Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Zweites Buch

Erstes Kapitel

Das Wetter kam Fredas Entschlüssen zu Hilfe; es wurde warm.

Der Gedanke an eine Reise, der kurz vorher noch etwas abenteuerlich ausgesehen hatte, erschien jetzt nicht mehr so unvernünftig. Im Hause Nöhring erwachte die ganze Unrast, die einem solchen Ereignisse vorherzugehen pflegt.

Percival zog singend und pfeifend im Hause umher. Die paar Monate in Berlin konnten ganz nett werden. Vor dem Examen hatte er keine große Angst; er war immer ein fleißiger Arbeiter gewesen; dann im Herbste würde er seine Therese heimführen und wohlbestallter Assessor und demnächstiger Regierungsrat im Städtchen sein – Herz, was willst du mehr? Die Koffer wurden aus ihrer Bodenbeschaulichkeit heruntergeholt, auf ihre Haltbarkeit geprüft; bald wollte man ans Einpacken gehen.

Freda war vom Morgen bis zum Abend in Tätigkeit. Ihre Lektüre bildeten jetzt einzig und allein Kurs- und Reisebücher. Beim Anblick der Landkarte bekamen ihre Reisepläne immer längere Beine. Die oberitalischen Seen genügten ihr jetzt schon nicht mehr. Wenn man einmal in den Frühling hinausreiste, dann auch gleich bis in die Heimat des Frühlings hinein, und das war, nach allem, was sie gehört hatte, die Riviera.

Sie war ja eigentlich noch nie auf Reisen gewesen; nun überkam es sie wie eine Art von Gier, diese ihr so fremd gebliebene Erde kennenzulernen, mit Siebenmeilenstiefeln darüber hinzufahren.

Dabei strahlte sie von Lebensmut und Freudigkeit, und das war gut, denn sie bedurfte dessen, um den Papa, der immer noch kopfschüttelnd dem allem zusah, bei guter Laune zu erhalten.

Jeden Morgen erschien sie mit dem roten Baedeker in der Hand, und dann mußte der Regierungsrat Vorlesungen über die Herrlichkeit der Meeresküste von Genua bis Nizza über sich ergehen lassen. Es gab ja gar nichts Vernünftigeres, als jetzt in all die Pracht hinunterzudampfen – das mußte er doch einsehen.

»Siehst du, Papachen, und nun habe ich auch den Ort gefunden, der gerade für uns passend sein muß, nach allem, was hier steht: das ist zwischen San Remo und Mentone – wie heißt es gleich« – rasch wurde noch einmal nachgeblättert – »richtig – ja – nach Bordighera gehen wir, da ist es ruhiger als in San Remo, da sind keine Kranken wie in Mentone, da ist es jedenfalls auch ein ganz Teil billiger – Gott, Papachen« – und sie stürzte mit Küssen über ihn her – »wenn wir da in unsrer schönen Behaglichkeit sitzen und Briefe von dem Jungen bekommen – denn alle acht Tage zweimal schreibst du mindestens, Percy, verstanden! – und wenn wir lesen, wie er jeden Tag zunimmt an Weisheit und Verstand – Papachen, Papachen, fühlst du denn nicht, daß es die reine Wonne alles sein wird?«

Papa Nöhring ließ sich lächelnd von ihr küssen und dachte im stillen für sich, daß er all die Wonne ebenso gut würde genießen können, wenn er hier in seinen alten vier Pfählen säße und Percivals Briefe läse.

Aber er hatte nun einmal ja gesagt, und das Mädchen war so glückselig, und er hatte ja erfahren, wie unglücklich sie sein konnte, und wie er unter ihrem Leide litt.

Und schließlich regte sich in ihm auch wieder der alte Romantiker. Er dachte an Uhlands Gedicht, das er stets mit Inbrunst gelesen hatte: »Hast du das Schloß gesehen, das hohe Schloß am Meer?« Wer weiß – vielleicht stand dort unten am blauen Meere wirklich solch ein Schloß, und er würde es auf seine alten Tage noch zu sehen bekommen, denn er war auch noch nie dort unten gewesen. Seine Phantasie wurde lebendig und zauberte ihm Burgen vor mit Söllern und Altanen, auf denen Könige standen mit goldenen Kronen auf den Köpfen –

Also schließlich – warum denn nicht?

