Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Der Abend war schon ziemlich weit vorgerückt, als Schottenbauer im Hause Bennecke erschien.

Sein Eintritt wurde von Tante Löckchen mit Jubel begrüßt; sie hoffte, daß er der Stimmung aufhelfen würde, die heute nicht so recht in Gang kommen wollte.

Es war gar keine »Semperei« wie gewöhnlich.

Daß Freda sich schweigsam verhielt, fiel nicht weiter auf, redselig war sie ja nie. Aber auch der Regierungsrat, der doch sonst die gute Laune in Person zu sein pflegte, war heute nachdenklich und in sich gekehrt.

Percival hatte natürlich nur für seine Therese Augen und Ohren, und Mutter Wallnow zählte kaum mit.

Ein wahres Labsal war es daher für sie und ihren Gatten, daß sie jetzt mit Glückwünschen über Schottenbauer herfallen konnten. Herr Major a. D. Bennecke fühlte sich immer erst ganz wohl, wenn er sich mit vollem Brustton über irgend etwas oder irgend jemand begeistern konnte, wenn er Menschenstimmen übertönen mußte.

»Ich bin ein altes Soldatenpferd, das Kommandorufe und Musik braucht.«

Tante Löckchen fehlte etwas, wenn sie das schmetternde Organ ihres alten »Lumpazivagabundus« nicht hörte.

Mit gefülltem Glase trat er dem Ankömmling vom Tisch aus entgegen.

»Willkommen, Schiller! Berlin hat gesprochen, Berlin kommt einen rauf! Gratuliere, gratuliere, gratuliere! Hol' der Teufel alle Malkontenten, Opponenten, Quackelenten!«

»Aber so laß den Schottenbauer doch endlich einmal los, daß andere auch an ihn heran können!« krähte Tante Löckchen von ihrem Platz aus.

Lächelnd trat Schottenbauer zu ihr heran, um ihr die Hand zu küssen; sie zog seinen Kopf hernieder und küßte ihn auf die Stirn.

»Kindchen,« sagte sie, »das tue ich auf Vorrat, verstehen Sie; nächstens werden Sie so ein berühmter Mann sein, daß man gar nicht mehr wagen wird, Ihnen einen Kuß zu geben. Werden Sie dann überhaupt noch an uns denken, wenn Sie erst in dem großen Berlin herumschwimmen und in Lorbeer waten?«

»In Lorbeer waten ist gut«, wieherte Herr Major a.D. Bennecke.

Schottenbauer sah Tante Löckchen ins Gesicht.

»Glauben Sie wirklich, daß ich Sie vergessen könnte?«

In seinen Augen lag ein so treuherziger, inniger Ausdruck, daß es keines Wortes weiter bedurfte.

Wohlwollend blickte Papa Nöhring zu ihm auf.

»Ihr müßt ihm ein Glas Wein geben,« sagte er zu Benneckes, »er sieht ja ganz angegriffen aus – haben Sie so viel Akten jetzt zu schmieren, Schottenbauer?«

Es war so, wie der Regierungsrat gesagt hatte; Schottenbauer sah blaß und überarbeitet aus. Die Hoffnung Tante Löckchens, daß er Stimmung in die Gesellschaft bringen würde, schien sich nicht ganz zu verwirklichen. Auch auf ihm, wie auf Nöhrings, Vater und Tochter, schien etwas zu lasten, das ihn einsilbig machte.

Ihm gegenüber am Tisch saß Freda Nöhring. Er hatte ihr rasches Erröten bemerkt, als er sie begrüßte; jetzt hielt sie das Haupt gesenkt und sah ihn nicht an.

Sehr begreiflich, wenn er des Buketts von heute nachmittag gedachte.

Die erste wirkliche Liebeserklärung, die er ihr gemacht hatte. Und eine solche Erklärung ist ja doch ein Weltereignis im Leben des Menschen.

Das dunkle Ich, das, von seiner eigenen Atmosphäre umhüllt, in wunschlosem Schlaf gelegen hat, wird jählings geweckt. Es fährt auf und erschrickt – denn es sieht, daß es nackt ist.

Zwei Menschen, die sich so mit den Fühlfäden der Seele betastet haben und sich dann, als wäre nichts vorgefallen, unter andern Menschen gegenübersitzen sollen – können sie anders, als beklommen sein? »Na, Schottenbauer,« fing Percival laut über den Tisch an, »nun sieh dir nur die Familie Nöhring genauer an, damit du nicht vergißt, wie sie aussieht. Nächstens wird die Bude zugemacht, und dann sind wir allesamt futsch, in alle vier Winde.«

Schottenbauer blickte auf; er verstand ihn nicht.

