er hinter ihre Stühle trat, und drückte ihnen sein Bedauern aus, daß er sie vorläufig nicht besser hätte unterbringen können.

»Ja – und die Herrschaften träfen es insofern übel – im Winter, da wären immer viel Deutsche da, wären auch diesen Winter dagewesen, aber um diese Jahreszeit würde es ihnen meistens schon zu warm, da gingen sie fort, und da kämen dann hauptsächlich Gäste aus Italien und Frankreich.«

Freda lächelte ihm Dank. Ein Mensch doch, der mit ihnen sprach; sonst hätten sie ja wirklich wie wilde Tiere dagesessen.

Papa Nöhring hatte schweigend zugehört.

Lauter Nachrichten, die ihm nicht gefielen.

Er würde niemand haben, mit dem er sich unterhalten konnte; außerdem war es für Deutsche hier zu heiß; und gerade in die Hitze reiste er hinein.

Zu dem allem kam noch etwas, was der Regierungsrat weniger empfand als seine Tochter, diese aber beinahe peinlich.

Die Toiletten der Damen, die an der Tafel um sie her saßen, waren der Luxus selbst, kostbar im Stoff, elegant und vielfach reizend im Schnitt.

Freda hatte Blick für so etwas; im Geiste stellte sie Vergleiche zwischen ihrer Erscheinung und der der Tischgenossinnen an.

Dabei kam sie zu wenig erfreulichen Resultaten.

Heute war sie noch im Reisekleid, und die hellgraue Bluse mit dem gleichfarbigen, etwas dunkleren Unterkleid schmiegte sich ihrer schlanken Gestalt auf das glücklichste an und stand ihr allerliebst.

Heute ging es noch – aber morgen?

Sie konnte doch nicht stets im Reisekleid bei Tafel erscheinen; die fremden Damen waren ja geradezu in Salontoilette. Im Geiste überschlug sie das Inventar von Kleidern, das sie im Koffer mitgenommen hatte.

Es waren mehrere, und als sie sie zu Hause einpackte, waren sie ihr ganz schön, sogar recht schön erschienen.

Aber freilich – zu Hause!

Sie bohrte mit der Fußspitze in den Fußboden. Ein Nest war's, in dem sie da oben gelebt hatte! Und der Geschmack daselbst erbärmlich!

Im Vergleich zu Therese Wallnow und den anderen Damen dort oben ging sie ja wie ein Prinzessin einher – im Vergleiche zu diesen Französinnen und Italienerinnen erschienen ihre schönen Gewänder ihr wie Plunder.

Wie ein Haubenstock würde sie unter ihnen sitzen, wie eine komische Figur.

Wer weiß, was für Bemerkungen da rings in den fremden Sprachen über sie gemacht werden würden.

Fatal – fatal – sie mußte sich wirklich Mühe geben, um ihre Mißstimmung nicht sichtbar werden zu lassen und das freundliche Lächeln auf dem Angesicht zu bewahren, das die Gesellschaft verlangt. Endlich war die reichhaltige Speisekarte zu Ende getafelt; man erhob sich.

Indem Papa Nöhring aufstand, machte er den Zunächstsitzenden seine Verbeugung, um ihnen nach deutscher Sitte gesegnete Mahlzeit zu wünschen. Freda bemerkte, daß man seinen Gruß einigermaßen überrascht ansah und kaum erwiderte. Das ärgerte sie wieder. War der schlichte alte Mann diesen Leuten etwa nicht gut genug?

Sie wußte eben noch nicht, daß man in andern Ländern die schöne deutsche Sitte nicht kennt, sich gesegnete Mahlzeit zu wünschen, daß andere Nationen es vorziehen, sich stumm an den Tisch zu setzen und stumm wieder aufzustehen.

Als sie am Arme des Vaters den Speisesaal verlassen hatte und auf die Terrasse vor dem Hotel getreten war, wo jetzt die Kühle des Abends sich niedersenkte und eine köstliche Luft vom Meer dahergeweht kam, wurden sie vom Wirt aufgesucht, der ihnen einen Brief überreichte, der für Herrn Regierungsrat Nöhring eingelaufen war und auf der Post gelegen hatte. Freda nahm ihm den Brief ab – allmächtiger Gott – die Freude!

