Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Zwölftes Kapitel

Heute war es das zweitemal, daß Papa Nöhring und Freda mit dem Mittagessen warten mußten. »Der Junge« war immer noch nicht da.

Freda stand am Fenster und blickte nach ihm aus. Sie wurde von Minute zu Minute aufgeregter; und dabei durfte sie dem Vater nichts sagen. Ihre Phantasie malte ihr allerhand abenteuerliche Schrecknisse vor. Immerfort sah sie Percival im Kampf, im körperlichen Kampf mit dem andern. Sie sagte sich, daß der Gedanke lächerlich sei, aber sie konnte sich nicht helfen.

Wo blieb er denn auch nur? Das, was er jenem zu sagen hatte, erforderte doch höchstens ein paar Minuten!

Percival war ja um mehr als einen Kopf größer als der andere, jedenfalls auch viel stärker; wenn sie wirklich handgemein geworden sein sollten, würde er den Wurzelmann ja wohl mit einem Faustschlag niedergestreckt haben – aber trotzdem –

Solche kleine Männer – die waren gewiß ganz gräßlich, wenn sie wütend wurden, kämpften gewiß mit Waffen, von denen anständige, große, solche wie Percival, nichts ahnten! Hatte sie nicht oft genug in der Zeitung gelesen, wie solche Männer, wenn sie sich zu schwach fühlten, um ehrlich Widerstand zu leisten, zum Messer gegriffen und es dem Gegner von unten her in den Leib gestoßen hatten? Herrgott – Herrgott –

Im Augenblick aber, da sie sich so in ihren Phantasien verstiegen hatte, sah sie Percival eilenden Schrittes durch die Anlagen daherkommen.

Er hatte sie am Fenster gewahrt und nickte ihr von ferne zu.

Fuchsmunter sah er aus, gar nicht nach überstandenem Ärger und Kampf.

»Papa,« rief sie, »der Junge kommt!«

Ihr Ruf war wie ein Freudenschrei; im nächsten Augenblick war sie zur Tür hinaus, auf dem Flur und hing an Percivals Hals.

»Junge, was hab' ich mich um dich geängstigt!«

Sie war wirklich ganz blaß; ihre Augen weit geöffnet.

Percival lachte ihr ins Gesicht.

»Aber Freda, ich glaube wahrhaftig, du bist nicht recht gescheit.«

Wie ihr das wohltat, sich von ihm auslachen zu lassen, mit seiner kraftvollen, lustigen Stimme!

»Ist denn nun alles gut?« flüsterte sie, »alles in Ordnung?«

Er nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und sah ihr mit einem pfiffigen Lächeln in die Augen.

»Sehr gut alles – ob's aber in Ordnung ist – na – wir werden ja sehen – du brauchst aber nicht zu erschrecken«, fuhr er fort, als er sie schon wieder ängstlich werden sah.

Er legte den Mantel ab und hing ihn an den Kleiderständer; dabei wandte er den Kopf nach der Schwester um.

»Du, Freda – erinnerst du dich noch, was ich dir neulich erzählte, was Cajetan von Luther gesagt hat? ,Er hat wunderbare Gedanken in seinem Kopfe, der Kerl'.«

»Als wir über die Brücke gingen?« erwiderte sie, indem sie die Falten am Mantel des Bruders glatt strich.

»Ganz recht, als wir über die Brücke gingen und – einem Gewissen begegneten« – er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und sah ihr wieder mit vieldeutigem Augenzwinkern ins Gesicht – »na, weißt du, dieser – Gewisse ist aber wirklich ein merkwürdiger Kerl, aber ein sehr merkwürdiger.«

Freda sah ihn verwundert an.

»Was meinst du denn?«

»Werden Sie alles erfahren, Herr Oberlehrer« – damit hatte er sie über die Schwelle ins Zimmer hineingeschoben, wo Herr Regierungsrat Nöhring ihrer wartete.

»Papachen,« sagte Percival, indem er den Vater umarmte, »ich komme etwas spät – dafür aber bringe ich dir etwas mit.«

»Bringst mir was mit?« fragte Papa Nöhring, »was wird denn das sein?«

»Einen homo sapiens dramaticus

Man setzte sich zu Tisch; Vater und Sohn Nöhring lachend und vergnügt, Freda ernst, schweigsam und scheinbar ganz in ihr Amt vertieft, den beiden Männern Suppe aufzufüllen.