»Ja, was sagen Sie dazu?« bestätigte Tante Löckchen Percivals Worte, »diese Menschen wollen ja verreisen!«

»Verreisen –« Er hatte Freda mit dem Blick gestreift und gesehen, wie sie blutrot bis über die Stirn geworden war.

»Ja, nicht wahr?« fuhr Tante Löckchen fort, »zu dieser Jahreszeit – man sollt' es nicht für möglich halten.«

»Tantchen,« fiel Percival ein, »ich hätte wahrhaftig nichts dagegen, wenn ein anderer das Examen für mich machte; du mußt nämlich wissen,« wandte er sich an Schottenbauer, »daß ich demnächst nach Berlin wallfahrte, um mich zum Examen einzupauken. Mein Tun bekundet also die äußerste Vernunft.«

»Na ja, aber dein Papa und die Freda!« wandte Tante Löckchen ein.

»Der Papa und die Freda«, nahm jetzt Herr Regierungsrat Nöhring das Wort, »wollen eben, daß der Herr Bengel da wirklich zum Examen arbeitet und nicht alle drei Tage von Berlin zu ihnen herübergeflitzt kommt. Darum brauchen sie ein Radikalmittel, schließen ihm das Haus vor der Nase zu und reisen ab. übrigens brauchen Sie sich wegen der Jahreszeit nicht zu ängstigen,« wandte er sich an Tante Löckchen, »wir gehen in ein warmes Land, wahrscheinlich an den Comersee.«

Freda hatte das Gesicht auf den Teller gesenkt. Er hatte sich also aus seiner Nachgiebigkeit etwas zurechtgemacht, daß es aussah, als wäre es sein eigener Plan.

Tante Löckchen schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

»An den – Comersee?« »Warum denn nicht?« lachte Papa Nöhring; »kommen Sie doch mit, das wäre das allergescheiteste.«

»Ist eigentlich ein Gedanke«, meinte Herr Major a. D. Bennecke.

Ganz entsetzt aber fuhr Tante Löckchen auf ihn ein.

»Aber, alter Mensch! Der Comersee, der ist ja wohl tausend Meilen von hier! Wir bleiben hübsch, wo wir sind, und gehen im Sommer, wie immer, nach Teplitz.«

»Na, also können wir uns im Sommer in Teplitz treffen«, meinte der Regierungsrat; »im Sommer soll ich sowieso eine Kur gebrauchen.«

So ging das Gespräch herüber und hinüber – aber es klapperte. Wenigstens kam es Schottenbauer so vor. Man lachte – aber die Gesichter der Menschen sahen aus, als ob ihnen das Lachen Muskelschmerzen verursachte. Zum erstenmal, seit er in diesem Kreise verkehrte, hatte er das Gefühl, daß man sich unbefangen stellte, um Befangenheit zu verbergen, als ob die Worte, die er da hörte, nicht den Inhalt der Herzen herausschaufelten, sondern an der Oberfläche herumkritzelten, weil in der Tiefe etwas war, was man nicht gern berührte.

Was war es denn nur?

Heute nachmittag bei Nöhrings hatte doch noch keine Silbe von der bevorstehenden Reise verlautet? Auch pflegt man es doch einem Hausstande anzumerken, wenn er plötzlich aufgelöst, wenn das Haus auf Wochen und Monate zugeschlossen werden soll? Von dem allem war doch keine Spur gewesen? Und nun mit einemmal dieser Entschluß, der so aussah oder aussehen sollte, als wäre er seit langem gefaßt gewesen, und dazu dies glühende Erröten in Fredas Gesicht – plötzlich legte es sich wie ein Alp auf seine Brust.

Tor, der er war – das Bukett heute nachmittag, das Bukett und seine Liebeserklärung!

Flucht also – vor wem? Mußte er danach fragen? Tausend Meilen weit reisen und, wenn es sein mußte, noch mehr, wenn sie nur da nicht war, wo er war! Denn daß sie es war, von welcher der Plan ausging, das erkannte er nun wohl, indem er sie ansah, indem er ihren Blick gewahrte, der sonst so ruhig und bewußt auf sein Ziel losging und jetzt wie ein verflogener Vogel im Zimmer umherflatterte.

