Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Fünftes Kapitel

Die halbe Nacht lag Freda schlaflos im Bett, weil sie immerfort an Percivals Prolog denken mußte. Was ihm nur plötzlich für ein neuer Einfall gekommen sein mochte? Vorher hatte er doch so bekümmert ausgesehen, und dann nachher so aufgeräumt und sicher – er mußte also doch etwas gefunden haben? Sie dachte daran, wie rat- und hilflos sie ihm gegenüber gesessen hatte; aus eigener Kraft also hatte er den Ausweg gefunden. Das war ja ein Beweis dafür, daß wirkliche Kraft in dem Jungen steckte, das war ja herrlich. Und in dem Glücksgefühle, das ihr dieser Gedanke verursachte, schlief sie süß und sanft ein. Zum Mittagessen am darauffolgenden Tage kam Percival etwas unpünktlich, etwas später als gewöhnlich. Er hatte noch eine Besorgung vorher gehabt. Offenbar war er rasch gegangen; er war etwas erhitzt, beinahe erregt.

Während des Essens verhielt er sich schweigsam, in Gedanken versunken. Sobald die Tafel aufgehoben war, zog er sich auf sein Zimmer zurück.

Eine Stunde später, als Freda in ihrem Zimmer mit einer Handarbeit am Fenster saß, erschien Percival, einen Bogen Papier in der Hand. Auf dem Tisch inmitten des Raumes, auf dem die verunglückten Entwürfe gelegen hatten, legte er ihn nieder.

»Da«, sagte er, indem er mit flacher Hand auf das Papier schlug und mit einem herausfordernden Blick zu der Schwester hinübersah. Dann ging er durch die Tür zurück. Heute blieb er nicht am Ofen stehn, um ihr Gesicht beim Lesen zu beobachten, heute schien er seiner Sache gewiß.

Ein beklommener Atemzug schwellte Fredas Brust, indem sie die Handarbeit fortlegte und langsam an den Tisch trat. War ihr doch nicht anders zumute, als handelte es sich um die Entscheidung seines Lebensschicksals. Der erste Blick auf das Papier machte sie stutzen; wie anders sah das heute aus als die vorigen Male. Glatt hingeworfen in Percivals kräftiger, geläufiger Schrift, ohne Striche, ohne Änderungen und Korrekturen reihte sich Strophe an Strophe, drei Seiten des Bogens bedeckend von oben bis unten und mit einer letzten Strophe überschießend auf die vierte Seite. Wie ein mühseliges, aus dürftigen Brocken zusammengeleimtes Flickwerk hatten jene ausgesehen – wie ein einheitlicher Guß von funkelndem Edelmetall, so sah dieses aus.

In ahnungsvoller Erregung setzte sie sich nieder und begann zu lesen. Und diesmal las sie nicht wie an den Tagen vorher, nicht Wort für Wort und Zeile mühsam nach Zeile, mit weit aufgerissenen Augen verschlang sie die Strophen, mit fiebernder Hand schlug sie die Seiten um, wie ein brausender Strom drang es in sie ein, das, was da vor ihr lag, das herrliche, gewaltige Gedicht. Percival war in den anstoßenden Salon gegangen, und dort, die Beine übereinandergeschlagen, saß er auf dem Sofa, während die Schwester las. Jetzt vernahm er aus dem Zimmer nebenan einen jauchzenden Schrei, und im nämlichen Augenblick erschien Freda auf der Schwelle der Tür.

Unwillkürlich ließ er das übergeschlagene Knie sinken – wie anders sah sie aus als gewöhnlich, wie großartig, wie schön!

Die schlanke Gestalt war hoch aufgerichtet, beide Arme erhoben, und das sonst so strenge Gesicht bis über die Stirn in flammende Glut getaucht.

Einen Augenblick noch stand sie, die Augen in begeisterter Wonne auf ihn gerichtet.

»Percival!« rief sie dann, und mit hochgereckten, wie zur Umarmung geöffneten Armen flog sie durch den Salon auf das Sofa zu, dahin, wo er saß.

Vor dem Sofa sank sie in die Knie; mit beiden Armen umschlang sie seinen Oberleib, und indem sie seinen Kopf an ihre Brust riß, küßte, küßte und küßte sie ihm das Gesicht.

»Junge,« stammelte sie, »wie herrlich! Wie herrlich! Wie herrlich!«

Percival hatte sich des leidenschaftlichen Überfalls nicht zu erwehren vermocht; jetzt machte er sich langsam von ihr los; er sah die Schwester nicht an; ein stummes, beinahe verlegenes Lächeln zuckte um seinen Mund.

Freda bemerkte es nicht; sie war wie berauscht. Noch einmal fing sie den Widerstrebenden in ihre Arme, und mit der rechten Hand strich sie ihm die Locken aus der Stirn.