»Nun drück' dich mal etwas deutlicher aus, wenn's gefällig ist,« sagte Papa Nöhring, indem er sich den Mund abwischte, »wer ist dein homo sapiens dramaticus

»Ein Jüngling, Schottenbauer geheißen; seines Zeichens Referendar am hiesigen Gericht. Hast du nie von ihm gehört?«

Papa Nöhring verneinte.

»Also wirst du von ihm hören und zu hören kriegen; denn über ein kleines wird besagter Schottenbauer antreten und Herrn Regierungsrat Nöhring seine Visite machen, und aber über ein kleines wird er wiederum erscheinen, mit einem dicken Ipse fecit-Manuskript in der Tasche, wird es aus der Tasche hervorholen und der Familie Nöhring ein Drama vorlesen, so er ohne fremde Beihilfe in fünffüßigen Jamben verfertigt hat.«

Papa Nöhring lehnte sich im Stuhl zurück.

»Na, aber sag' mal. Junge –?«

Dann lachte er laut auf. »Dir scheint die Geschichte ja einen heidenmäßigen Spaß zu machen?«

Percival griff über den Tisch nach der Hand des Vaters. »Macht's dir denn nicht auch Vergnügen? Solch ein Literaturfreund, wie du es bist?«

»Na – warum soll mir's schließlich kein Vergnügen machen?« meinte Papa Nöhring. »Die Geschichte kam mir bloß im ersten Augenblick so ein bißchen komisch vor. Er mag nur kommen, rausschmeißen werden wir ihn schon nicht; nicht wahr, Freda?«

Freda hatte an der Lustigkeit der beiden nicht teilgenommen.

»Wenn's nun aber nichts taugt?« fragte sie knapp und scharf, indem sie über den Tisch vor sich hin blickte.

»Na – dann taugt's eben nichts,« lachte Percival, »wir haben's ja nicht verbrochen.«

»Ja, dann ist das aber eine sehr peinliche Situation.«

»Na, mein Gott,« erwiderte Percival, »zum Tragischnehmen ist das denn doch auch noch nicht. Dann macht man eben so ein paar allgemeine Redensarten.«

»Das kannst du dann auf dich nehmen, Junge,« sagte Papa Nöhring, »denn du hast nun einmal die Suppe eingebrockt.«

»Will ich auch«, erklärte Percival; »übrigens aber glaube ich, wir können beruhigt sein; was Dummes wird's gewiß nicht sein, was der geschrieben hat.«

»So soll er's doch drucken lassen; dann können wir's für uns lesen«, wandte Freda ein.

»Drucken lassen – dazu muß er einen Verleger haben – hat er nicht.«

»So soll er's aufführen lassen.«

»Aufführen lassen – dazu braucht er ein Theater, und die Theater nehmen seine Stücke nicht.«

Freda verzog den Mund zu einem verächtlichen Lächeln. Percival stieg der Arger rot in die Stirn. Ihre herben, mit bewußter Ablehnung hervorgestoßenen Äußerungen hatten ihn ohnedem gereizt; jetzt sah er sie an – wie unliebenswürdig sie wieder einmal aussah! Wie war es möglich, daß ein Mann an ihr Gefallen fand, wenn sie so dreinschaute. Eine heftige Antwort schwebte ihm auf den Lippen. »Du hättest am allerwenigsten Ursache, so gegen ihn aufzubegehren.« Aber das ging nicht an, darum schwieg er und aß und trank seinen Ärger schweigend hinunter.

Freda aber war nicht minder aufgeregt als der Bruder.

»Ich begreife doch aber gar nicht, wie der Mensch dazu kommt, von uns zu verlangen, daß wir seine Stücke anhören sollen?«

Jetzt warf Percival Messer und Gabel auf den Teller.

»Wer sagt dir denn, daß er's verlangt?«

»Na – du erzählst uns doch eben, daß er kommen will?«

»Aber doch nicht, weil er sich danach gedrängt hat! Sondern ich habe ihn dazu aufgefordert und darum gebeten.«

»Du?«

»Na ja – allerdings, ich!«

Er sah sie herausfordernd an, mit einem Blick, als wenn er sagen wollte: »Ich begreife dich nicht! Du weißt doch so gut wie ich, was wir dem Mann schuldig sind.«

Freda war stumm geworden.