Ein dumpfes Wehgefühl klemmte ihm die Brust zusammen.

Von den Blumen, die er ihr mitgebracht, hatte sie nicht eine angesteckt; von allem, was in solchen Augenblicken süß geheimnisvoll im Auge des Weibes aufsteigt und schamhaft bangend beim Auge des Mannes anfragt, von dem traumhaften Erwachen der Seele, dem schauernden Aufatmen des erwärmenden Leibes, von dem allem war in diesem Weibe nichts. Eine lastende Qual, eine peinigende Unruhe, das war es, was seine Annäherung in ihr erweckt hatte; ein ödes Verstummen, ein krampfhaftes Sichabwenden, das war ihre Antwort auf die Frage, die er schweigend an sie gerichtet hatte, indem er mit zitternder Hand den Blumenstrauß in ihre Hand drückte.

Eine Absage, eine Absage, hinter der es keine Hoffnung und Zukunft mehr gab.

Wie eine Erlösung bedünkte es ihn, als man sich endlich von der Tafel erhob, als er aufhören durfte, der gegenüber zu sitzen, die unter seiner Nähe so offenkundig litt.

Nun wurden Zigarren angezündet, und auch das war eine Wohltat; in die Zigarre kann man hineinbeißen, wenn man nicht sprechen will oder nicht sprechen kann – und wie hätte er sprechen können! Zu wem? Von was?

»Das Haus Nöhring wird zugeschlossen – das Haus Nöhring geht davon –«, es war wie ein Sausen in seinen Ohren, aus dem diese Worte immer wieder auf ihn eindrangen.

Hatte er denn etwas verbrochen? Hatte er sich vielleicht so ungeschickt benommen, daß auch Papa Nöhring böse auf ihn geworden war?

Freilich – wenn man am hellen, lichten Nachmittag in den Blumenladen läuft, ein Bukett kauft, groß wie ein Wagenrad, und damit vor aller Augen und mit einem Gesicht wie ein glücklicher Bräutigam zum Hause Nöhring stürmt – Gott, Gott, Gott, wo hatte er denn Sinne und Gedanken gehabt! Morgen würde es natürlich in aller Munde sein, daß er Freda Nöhring die Blumen gebracht, daß er ihr seine Liebe gestanden, ihr womöglich einen Antrag gemacht hatte –

Er und einen Antrag! Einen Antrag – worauf? Vielleicht, daß sie ihn heiraten sollte? Ihn, den Referendar ohne Vermögen und Gehalt? Der wahrscheinlich nie im Leben zu Gehalt gelangen würde? Den unscheinbaren kleinen Kerl, der nichts von allem besaß, was den Mann dem Weibe anziehend und verführerisch macht, dessen ganzer Besitztitel ein Stück war, das man einmal und nicht wieder in Meiningen aufgeführt hatte, und das man nun irgendeinmal an irgendeinem Theater in Berlin wieder aufführen wollte? Hatte ihm das so den Kopf verdreht? Ihn so die Mutlosigkeit und Verzweiflung vergessen lassen, mit der ihn die böse Nachricht aus Meiningen erfüllt hatte?

O Phantasie! O Wirklichkeit!

Narr, der er war! Narr seiner Phantasie!

Wußte er denn nicht, daß man in dieser Welt Liebe nicht gestehen darf, wenn man nicht zugleich mit dem Heiratsantrage kommt? Daß, wenn man anders tut, wenn man tut, wie er getan hatte, daß man alsdann ein Weib kompromittiert?

Und das hatte er ihr angetan! Ihr, der er die Hände unter die Füße hätte breiten mögen! Der schlanke Nacken, dessen stolze Haltung ihn so entzückte, nun würde er sich beugen müssen, wenn sie über die Straße ging und das Gezischel um sich her vernahm; Tränen würde sie weinen, wütende Tränen bitterer Scham, wenn sie von der Straße nach Hause zurückkam!

Und wer hatte ihm das Recht gegeben zu alledem? Sie etwa? Hatte sie ihn mit einem Worte, einem Blick oder einer Gebärde auch nur ermutigt und ermuntert, heranzukommen? Wahrhaftig – nein!

Gegen ihren Wunsch und Willen hatte er sich an sie herangedrängt, wieder und immer wieder, wie ein Aufdringlicher, wie ein Verrückter, wie ein Kind, wie ein törichter Narr! Eine brennende Scham zerschnitt ihm das Herz.