»Du merkwürdiger Mensch«, sagte sie mit tiefem, aus der Brust quellendem Tone, und ihre Augen senkten sich staunend in die seinigen, als wollte sie sein Geheimnis ergründen, als wollte sie begreifen lernen, wie es möglich war, daß derselbe Mensch, der gestern und vorgestern so kläglich am Boden gekrochen war, jetzt plötzlich das Fliegen gelernt hatte. Dann sprang sie auf die Füße. Sie hatte das Gedicht ja erst einmal gelesen; sie schoß zurück, um es wieder aufzunehmen. Noch einmal lesen! Noch einmal und immer wieder!

Mit dem Papier in der Hand kam sie aus ihrem Zimmer zurück. Die Dämmerung war eingebrochen; sie zog die Hängelampe, die inmitten des Salons über dem großen runden Tisch schwebte, herab und zündete sie an. Dann, während Percival in seiner Sofaecke sitzenblieb, nahm sie unter der Lampe Platz, breitete den Bogen vor sich auf den Tisch, strich noch einmal mit leiser, liebender, beinahe ehrfurchtsvoller Hand über die Fläche des Papiers, und nun von der Seite her sah Percival, wie sie von neuem mit trunkenen Augen, mit steigender und sinkender Brust in dem Strom der Verse versank.

Es war in der Tat ein merkwürdiges Gedicht, großartig und lieblich zugleich. Zwei Schwestern waren geschildert; auf eisernem Thron sitzend, mit starren, finsteren Zügen die eine, die Weltgeschichte; neben ihr lehnend, ähnlich, doch freundlicher von Gesicht, die andre, die Muse der dramatischen Kunst.

Im Schoße der finsteren Schwester lagen die Ereignisse, rauhe, eckige, farblose Blöcke; aus ihrem Schoße hob die sanftere Schwester sie empor, und siehe da, in ihren Händen nahmen die rauhen Blöcke Rundung und Gestalt an, das farblose Eisen wurde zu strahlendem Gold.

Und nun, die goldenen Gaben im Schoße, wandelte sie vom Berge zu Tal, zu den Menschen hernieder und teilte ihre Gaben aus, nach rechts und nach links, den Großen und Kleinen, den Reichen und Armen, und das harte Gold wurde zur weichen, saftigen Frucht, und die Menschen genossen davon und stillten daran Hunger und Durst.

Und nun endlich, als sie alle ihre Schätze ausgeteilt und nur ein kleines, winziges Goldperlchen noch übrig hatte, schlüpfte sie lächelnd und das königliche Haupt bescheiden neigend über die Schwelle eines Hauses, wo gute Menschen wohnten; zu der lieben, freundlichen Wirtin des Hauses trat sie heran und legte ihr das Perlchen in den Schoß; da ward ein Leuchten, Flimmern und Glühen in dem Hause – und das Haus war Tante Löckchens Haus, die liebe, freundliche Wirtin war Tante Löckchen.

Aufatmend aus übervoller Brust, in tiefer, wortloser Glückseligkeit lehnte Freda sich im Stuhle zurück.

War solche Wonne denn erhört? War sie wirklich und wahr? Die Stube war nicht die Stube mehr; der Klang der herrlichen Verse tönte in ihr nach; als das Verheißende, all das Erlösende der echten großen Poesie strömte in sie ein, ihre Seele erfüllend mit einem Meere von tiefem, sattem, goldenem Licht. Und der Zaubergewaltige, der alles das vermocht, das war – er? Ihr Bruder? Ihr Percy? Ihr Alles und Eines? Für ihn gebangt hatte sie, an ihm gezweifelt – und plötzlich richtete er sich auf, und mit der stillen Gelassenheit der wahren Größe, die lächelnd ihrer Stunde harrt, schüttete er diese ganze Fülle des Reichtums über sie aus.

Ihr war, als umfinge sie ein Traum. Sie faltete die Hände im Schoß und richtete die tränenschwimmenden Augen zu ihm hin. Er saß noch immer, wie er gesessen hatte, in die Sofaecke gelehnt, die Blicke von ihr abgewandt, um den Mund das seltsame, beinahe gekniffene Lächeln. Freute er sich denn so wenig seines Werkes? Trug er ihr etwa noch nach, daß sie ihn so getrieben und gequält hatte?

Vom Sitze aus streckte sie beide Hände nach ihm aus. »Percy!« sagte sie mit tiefer, bebender Stimme.

Nun sprang er auf, trat an den Tisch, und am Tische stehend, nahm er selbst das Gedicht noch einmal auf und las es schweigend für sich durch.

»Ist wahr,« sagte er dann, indem er den Bogen nachdenklich wieder niederlegte, »es ist wirklich famos; geradezu großartig.«

Sie haschte nach seiner Hand und hielt sie fest. Dabei schaute sie lächelnd zu ihm auf. Die Art, wie er das Gedicht gelesen hatte, die Art, wie er davon sprach – es war ja wirklich, als spräche er von einem fremden Werk. »Percy,« sagte sie, »was wird das dem Papa für eine Freude bereiten! Wollen wir zu ihm hinaufgehen?«

Sie wollte sich erheben, aber mit einer jähen Bewegung drückte er ihre Hand auf die Tischplatte nieder, ihr andeutend, daß sie sitzenbleiben sollte. Die Hände in den Hosentaschen vergrabend, fing er an, im Zimmer auf und ab zu gehen, dann blieb er vor ihr stehen.