Krampfhaft drückte sie den Arm des Vaters.

»Papa« – sie hielt ihm das Kuvert vor die Augen – es war Percivals versprochener Brief.

Von Hause war sie fortgelaufen, um die Heimat loszuwerden – und die erste, volle, aufrichtige Freude, die sie seitdem empfand, war jetzt dieser Brief, dieses Stück Heimat, das sie in Händen hielt.

Wie inkonsequent schon wieder, wie töricht und sentimental – aber sie fragte nicht danach, ob es das alles war, sie empfand nur die Freude, die große, geradezu erlösende Freude. Nicht nur, weil er von Percival kam, der Brief, nein, nein, sondern daß er aus Deutschland kam, das war es, was sie so aufatmen ließ aus tiefster Brust.

Wie der Poststempel »Berlin« sie vertraut ansah! Und die roten deutschen Briefmarken auf dem Kuvert!

Mitten unter all diesen Menschen, deren Lachen, Plaudern und Scherzen sie nicht verstand, ein deutsches Wort – mitten in dieser fremden Welt, die ihr herzlos erschien, weil sie den Schlüssel zu ihrem Herzen, die Sprache, nicht besaß, dieser Brief, dieses schweigende Zeugnis, daß es da oben eine Welt gab, wo man dachte, fühlte und sprach wie sie!

O Heimat, die dem Menschen immer erst gehört, wenn er sie nicht mehr besitzt!

Hatte sie je, solange sie dort oben im stillen, alten Städtchen saß, geahnt, daß sie so mit Leib und Seele an der Heimat hing?!

Wenn sie mit Percival und dem Papa, oder wenigstens mit einem von beiden zusammen wäre, dann, hatte sie gemeint, würde es ihr gleichgültig sein, ob sie auf dem Monde oder der Erde sei.

Hier nun zum erstenmal kam ihr eine Ahnung von dem dunklen, großen Etwas, das man »Muttererde« nennt, eine Ahnung, daß unzerreißbare Bande uns an die Scholle binden, die uns geboren hat, und daß der Mensch, wenn er sich willkürlich davon losreißen will, an dem Risse unter Umständen verbluten kann.

Papa Nöhring streckte die Hand nach dem Brief aus, Freda aber gab ihn noch nicht her. Sie drückte das Kuvert an sich, streichelte mit der flachen Hand darüber hin, drängte sich schäkernd an den Vater und kicherte und lachte.

»Erst wenn wir oben bei uns allein sind, Papachen, hier unten vor all den fremden Leuten nicht.«

Sie war wie ein Kind, das eine langersehnte Leckerei in Händen hält und sich den Genuß aufspart, höchstens daß es ein bißchen daran nascht.

Der Regierungsrat gab lächelnd nach. Der Brief war da, und das war ja die Hauptsache; die Gemütsruhe kehrte auch ihm zurück. Arm in Arm mit der Tochter lustwandelte er die Terrasse auf und ab. Die elektrischen Lichter, die in der Vorhalle des Hotels glühten, beleuchteten das Paar, das sich in den Schatten nach rechts und links verlor und dann aus dem Schatten wieder auftauchte. Die Gäste, die unter der Vorhalle saßen, wurden aufmerksam; ihre Augen richteten sich auf das schöne, schlanke Geschöpf, das in unbewußter Grazie neben dem alten Mann einhertändelte und eifrig auf ihn einredete, der freundlich schweigend zuhörte.

Unter den Gästen war ein einzelner, elegant gekleideter junger Mann, der für sich an einem runden Tischchen saß und seine Zigarre zum Kaffee rauchte.

Seine Augen gingen wie die der andern hinter Freda her; indem er ihr nachblickte, hörte und verstand er, was um ihn herum geflüstert wurde.

»Deutsche?«

»Heute abend angekommen. Vater und Tochter offenbar.«

»Hübsches Ding, die Kleine!«

»Klein würde ich sie nicht gerade nennen, hat aber Schick und, wie es scheint, Temperament.«

»Die Freude wird von dem Brief herkommen, den ihr der Wirt vorhin gebracht hat.«

»Einen Brief?« »Sehen Sie nicht, wie sie das Papier ans Herz drückt?«

»Richtig – hatt' ich gar nicht gesehen.«

»Faust hat aus Deutschland geschrieben, und sein blondes Gretchen freut sich.«

Ein halb unterdrücktes allgemeines Lachen.