Wäre er doch nur wenigstens heute abend nicht hierhergekommen! Das hätte er sich doch sagen können, daß es eine gräßliche Pein für sie sein mußte, nach solchem Vorgange wieder mit ihm zusammenzutreffen!

Das ganze stolze Siegesgefühl, das ihn heute nachmittag erfüllt hatte, war dahin, als wäre es nie dagewesen. Am liebsten wäre er nach Hause gelaufen, hätte seine Siebensachen zusammengepackt und wäre auf und davon gereist. Dann konnten sie ja ruhig hierbleiben, Papa Nöhring und seine Tochter, die jetzt vor ihm davonliefen, vor dem einfältigen, gefährlichen Menschen.

Er konnte kein Wort hervorbringen.

Die finstere Stimmung nahm so überhand in ihm, daß sie ihn buchstäblich erdrückte; er hatte gar keine Gedanken mehr.

Die Veränderung seines Wesens war so auffallend, daß Tante Löckchen und die übrigen ihn ganz verdutzt ansahen und nicht wußten, was sie aus ihm machen sollten.

Er merkte das, und je mehr er es merkte, um so verzweifelter machte es ihn, denn er konnte nicht dagegen an, konnte nicht den Unbefangenen spielen, nichts Gleichgültiges sprechen; die Tränen standen ihm im Herzen, in der Kehle, bis zum Munde und zu den Augen heran.

Die Unterhaltung wurde auf die Art natürlich immer stockender und vertrocknete endlich beinahe ganz. Anzeichen machten sich bemerkbar, daß man demnächst aufbrechen würde – und nun erfaßte es ihn geradezu mit Entsetzen, indem er bedachte, daß er mit Nöhrings über die Brücke und noch ein weites Stück Weg zusammen gehen müßte. Es gab keinen andern Weg. Das war unmöglich.

Mit einem verzweifelten Entschluß raffte er sich auf, trat auf Tante Löckchen zu und bot ihr gute Nacht.

Sie sah ihn ganz angstvoll an.

»Ich – habe noch zu arbeiten – Sie müssen entschuldigen.« »Kindchen, Kindchen,« sagte sie, »ich glaube wahrhaftig, Sie arbeiten zuviel. Das tut Sie ja nicht, das bekommt Ihnen nicht.«

Mit dumpfem Schweigen hörte er ihren wohlgemeinten Rat an, dann ging er zu Herrn Major Bennecke und von ihm zu dem Regierungsrat.

Als er diesem die Hand reichte und Papa Nöhring zu ihm aufblickte, mußte er mit aller Gewalt an sich halten, um nicht in Tränen auszubrechen. Hatte er doch ein Gefühl, als sähe er den alten Mann zum letztenmal im Leben.

Papa Nöhring fühlte seine Hand, die sonst so warm und jetzt so eisig kalt war.

Eine plötzliche Sorge überkam ihn.

»Schottenbauer,« sagte er, »wir sehen Sie doch noch, bevor wir abreisen?«

Schottenbauer ließ den Kopf hängen. Er konnte in diesem Augenblick nicht »ja« sagen.

»Sie – gedenken auf lange zu verreisen?« fragte er endlich.

»Na – so etwa bis zum Herbst«, erwiderte Papa Nöhring mit erzwungener Heiterkeit.

Schottenbauer wiegte das Haupt.

»Was wollen Sie sagen?« fragte Papa Nöhring, indem er ihm in die Augen sah.

»Ja – sehen Sie – Herr Regierungsrat – solche Referendarien sind eigentlich Nomaden – bis zum Herbste – wer weiß –«

Er wollte lächeln, aber sein Lächeln wurde ein Zucken des Gesichts; seiner Selbstbeherrschung zum Trotz füllten sich ihm die Augen mit Tränen. Mit einem Ruck entriß er dem Regierungsrat die Hand, wandte sich ab, und ohne noch jemand anzusehen, ohne weiteren Abschiedsgruß stürzte er zur Tür und verschwand.

Eine drückende Stille blieb hinter ihm zurück.

Alle fühlten, daß jener dort in Verzweiflung davongegangen war; niemand fragte nach dem Grund. Mitten unter ihnen faß totenstill und totenbleich Freda Nöhring. Wenn man sie anblickte, ahnte man, daß hier die Erklärung saß. Alle ahnten es, einer wußte es, dieser eine aber schwieg. Und weil er schwieg, fragte man nicht; man mochte fühlen, daß Fragen ihm weh tun würden.