Jetzt mischte sich begütigend Papa Nöhring ein, der lächelnd weitergetafelt hatte, während seine Kinder sich aufregten. Wie er die Natur der beiden wieder einmal erkannte! Dort die verstandeskühle, kritische Freda, hier sein enthusiastischer Percy, der Dichter!

»Na, Kinder,« sagte er, »streitet euch nicht; wir werden ja sehen, wer von euch recht behält. Aber sag' mal, Junge, du bist ja ganz Feuer und Flamme für deinen – Schottenbauer – heißt er nicht so?«

Percival nickte.

»Was weißt du denn von ihm? Du sprichst ja, als handelte es sich um ein verkapptes Genie?«

Percival biß sich auf die Zunge; er war im Begriff gewesen, die ganze Prologgeschichte zum besten zu geben. Eine fliegende Röte ging über sein Gesicht.

»Gott, siehst du, Papa, wie so etwas kommt; in der Kneipe habe ich von ihm gehört, und daß er auf seiner Bude säße und Stücke schriebe. Na, und da bin ich denn mal hingegangen, eigentlich mehr aus Ulk, um ihn mir doch mal anzusehen; denn so etwas interessiert doch schließlich.«

»Natürlich«, meinte Papa Nöhring.

»Und da kann ich denn eben nur sagen, es ist wirklich ein ganz merkwürdiger Kerl; und wer weiß, ob die, die ihn heute auslachen, nicht noch einmal höllisch begossen dastehen werden, weil sie ihn ausgelacht haben.«

»Also schreibt er wirklich Stücke?«

»Aber ganze Stöße«, erwiderte Percival. Er hielt die Hand über dem Tisch und deutete die Dicke der aufgehäuften Manuskripte an.

»Der arme Kerl«, sagte Papa Nöhring, indem er nachdenklich mit dem Kopfe nickte.

»Nicht wahr?« rief Percival. »Und darum dachte ich, so einem armen Teufel, der überall abgewiesen und ausgelacht wird, dem muß man doch ein wenig helfen, soweit man eben kann! Er ist nämlich so furchtbar verlegen und bescheiden – also hab' ich mir gesagt, dem muß man entgegenkommen, von selbst kommt er nicht; also hab' ich zu ihm gesagt: ›Kommen Sie mal zu uns, und lesen Sie uns Ihr Stück vor‹ – ist das nun ein Unrecht?«

Sein hübsches Gesicht war vor Eifer ganz heiß geworden; bei den letzten Worten hatte er sich zu Freda gewandt, als wollte er sie zu einer Antwort, zu irgendeiner Äußerung bringen.

Freda aber gab keinen Laut von sich. In ihren Augen war etwas Unergründliches. Sie hatte eine Makrone vom Nachtisch genommen, aber sie aß nicht, sie zerbröckelte sie nachdenklich zwischen den Fingern. Wie komisch das alles war!

Da hatte sie sich um den Bruder geängstigt, als ginge er zu einem wilden Tier in den Käfig, und während sie hier in ihren Sorgen gestanden und gewartet, hatten die beiden, so schien es, in aller Gemütlichkeit miteinander geplaudert und geschwatzt.

Mit ihrem eigenen Leibe war sie bereit gewesen, ihn vor dem stechenden Wurm, vor dem Skorpion zu beschützen – nun saß sie und hörte, wie er von dem Menschen als wie von einem Freunde, beinahe mit Begeisterung, sprach.

Auf die großen Erregungen, die sie durchgemacht hatte, folgte der Rückschlag. Ohne Grund hatte sie ihre Seele verausgabt, ohne Grund und ohne Auftrag.

Das war eigentlich lächerlich.

Percival brauchte ihren Schutz ja gar nicht; im Gegenteil, seine Augen, die sie voller Zorn angeblitzt hatten, sagten ihr ja deutlich genug, daß er ihn nicht haben wollte.

Eine kalte Traurigkeit bemächtigte sich ihrer.

»Dann, denk' ich,« begann sie nach einiger Zeit, »werden wir es noch Benneckes sagen? Die interessieren sich ja für so etwas.«

Herrn Regierungsrat Nöhring leuchtete der Gedanke ein; Percival aber erklärte sich dagegen.