Je näher der Tag der Abreise heranrückte, um so mehr löste sich die Gemütlichkeit des Hauses Nöhring auf.

Fredas Zimmer glichen dem Warenlager eines Modemagazins. Wenn man auf Monate hinausging, mußte man doch für Toiletten sorgen. Percival hatte seine Bücher zusammengepackt; seine Zimmer waren bereits ganz kahl. Überzüge bedeckten den Kronleuchter und die Möbel im Salon. Der einzige Raum, der noch unberührt geblieben, war das Zimmer Papa Nöhrings. Er sollte so spät wie möglich in seiner Ruhe gestört werden.

Dazu kamen nun die Abschiedsbesuche.

Die Sache war ruchbar geworden; von allen Ecken und Enden strömten die Bekannten herzu, um adieu zu sagen; und wieviel Bekannte man eigentlich hat, merkt man ja immer erst bei solchen Gelegenheiten.

Die Tür stand gar nicht mehr still.

Wallnows hatten sozusagen ihr Standquartier im Hause Nöhring aufgeschlagen, sie gingen gar nicht mehr fort.

Jeden Tag ein paarmal erschien Fräulein Nanettchen. Sie war in einem Zustand beständiger Gerührtheit, so daß Freda ihr den Beinamen »Tränenreservoir« zulegte. Dabei stellte sie fortwährend Fragen, die Freda langweilten und nervös machten.

»Auf Reisen geht ihr?«

»Ja, du hast's ja gehört.«

»Bis an den Comersee?«

»Vielleicht sogar noch weiter.«

»Noch weiter?«

»Ja, an die Riviera.« »An die – Riviera! Nein, aber sage mir, einziges Kind, warum denn nur eigentlich?«

Es wurde Freda unerträglich. Sie ging hinaus und ließ Nanettchen mit den beiden Wallnows beim Kaffee. Diese Spießbürgerei! Welch ein Segen, daß sie daraus hinauskam! wäre sie nur erst draußen gewesen!

Häufig, wenn auch nicht so oft wie Nanettchen, erschienen natürlich auch Benneckes. Auch deren Besuche aber dienten nicht dazu, Heiterkeit in die Stimmung zu bringen. Im Gegenteil.

Herrn Major a. D. Bennecke las man die Betrübnis aus den Augen, daß er sich auf solange von seinem alten Freunde trennen sollte; Tante Löckchen ging wie ein schweigender Vorwurf einher. Sagen wollte sie nichts, sie getraute es sich nicht recht, denn sie hatte, wie alle andern, heimlich Angst vor Freda. Aber sie hätte viel zu sagen gehabt, sehr viel, und darum ging sie wie eine mit Vorwurfstoff geladene Kanone umher.

Wäre die Kanone losgegangen, so hätte es einen fürchterlichen Knall gegeben; denn die ganze Geschichte war doch zu unsinnig und verdreht!

Alle kamen – ein einziger kam nicht. Und daß er nicht kam, das wurde für den Regierungsrat Nöhring allmählich zu einem Gegenstand nagenden Kummers.

Daß er nicht gleich nach jenem bösen Abend erschien, das begriff er; auch die nächsten Tage noch hielt er geduldig aus. Aber nun ging ein Tag nach dem andern um, nun rückte die Abreise näher und näher – und Schottenbauer kam noch immer nicht.

Würde er überhaupt noch kommen?

Zwei Menschen waren im Hause, die sich das fragten, der eine voll Sehnsucht, die andre voller Angst, der eine von Tag zu Tag trauriger, die andre täglich aufatmender. Sie hatte ihn also doch richtig beurteilt, er machte sich unsichtbar, er war nicht mehr da.

Percival war mit sich und seiner Zukunft und seiner Therese beschäftigt; Papa Nöhring und Freda vermieden es, das Gespräch auf Schottenbauer zu bringen, es war, als wenn sie sich voreinander scheuten; so kam es, daß sein Name nicht mehr genannt wurde, daß er verhallte und verschallte – »wie eine Episode im Leben der Familie Nöhring«, sagte sich Freda, und sie bestätigte sich, daß es so das Richtige sei.

Von Benneckes war auch nichts über ihn zu erfahren; Schottenbauer war seit dem bewußten Abend auch bei ihnen nicht mehr erschienen.