Ein Weilchen harrte man noch aus und blieb zusammen. Es war, als wenn Nöhrings ihm Vorsprung lassen wollten. Endlich brachen sie auf, und der Abschied, der nun erfolgte, war vielleicht der bedrückteste, den das Haus Bennecke jemals erlebt hatte.

Als Freda Tante Löckchen Lebewohl sagte, legte diese beide Hände um das schöne, bleiche Gesicht des Mädchens.

»Kindchen,« flüsterte sie kopfschüttelnd, »armes Kindchen!«

Fredas Lippen bewegten sich; man hörte kaum, was sie sprach; beinahe aber klang es wie ein »Warum?«

Tante Löckchen sah sie kummervoll an.

»Wenn ich doch einmal ein bißchen Mutter bei dir spielen dürfte – möchtest du es mir nicht erlauben? Hm?«

Freda sah ihr mit festem Blick in die Augen.

»Ich habe es nie anders empfunden, Tantchen.«

Dann beugte sie sich tiefer zu ihr.

»Aber wenn du es auch wirklich wärst – ändern würdest du darum doch nichts.«

»Wirklich nicht?« fragte Tante Löckchen.

Ein unmerkliches Lächeln ging über Fredas Gesicht.

»Tantchen,« sagte sie, und ihre Stimme hatte wieder den tiefen, ruhigen Klang gleichmütiger Tage, »Gefälligkeit ist ja eine gute Sache – aber aus Gefälligkeit sein Leben hingeben – das wäre doch ein bißchen zuviel verlangt! Nicht?«

Sie richtete sich hoch auf und bemerkte Mutter Wallnow, die möglichst nahe herangetreten war. Ohne sich zu besinnen, ging Freda auf sie zu, so daß Frau Wallnow beinahe erschrak.

»Liebe Frau Wallnow, was ich Ihnen noch sagen wollte – wissen Sie, was es mit dem Bukett von heute nachmittag für eine Bewandtnis hat?«

Mutter Wallnow lauschte mit beiden Ohren. »Der Papa hatte mit Herrn Schottenbauer gewettet, daß sein Stück in Berlin aufgeführt werden würde; Herr Schottenbauer hatte dagegen gewettet, und weil er verloren und nicht gewußt hat, wie er sich abfinden solle, hat er das Bukett gebracht.«

Mutter Wallnow wurde feuerrot. Sie fühlte, daß ihr etwas vorgelogen wurde, und war schlau genug, den Zweck zu durchschauen.

»Wie – merkwürdig!« stotterte sie endlich hervor.

Freda sah ihr mit kühlem Lächeln ganz nahe ins Gesicht.

»Aber es ist so.«

Sie wußte eigentlich selber kaum, wie sie auf den Gedanken verfallen war, der Frau die seltsame Erfindung aufzubinden. Dachte sie ernsthaft daran, daß diese ihr glauben würde?

Schwerlich. Aber sie wußte, daß Wallnows die Geschichte mit dem Bukett weitererzählen würden, und darum gab sie ihnen die Direktive an, in welcher Art sie klatschen sollten.

Mutter Wallnow zeigte ein etwas ungeschicktes Lächeln, nickte aber ganz unterwürfig mit dem Kopf. Fredas Entschlossenheit hatte ihr Eindruck gemacht.

Freda fühlte es, und nun fing die Sache an, ihr Spaß zu machen; sie fühlte, daß sie Herrin der Lage wurde; ihr war ganz leicht, beinahe fröhlich zumute.

Das merkte man ihr an, als sie jetzt mit anmutigem Lächeln Herrn Major a. D. Bennecke gute Nacht wünschte und sich dann in den Arm des Vaters hing.

Als sie mit ihm zur Tür hinaustrat, blieb der Regierungsrat stehen. Er blickte über das Wasser hinüber, dahin, wo Schottenbauers Wohnung lag.

Beinahe sah es aus, als ängstige ihn etwas – und so war es in der Tat. Er sah kein Licht hinter Schottenbauers Fenstern.

War er denn noch nicht nach Hause gekommen? Irrte er etwa gar in den Straßen umher?