»Das hat ein Talent zum Verliebtsein –- diese deutschen ›Jungfrauen‹.«

Das Gelächter verstummte, denn die beiden, von denen man sprach, kamen jetzt heran, um durch die Vorhalle in das Hotel hineinzugehen.

Indem sie die flachen Stufen überschritten, richtete der junge Mann sich auf und sah in Fredas Gesicht.

»Sakrament –!«

Ihr Gesicht war in verlegener Schamhaftigkeit erglüht, als sie die Blicke von rechts und links auf sich gerichtet sah; sie hatte sich enger an den Vater genestelt, ihre Augenlider waren etwas gesenkt – sie sah bezaubernd aus.

Die Befürchtung des Regierungsrats, daß er die drei Treppen hinaufklettern müsse, war überflüssig gewesen; der Fahrstuhl trug sie über jede Anstrengung hinweg und zu ihren beiden Kämmerchen hinauf.

Im Zimmer des Papas setzten sie sich beim Kerzenschimmer nieder und öffneten den Brief. Sie brauchten nicht viel Zeit, um ihn durchzulesen.

Percival hatte sich sehr kurz gefaßt; offenbar hatte er nur ein Lebenszeichen von sich geben wollen; sein Brief war eigentlich nur eine Anzeige, daß er glücklich in Berlin angekommen war, eine Wohnung gefunden hatte, und daß es ihm gut ging. Morgen wollte er zu arbeiten anfangen.

»Ihr Glücklichen«, so schloß der Brief, »schwelgt nun wohl schon, aller Sorge frei und ledig, in allen Wonnen des Südens?«

Papa Nöhrings Lippen kräuselten sich unmerklich, als er dies letzte las; er sagte kein Wort. Freda las den Satz gleichfalls schweigend.

Briefe sind wie Menschen; sie geben uns oft am meisten, solange sie noch stumm sind – wenn sie erst gesprochen haben, ist manchmal nicht mehr viel daran, und unsere Phantasie kann ihnen keinen Inhalt mehr verleihen.

Das beste, beinahe das einzige, was ihr von dem Brief blieb, war das Bewußtsein, daß er das Papier in Händen gehalten hatte, daß es aus seiner Atmosphäre kam.

Als sie den Vater umarmte, um ihn allein zu lassen, mußte sie sich Gewalt antun, um ihm ein heiteres Gesicht zu zeigen; als sie ihm aber »gute Nacht« wünschte, kam das Wort unwillkürlich wie ein Seufzer heraus.

Sie ging in ihr Zimmer hinüber, wo das Fenster offen stand. Ohne Licht anzuzünden, setzte sie sich am offenen Fenster nieder und blickte lange in die Nacht hinaus.

In dunkler Unermeßlichkeit lag das Meer vor ihren Augen; die Sterne standen darüber und leuchteten mit einer Glut, wie sie sie bisher niemals gesehen hatte – ein Bild der Herrlichkeit und Majestät.

Sie sagte sich das und bemühte sich, es zu empfinden – wenn nur der dumpfe Druck nicht gewesen wäre, da in der Herzgegend, den sie schon neulich in Genua gefühlt hatte. Die freudige Aufwallung war verflogen; jetzt war es nicht mehr sie, die nach dem Grunde ihrer Mißstimmung fragte, sondern es war, als wenn von da drinnen, wo das Herz saß, etwas aufblickte und eine Frage an sie richtete. Und diese Frage war ihr unangenehm, sie wollte sie nicht hören, und um ihr zu entgehen, schloß sie das Fenster, ließ das Rouleau herunter und begab sich rasch zu Bett.

Als sie aber auf dem fremden, ungewohnten Gasthauslager die Glieder ausstreckte, kam die Frage dennoch wieder, so deutlich, daß sie sie am Einschlafen verhinderte, und es war ihr, als hörte sie die Worte: »Wozu soll das alles nun eigentlich?«


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