So setzte denn der Regierungsrat seine letzte Hoffnung darauf, daß er ihm noch einmal bei einem Spaziergang begegnen würde – die Hoffnung erfüllte sich nicht. War es Zufall, war es Absicht – Schottenbauers Wege kreuzten sich mit dem seinigen nicht mehr.

War er überhaupt noch in der Stadt?

Ja, er war noch da. Wallnows hatten festgestellt, daß er nach wie vor auf das Gericht kam, und wenn der Regierungsrat jenseit des Flusses entlang ging, sah er das Licht in der einsamen Stube.

Jedesmal, wenn er desselben gewahr wurde, verlangsamte sich sein Schritt, damit er den Lampenschimmer lange sehen könnte, lange. Wie tief er den seltsamen Menschen ins Herz geschlossen hatte, das fühlte er jetzt erst mit ganzer Macht.

Es kam ihm der Gedanke, ob er nicht einmal zu ihm herangehen, ihn aufsuchen sollte in seiner Wohnung.

Aber ein peinliches Gefühl hielt ihn zurück.

Wenn er doch nun einmal nicht mehr kommen wollte – und dann – was hätte er ihm eigentlich sagen sollen?

Konnte er ihn mit gutem Gewissen auffordern, noch einmal zu ihnen zu kommen?

Daß er Freda damit keinen Gefallen getan hätte, das wußte er ja doch – und so komisch es war, seitdem er seiner Tochter mit dem Reiseplan nachgegeben hatte, fühlte er sich ein wenig unter ihrem Pantoffel.

Konnte er ihm zumuten, noch einmal mit der zusammenzukommen, die ihn von sich stieß? Und andrerseits – zu ihm gehen und ihn nicht auffordern, noch einmal zu ihnen zu kommen, das war ja auch wieder nicht möglich.

Also ließ er den Gedanken fallen; mit einem Seufzer begrub er ihn in der Brust.

Alter Phantast, der er war – er wischte sich mit dem Taschentuch über die kahle Stirn – zu was für einem Märchen hatte er sich da einmal wieder die Zukunft ausgebaut!

Diesen Menschen seinen Sohn nennen zu können – diesen Menschen, der vor ihm aufgegangen war wie seine eigene in Verklärung wiedergeborene Jugend, ihn mit sich verbunden zu wissen durch ein so schönes, liebliches Band, durch die Hand seines geliebten Kindes – wie schön war der Gedanke gewesen – wie traurig brach er entzwei.

Armer alter Mann – armer alter Phantast!

Jetzt waren die Reisevorbereitungen so weit gewachsen, daß sie auch in die bisher noch unentweihte Stube des Regierungsrats hineingriffen.

»Papachen,« sagte Freda, »heute gehe ich an deinen Koffer. Deine Kleider, Wäsche und was dazu gehört, besorge ich; aber was du an Büchern, Papieren usw. mitnehmen willst, das mußt du selbst hineintun.«

Der Koffer stand aufgeklappt auf dem Flur neben Papa Nöhrings Zimmertür; im untersten Fache war ein Raum für die Bücher und Schreibereien frei gelassen.

Papa Nöhring schaute sinnend hinein.

Ja, ja – er würde seine Bücher selbst hineinlegen.

Als Freda im Laufe des Nachmittags zu dem Koffer zurückkehrte, fand sie, daß er seine Sache besorgt hatte. Mehrere Bücher lagen im unteren Fache und unter ihnen, in Zeitungen eingewickelt, mit einem Band zusammengebunden, ein ziemlich dickleibiger Stoß von Papieren.

Die Neugier plagte sie, nachzusehen, was der Papa da alles mit sich nahm.

Ohne das Band zu lösen, öffnete sie ein wenig den Zeitungsumschlag und lugte darunter; es waren die beiden Dramenmanuskripte Schottenbauers, sein Brief und seine Telegramme; das ganze »Archiv«.

Eine glühende Röte schoß ihr in die Schläfen; mit scheuen Blicken sah sie sich um; sie hatte ein Gefühl, als wäre sie bei ihrem Vater eingebrochen und hätte das Geheimnis seines Herzens entwendet. Hastig und geräuschlos streifte sie die Papiere in die Umhüllung zurück, dann packte sie seine Kleidungsstücke darauf, seine Wäsche, sein Waschzeug, recht viel Sachen, recht viel, wie man einen Gedanken, an den man nicht denken will, unter andern Gedanken begräbt, wie man die Stimme des Gewissens unter einem Wortschwall erstickt.


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