Jetzt aber wurde es hell; der Schein der Lampe ergoß sich durch die Fensterscheiben über den Balkon. »Er ist nach Haus gekommen«, murmelte der alte Mann. Unwillkürlich nickte er mit dem Kopfe, als wollte er dem da drüben »gute Nacht« sagen. Dann wandte er sich und schlug mit Freda den Weg nach der Brücke ein.

Der Abschied von den Wallnowschen Damen ging sehr einsilbig und kurz vonstatten; schweigend wandelte er, seine Tochter am Arm, des Wegs dahin.

Freda störte ihn nicht; sie war schweigsam wie er. Aber während er vor Kummer verstummte, schwieg sie, weil ihre Gedanken sie beschäftigten. Und ihre Gedanken waren nicht trauriger Natur.

Nach dem leidenschaftlichen Durcheinander von Stimmungen und Gefühlen, die heute nachmittag und abend ihre Seele durchstürmt hatten, war jetzt eine große, kalte Ruhe in sie eingekehrt. Kalt allerdings – aber das störte sie nicht; es war das Gefühl, an das sie gewöhnt, in dem sie glücklich gewesen war, das Gefühl der alten Tage. Und so wie in alten Tagen war es ja nun wieder; der Mensch, der sich in ihr Leben gedrängt hatte, war fort, und sie war frei.

Ein tiefer Atemzug schwellte ihre Brust.

Ja, er war fort. Sie fühlte, daß er es war, daß er nicht wiederkommen würde; sie hatte gesiegt.

Daß der Vater darunter litt, dessen war sie sich bewußt, und es tat ihr leid, aufrichtig und von Herzen. Aber sie tröstete sich; das würde vorübergehen. Gerade heute hatte sie ja erfahren, wie zärtlich er an ihr hing, und mit doppelter, dreifacher Liebe wollte sie ihm alles ersetzen, was er verloren hatte.

Wie schön und bequem würde sich das machen lassen, wenn sie allein mit ihm auf Reisen war. Ja, ja – die Reise! Das war wirklich ein herrlicher Gedanke gewesen; jetzt erst fühlte sie ganz, wie sehr sie ihr zustatten kam.

Fort von hier! Fort von allem, was hier hemmte, fesselte und drückte! Hinaus in die freie Welt wie die Walküre, die in Lüften reitet, und die kein Band an die Erde knüpft.

Das Märchen fiel ihr ein, das der Vater ihr von der Amazone erzählt hatte, und sie mußte herzlich lachen. Der gute Papa – auf sie traf es nicht zu, nein. Hinter ihr saß der kleine Bube mit den goldenen Pfeilen nicht; sie war stark wieder, stark und fest.

Darum würde es ihr auch gelingen, den allzu guten und weichen Papa fest zu machen. Seit heute wußte sie ja, wie mächtig ihr Wille über ihn war, wie sie ihren Entschluß zu dem seinigen zu machen verstand. Das mußte festgehalten werden; darum nur jetzt keine Schwäche von ihrer Seite, keine Sentimentalität! Alle Welt hatte sich verschworen, ihr den Menschen aufzudrängen – sie hatte nicht gewollt. Und weil sie nicht gewollt hatte, war es nicht geschehen, sie hatte gesiegt. Sie war die einzige von allen, die einen ruhigen Kopf behalten, die Verhältnisse richtig erwogen hatte, sie war stärker als alle die andern, sie war die stärkste.

Welch ein stolzes Gefühl!

Nun hatte sie die Zügel in Händen, und nun würde sie die Sachen lenken zum guten und richtigen Ziele; ja, ja.

Wenn sie ihn erst draußen hatte, den Papa, in fremden Ländern, unter fremden Menschen, dann würde es ja von selbst dahin kommen, daß er die »Episode Schottenbauer« vergaß. Es mußte ja so kommen; er mußte ja doch erkennen, daß der Mensch eben eine »Episode« in seinem Leben gewesen war und nichts weiter. Wenn er es nicht jetzt schon empfunden hätte, wäre er dann so leicht auf ihren Plan eingegangen?

Wenn sie von der Reise zurückkamen, würde Schottenbauer vermutlich nicht mehr hier sein, das hatte er ja selbst angedeutet.

Blieb also nur noch die Frage: ob er, bevor sie abreisten, noch einmal zu ihnen kommen und Abschied nehmen würde? Oder ob er vielleicht an den Papa schreiben würde? Das hätte sie nicht verhindern können. Aber sie glaubte es nicht. Nach den Erlebnissen von heute würde er keins von beiden tun, weder herankommen noch schreiben; er würde verschwinden, sich unsichtbar machen, fort sein. Es war ja im Grunde solch ein bescheidener, schüchterner Mensch, vielleicht sogar ein guter Mensch – ja doch, ja – aber es gibt viel gute Menschen auf der Welt, und darum, weil jemand gut ist, braucht man ihn noch nicht zu lieben.