»Nein, nur wir allein; ich hab's ihm ausdrücklich versprechen müssen, daß niemand sonst dabei sein wird; es ist ja ein so furchtbar verlegenes Tierchen; sobald mehr dabei sind, verliert er die Courage.«

»Also wollen wir ihm allein die Beichte abhören«, sagte Papa Nöhring, indem er sich von der Tafel erhob. »Verrückt genug, um ein wirklicher Dichter zu sein, scheint er ja zu sein, dein Schottenbauer.«

Freda war stumm geblieben, vielleicht weil ihr zu unangenehm zumute war, um zu reden.

Wenn Benneckes dabei gewesen wären, nun, dann wäre es schließlich eine Gesellschaft wie andere Gesellschaften gewesen – jetzt sollte sie ihn nicht nur empfangen, den Menschen, sondern ganz im engsten Hause, ganz intim, beinahe wie man einen Hausfreund empfängt. Sie setzte den Stuhl, von dem sie sich erhoben hatte, hart an den Tisch – dieser Mensch ein Hausfreund!

Indem man sich gesegnete Mahlzeit wünschte, trat Percival an die Schwester heran. Von seinem gutmütigen Gesicht war jede Spur des Ärgers wieder verschwunden; er fing sie in seine Arme, und als sie nicht von selbst kam, drehte er ihr Gesicht mit Gewalt zu sich herum und gab ihr einen herzhaften Kuß.

»Na, hör' mal, Freda, du bist doch wirklich wieder einmal urkomisch – was hast du denn nur?«

Was sollte sie darauf erwidern? Sie sagte nichts, ihre Lippen spitzten sich, halb schmollend, beinahe weinerlich, nach vorn zu; ihr war wirklich beinahe zum Weinen. Sie mußte ihm ja eigentlich böse sein, dem Percy, sie war ihm auch böse, der ihr mit Gewalt diesen Menschen aufnötigte, ihn zwischen sich und die Schwester stellte – und doch – von ihm sich umarmen und küssen zu lassen – die alte süße Gewohnheit – auch ihrerseits schlang sie die Arme um ihn und küßte ihn und sah ihm dabei halb vorwurfsvoll in die Augen. Ahnte er denn gar nicht, der törichte Junge, für wen ihre stolze Seele kämpfte und litt? Für wen sie sich zur Wehr setzte gegen jenen – andern?

Freilich – sie mußte ihn ja schon wieder entschuldigen. Den Blick von neulich hatte er ja nicht gesehen; er konnte ja nicht wissen, warum es ihr unleidlich sein mußte, ohne andere Frauen neben sich mit einem Menschen zusammenzukommen, der – und sie beugte das Haupt – denn der Gedanke allein, daß dieser Mensch in sie verliebt sei, war ihr unerträglich.

Und indem sie so gebeugten Hauptes stand, konnte sie das Lächeln nicht sehen, das pfiffige, mit dem Percival auf sie herabsah, ahnte nicht, was für Gedanken hinter dem Lächeln lauerten, und wie er des Menschen gedachte, der ein so sonderbarer Kauz war, daß gerade diese es ihm angetan hatte, die gegen ihn so aufbegehrte, diese sonderbare, trotzige, eigentlich doch so gar nicht liebenswürdige, stachelige Freda.

Und so verschlossen sie, ohne es zu ahnen, eines des andern Geheimnis in der eigenen Brust.

Die Stimmung Fredas aber besserte sich im Laufe des Tages nicht; im Gegenteil, sie wurde immer düsterer.

Sonst, wenn sie so in den stillen Nachmittagsstunden einsam für sich im Hause war, wenn Vater und Bruder aus waren, wie war das schön! Was waren das für Stunden voll schweigender Glückseligkeit, von der niemand etwas ahnte!

Dann ging sie treppauf und treppab, in das Zimmer, wo der Vater wohnte, und sah nach, ob auch die Bücher alle so standen, wie er es gern mochte, ob die Pfeifen alle frisch gestopft waren, ob man nicht dies und das noch tun könnte zu seiner größeren Behaglichkeit; und dann in das Zimmer des Heißsporns, wo es immer ein bißchen unordentlicher aussah als bei dem Papa, wo man dies und jenes zurechtzurücken hatte, und an den Kasten, wo seine Handschuhe und Krawatten lagen, um nachzusehen, ob alles auch gehörig vorhanden war und gut instand und so, daß der Junge damit Staat machen konnte. Und nie verschloß sie den Kasten, ohne daß sie einmal wenigstens mit zärtlicher Hand über die Krawatten gestrichen hätte – dann ging sie noch ein wenig im Garten spazieren, hinter dem Hause, und dann kam sie in ihr Zimmer vorn zurück, und da saß sie dann mit einer Handarbeit oder auch wohl mit einem Buche manchmal stundenlang ganz für sich allein; aber es wurde ihr nie zu lang; sie verlangte nichts weiter, brauchte nichts weiter, sie war glücklich, war reich, sie hatte ihre Welt, und diese Welt war das Haus, in dem sie mit dem Vater und dem Bruder wohnte.