»Na, aber Freda,« sagte er, »nun tu mir den Gefallen – du hast's doch natürlich längst gemerkt?«

»Was soll ich gemerkt haben?«

Sie verstand nicht, was er meinte.

»Was« – er lachte kurz auf, wie jemand, der seine Verlegenheit nicht zeigen will – »na – daß das Gedicht natürlich gar nicht von mir ist.«

Freda wollte etwas erwidern, aber der Mund blieb ihr halb offen, sie brachte keinen Laut hervor. Mit großen Augen starrte sie ihn an; der freudige Glanz war von ihrem Gesicht wie weggewischt.

»Hurrjeh, macht sie ein Gesicht!« rief Percival. Er lachte laut und polternd, dann zündete er sich, um zu zeigen, wie wenig wichtig die Sache sei, mit langsamer Geflissenheit eine Zigarre an.

»Das ändert aber nichts an der Geschichte,« fuhr er fort, »mein Gedicht ist es darum doch.«

»Dein – Gedicht?« brachte sie stockend hervor.

»Na ja, mein Gedicht«, erwiderte er, mit einem Tone, als ärgerte er sich über ihre Schwerfälligkeit im Begreifen.

»Es gehört mir, und ich werde es bei Tante Löckchen sprechen.«

»Aber – wenn es doch ein anderer gemacht hat?«

»Aber wenn er mich doch beschworen hat,« erklärte Percival, indem er seine Wanderung durch den Salon wieder aufnahm, »geradezu fußfällig beschworen hat, daß ich das Gedicht sprechen und den Leuten sagen soll, es wäre von mir!« Es klang, als bereute er sein Geständnis, und als wollte er die Sache wieder gutmachen, indem er sich in den Ärger hineinredete.

Freda saß ganz stumm; sie war wie benommen von dem, was sie gehört hatte.

Ihr Schweigen reizte ihn immer mehr.

»Und so übrigens,« fuhr er fort, »daß er das Gedicht ganz allein gemacht hätte und ich gar nichts, so mußt du die Sache nun nicht verstehen. Den Grundgedanken habe ich ihm gegeben, und er – na – er hat ihn eben ausgeführt, also kann man dreist sagen, wir haben's zusammen gemacht.«

Er hatte während der letzten Worte das Gesicht von Freda abgewandt; bis über beide Ohren war er rot geworden, denn er wußte, daß er log, herzhaft log. Das einzige, was er dem Verfasser des Gedichts gesagt hatte, war gewesen, daß man für eine Theateraufführung einen Prolog brauchte, und daß der Prolog eine Verherrlichung der dramatischen Dichtung enthalten sollte.

Freda stützte die Stirn in die Hand.

»Wie soll man das alles denn verstehen? Er will nicht, daß man seinen Namen nennt?«

»Wenn ich's dir doch sage,« entgegnete Percival, »er will's nicht! Nein!«

»Aber – warum denn nicht?«

»Weil er glaubt, daß er dann bei Tante Löckchen Besuch machen muß, und weil er ein Verlegenheitstierchen ist und vor Gesellschaften, namentlich wo junge Damen dabei sind, und wo nachher gar getanzt wird, eine Angst hat wie vorm Feuer! Darum hat er sich's ausbedungen – wenn er das Gedicht machen sollte, müßte ich sagen, es wäre von mir. Na – also kannst du sehen, ich bin auf ehrliche Weise dazu gekommen.«

Jetzt ließ Freda die Hand sinken und richtete die Augen auf den Bruder.

»Aber wer ist der Mensch denn eigentlich, von dem du sprichst?« »Wer wird's sein,« versetzte Percival, »natürlich doch der Schottenbauer, der komische kleine Referendar hier vom Gericht. Hast du nie von ihm gehört?«

Freda schüttelte langsam verneinend das Haupt.

»Aber gesehen hast du ihn jedenfalls hundertmal, hast vielleicht bloß nicht Obacht gegeben. Ein ganz komischer kleiner, dicker Kerl mit einem großen runden Kopf. Ja natürlich, du mußt ihn ja gesehen haben! Immer im Sturmschritt rennt er durch die Straßen, den Kopf an der Erde, als ob er den Leuten zwischen den Beinen durchlaufen wollte. Urkomisch, sag' ich dir; urkomisch!«

Freda senkte die Augen auf das Gedicht.

»Und der – hat das hier geschrieben?«

»Na ja – das heißt – in der Art, wie ich's dir erklärt habe.«

Sie verharrte eine Zeitlang in stummen Gedanken und ließ die Blätter des Papiers noch einmal durch die Hand gleiten; in der Bewegung, mit der sie es tat, war eine gewisse Gleichgültigkeit, nicht mehr die ehrfurchtsvolle Liebe von vorhin.

»Ein Referendar – am Gericht« – dann schob sie den Bogen von sich und richtete sich auf.

»Wer ist denn dieser Mensch? Dieser Schottenbauer?«

Ja – wer war es?


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