So war sie mit dem Vater bis vor das Haus gelangt; Percival hatte sie unterwegs eingeholt. Man trat ein und trennte sich, um zur Ruhe zu gehen.

Die beiden Männer waren nachdenklich und still; sie begaben sich in ihre Zimmer hinauf. Freda machte, wie es in ihrer Gewohnheit lag, noch einen letzten Rundgang durch das Haus. Als sie mit dem Lichte in der Hand in den dunklen Salon trat, war der ganz Raum mit einem lieblichen Duft erfüllt.

Das Bukett stand noch auf dem Tisch; die Rosen hatten sich in der Zimmerwärme völlig erschlossen und atmeten ihren süßen Wohlgeruch aus.

Unwillkürlich sog sie den Duft ein und blieb vor der Blumenvase stehen.

Die Rosen ließen ihre schweren Häupter über den Rand des Gefäßes hängen.

Niemand hatte nach ihnen gefragt, niemand nach ihnen gesehen; in der Dunkelheit hatte man sie zurückgelassen; das hatte sie aber nicht verhindert, zu tun, wie die Natur ihnen gebot, und ihre Seele ausströmen zu lassen, gleichgültig, ob jemand danach fragte oder nicht.

Nun war das ganze Zimmer von ihrer Seele durchhaucht, der Raum wie zu einer Art von Heiligtum geworden, wie von den Gedanken eines gütigen Herzens erfüllt, so still, so süß.

Und das alles hinter sich lassen und hinausgehen zu sollen in die kalte, fremde Luft der Fremde – war es nicht eine Torheit eigentlich?

Freda straffte sich auf.

Kam die Sentimentalität ihr doch über den Hals?

Sie setzte das Licht auf den Tisch und ging im Salon auf und ab; sie kämpfte mit einem Entschluß.

Plötzlich trat sie wieder heran, um ihren Mund war ein kalter, harter Zug. Mit einem Griff erfaßte sie das Bukett und hob es aus der Vase; nun hielt sie es in der Hand und überlegte. Es sollte verschwinden; aber wohin damit?

Sehr einfach – auf den Kehricht draußen auf dem Hof. Da gehören welk gewordene Blumen hin.

Indem sie aber die frische Kühle der Rosenblätter zwischen ihren Fingern spürte, kam es ihr selbst wie ein Hohn vor, daß sie verwelkt sein sollten, und als sie auf den Hof hinausgetreten war, zuckte ihr die Hand zurück, und sie konnte sich nicht entschließen, das Bukett fortzuwerfen.

Sie zürnte wider sich selbst, aber sie konnte nicht.

Wie sie so dastand, von niemand gesehen, in der totenstillen Nacht, kam es ihr vor, als ob sie ein Verbrechen, beinahe, als ob sie einen Mord begehen wollte. Sie schlüpfte ins Haus zurück; das Bukett war immer noch in ihrer Hand.

Aber fort sollte es; morgen wollte sie es nicht mehr sehen – also, was machte sie damit? Endlich entschloß sie sich, raffte ihr Tuch um die Schultern und ging in den Garten hinaus. Rund um den Garten schritt sie herum; Stück für Stück riß sie die Rosen aus dem Bande, das sie umschloß, dann schleuderte sie dieselben eine nach der andern, indem sie zwischen jedem Wurfe mehrere Schritte machte, in die Gebüsche, die rund an der Gartenmauer entlang gepflanzt waren. Auf die Art fielen die einzelnen Blumen nicht mehr ins Auge, auf die Art verschwanden sie – als sie zum Hause zurückkehrte, waren ihre Hände leer.

Sie nahm das Licht wieder auf, das sie im Salon hatte stehenlassen, und ging in ihr Schlafzimmer hinauf. Indem das flackernde Kerzenlicht über ihre Hand glitt, blinkte es von Tropfen auf der weißen Haut – die Rosen hatten ihre feuchte Spur hinterlassen – beinahe sah es aus, als hätte jemand auf ihre Hand geweint. Gleichmütig zog sie das Taschentuch hervor und trocknete sich die Hände ab.


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