»Eine Hausunke« hatte Percival sie spottend genannt, und sie hatte es sich lächelnd gefallen lassen.

»Hast ja recht, ,aber laß du mich nur.«

Was verlangte sie denn weiter, als wie der stille Hausgeist dazusitzen und Wache zu halten über dem Hause und den geliebten beiden, die es umschloß?

Was fragte sie nach Gesellschaften? Was gingen die Leute da draußen sie an?

Es war, als wenn zwei ganz verschiedene Menschen in ihr wären; den einen zog sie an, beinahe wie einen Überrock, wenn sie aus dem Hause ging; dann wurde sie kalt, dann wurde sie herb, dann wurde sie die Freda Nöhring, bei der die Leute draußen vorübergingen, weil sie sich nicht an sie herangetrauten. Und dann, wenn sie dann nach Haus zurückkam und die Luft der heimatlichen Zimmer sie wieder umfing, dann zog sie diesen andern Menschen wieder aus, eben wie man einen Überrock auszieht, und dann war sie warm, dann war sie weich und liebevoll und glücklich.

Wenn man so abends zu dreien unter der Hängelampe saß – denn alle Abende ging Percival nicht in Gesellschaft und auch nicht in die Kneipe – wenn sie dann alles um sich sah, was die Welt ihr zu bieten hatte an geliebten Menschen, an liebem, vertrautem Hausrat – wahrhaftig, es überkam sie doch manchmal alsdann, als müßte sie die Arme ausbreiten in die leere Luft – die ja aber nicht leer war, sondern erfüllt von allen guten Geistern des heimatlichen Friedens.

Und nun, seit heute mittag, hatte sie ein Gefühl, daß das alles anders werden, alles vorbei sein sollte.

In ihre abgeschlossene Dreieinigkeit sollte ein Fremder eindringen, und der Percy selber war es, der ihn hereinrief.

Er hatte also doch lange nicht so stark das Bedürfnis, mit Vater und Schwester allein zu sein, wie sie es hatte mit Vater und Bruder. Ihm war das Haus, über dem sie mit solcher Eifersucht wachte, gar nicht solch ein Allerheiligstes wie ihr.

Seine Welt war hier nicht abgeschlossen; er brauchte noch eine andre.

Das gab ihr einen Stich ins Herz.

Und indem sie diesem Gedanken nachhing, erschien plötzlich, kaum wußte sie wie, ein Bild vor ihrer Seele, das Bild, das sie neulich abends nach dem Theater bei Tante Löckchen gesehen hatte, als Percival neben Therese Wallnow und deren Mutter stand und voller Beflissenheit fragte, ob er die Damen nach Hause begleiten dürfte.

Therese Wallnow –

Ihre Lippen hatten sich lautlos bewegt, hatten den Namen nicht genannt, aber ihr Herz hatte ihn gehört, und indem es ihn vernahm, stieg eine heiße Bitterkeit darin auf. Wie rasch sich das Bild der Welt doch in des Menschen Seele verwandelt! Vor wenigen Stunden, als sie Percival heiter und gesund hatte nach Haus kommen sehen, war alles strahlendes Licht um sie her gewesen – jetzt war ihr, als schritte aus der Ferne der Zukunft das Dunkel auf sie zu und die einsame Nacht.

Auf ihrem Nähtische stand ein Bild, das nie von dort verschwinden durfte, eine alte Photographie, auf der sie als ganz junges Mädchen, als Backfisch, dargestellt war, auf einem Stuhle sitzend, und Percival neben ihr, der sich zärtlich zu ihr herabbeugte.

Jeden Tag sah sie das Bild an, das für sie wie ein Symbol des ganzen Lebens war, des vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen.

Auch jetzt ruhten ihre Augen darauf; und indem sie es taten, wurden die Augen warm und schwer und feucht.

Wie sie sich des Tages erinnerte, als das Bild aufgenommen worden war! Sie hatten dem Papa ein Geburtstagsgeschenk machen wollen, indem sie sich für ihn photographieren ließen. Wie der Frühlingsmorgen vor ihrer Seele stand, als sie Arm in Arm mit Percival durch die Anlagen der Stadt zum Photographen gegangen war!

Blütenschnee überdeckte alle Büsche, und die Nachtigallen, die in Scharen die Anlagen bevölkerten, begleiteten ihren traumselig schlendernden Gang.

Glückseligkeit war es gewesen!

Unter einer Laube waren sie dargestellt, so daß das Bildchen aussah wie ein kleines Idyll.

Percivals Arm war um die Lehne des Stuhles geschlungen, auf dem sie saß, seine Hand ruhte in der ihrigen. Wie sie ihn jetzt noch lebendig fühlte, den Griff, mit dem sie seine herabhängende Hand erfaßt hatte!

»Nicht zu fest zufassen, wenn ich bitten darf«, hatte der Photograph mahnen müssen; »die Hand bekommt dadurch eine ungünstige Gestalt.«

Schamrot lächelnd hatte sie nachgeben müssen; aber wenn auch »manierlicher«, fest hatte sie Percivals Hand darum doch gehalten, fest; sie hatte sich ja im stillen mit ihm lobt, ernsthaft und für alle Zeiten.

»Nie werd' ich dir untreu werden, nie wird ein Mensch mir lieber sein als du« – das hatten ihre Augen gesagt, als sie stumm zu ihm emporblickten.

Und er – hatte er denn nicht dasselbe zu ihr gesagt? Und wenn er es nicht ausgesprochen, so hatte sie es als selbstverständlich angenommen, daß er so dachte. In dem Glauben hatte sie dahingelebt, jahre- und jahrelang; ihr ganzes Leben wie begleitet von einer süß eintönigen, einlullenden Melodie.

Und nun zum erstenmal dämmerte ihr die Möglichkeit auf, daß eine Stunde kommen könnte, da es ihm nicht genug sein würde, wenn er ihre Hand und immer nur ihre Hand in der seinigen fühlte, da er seine Hand zurückziehen und ausstrecken würde nach andern Menschen und nach einer andern Frau.

»Untreu willst du mir werden?«

Es war, als spräche sie mit dem alten Bilde, mit dem Bruder auf dem Bilde.

Ein dumpfes, schweres Weh erdrückte ihr das Herz.

Und in diesem Augenblick, diesem unglückseligen Augenblick mußte es geschehen, daß sie drüben unter den Bäumen einen Mann daherkommen sah, einen kleinen vierschrötigen Mann, der heute statt des niedrigen Filzhutes einen hohen Zylinder auf dem Kopfe trug und helle Handschuhe an den Händen und ganz so aussah wie ein Mensch, der zu Besuchen ausgeht.

Aller Kummer, alles Leid, all das Schmerzgefühl, das sie eben weich und tränenvoll gestimmt hatte, schlug plötzlich in ihr um und verwandelte sich in leidenschaftlichen Grimm, in harten, tauben, der Vernunft unzugänglichen Haß.

Der war ja doch schuld an dem allem, und kein andrer als der – der Eindringling – der Einbrecher!

Keine Stimme war in ihr, die ihr sagte, daß Percival es doch gewesen war, der ihn gesucht hatte, daß Percival es war, der seine Hilfe in Anspruch genommen hatte, und der sich jetzt mit dem Ruhme schmückte, der jenem dort gebührte.

Nur den Fremden sah sie, der in ihr Haus eindringen und den Frieden ihres Hauses stören wollte, nur den Menschen, der ihr das Herz des Bruders zu entfremden begann.

Und jetzt schon kam er?

Sie hatte geglaubt, daß immerhin ein paar Tage mindestens noch vergehen würden – und heute schon, am nämlichen Tage, kam er an!

So wenig konnte er seine Zudringlichkeit zügeln, seine unverschämte?!

Wie ein Pfeil war sie aus dem Zimmer, auf dem Flur, wo bereits das Dienstmädchen erschienen war, um dem Klingelnden zu öffnen.

»Wenn jemand kommt – niemand ist zu Hause! Niemand!«

Mit fliegendem Atem hatte sie den Befehl erteilt, und hochaufatmend schlug sie die Stubentür hinter sich zu.

Mitten im Zimmer stehend, sah sie ihn über den Straßendamm zurückgehen, den Abgewiesenen – den – Menschen.

»Trag' du nur deinen Zylinderhut wieder nach Hause, deinen glattgebürsteten, und deine Glacéhandschuhe, die du dir wohl extra für heute gekauft hast! Für heute bin ich dich los, und wenn's nach mir ginge, kämst du nicht wieder! Niemals!«

Das Dienstmädchen trat ein und brachte ihr zwei Karten.

»Walther Schottenbauer – Referendar.«

»Legen Sie sie nur da auf den Tisch.«

Es widerstrebte ihr, die Karten auch nur zu berühren. Zwei Karten – also eine davon für sie!

Ein böses Lächeln zuckte um ihren Mund. »Du wirst Glück haben mit deinem Besuche bei mir – wahrhaftig!«

Die Aufregung lag noch auf ihrem Gesicht, als gegen Abend der Vater und der Bruder nach Hause kamen.

Das erste, was ihnen in die Augen fiel, waren die Karten, die noch auf dem Tische lagen. Percival brach in lautes Lachen aus; Papa Nöhring stimmte ein.

»Der hat's aber eilig!«

»Warst du zu Hause, als er kam?« wandte sich Percival an die Schwester.

»Ja«, erwiderte sie kurz.

»Und hast ihn nicht angenommen?«

»Nein.«

»Das ist aber schade; du hättest es doch tun sollen.«

Ganz heftig fuhr sie auf.

»Wenn jemand so wenig von Lebensart versteht, daß er zu einer so unpassenden Zeit Besuche macht –«

»Na, mein Gott,« sagte Percival, »du siehst – es hat ihm eben keine Ruhe gelassen; er freut sich, daß er kommen darf.«

Wieder sah er sie mit dem komischen Augenzwinkern an, das sie jetzt schon öfters an ihm wahrgenommen hatte, und das sie reizte, weil sie es nicht verstand.

»Was hätte ich denn auch mit ihm sprechen sollen, mit dem wildfremden Menschen?«

Percival schüttelte den Kopf.

»Aber – Freda!«

»Na ja!«

Er legte ihr die Hand auf das Haupt. In diesem Augenblick fühlte er sich seiner bedeutenden Schwester wirklich überlegen.

»Was du mit ihm hättest sprechen sollen? Weißt du denn, daß in der ganzen Stadt hier und vielleicht in der ganzen Welt kein Mensch ist, mit dem du besser sprechen könntest als mit dem?«

Er hatte ganz ernsthaft gesprochen, ohne Spott und Lächeln, mit einem Blick, als wenn er sagen wollte: »Denkst du denn an gar nichts mehr? Gar nicht mehr an das Gedicht, das dich so begeistert hat?«

Freda blickte zur Erde nieder und wurde stumm.

»Das weiß aber der Kuckuck,« bemerkte Papa Nöhring, »daß ihr auch immer aneinander geraten müßt, sobald von dem Menschen die Rede ist! Das vernünftigste wird nun schon sein, daß wir die Geschichte möglichst bald abmachen; wann wollen wir ihm also sagen, daß er zu uns kommen soll?«

Freda verhielt sich schweigend; Percival rechnete nach.

»Morgen – Mittwoch – ist Ball beim Regierungspräsidenten, Donnerstag Diner bei Noldemeyers – da kommt man immer erst spät fort.«

Freitag hat Papa Nöhring Lomberabend mit Major Bennecke und andern im Kasino.

»Also Sonnabend?«

Sonnabend lag nichts vor – also Sonnabend.

»Gut, dann ladet ihn nur auf Sonnabend ein – schreibst du ihm, Freda?«

Freda wandte sich ab; sie hatte mit der Sache nichts zu schaffen.

»Also werde ich's besorgen,« sagte Percival, »oder noch besser, ich werde zu ihm gehen und es ihm sagen. Um welche Zeit wollen wir denn anfangen?«

Papa Nöhring kraute sich hinter dem Ohr.

»Es wird wohl ein langwieriger Genuß werden – also nur nicht zu spät – um halb acht? Wie?«

Freda ließ ein kurzes Lachen hören. Percival aber blieb ruhig.

»Bon,« sagte er, »nächsten Sonnabend um halb acht.«


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