Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Zwanzigstes Kapitel

Aus Percivals Zimmer führte eine Tür in Papa Nöhrings anstoßende Gemächer.

Freda nahm den Vater an beiden Händen, und indem sie ihm mit dem Kopf winkte, zog sie ihn hinter sich her, in sein Zimmer hinein. Wenn sie die Tür hinter sich offen ließen, behielten sie den Verwundeten im Auge und konnten jede seiner Bewegungen sehen.

Wie war das Schreckliche denn nur geschehen?

Gedämpften Tones erzählte ihr der Vater, was er wußte; viel war es nicht. Wie immer bei solchen Gelegenheiten, übersah man im ersten Augenblick das Geschehnis nur halb und halb.

Der Kurierzug, so schien es, war zu rasch in den Bahnhof eingefahren; infolge davon war er auf einen Güterzug aufgerannt, der im Bahnhof stand. Ob der Güterzug auf falschem Geleise gewesen war, oder der Kurierzug – man wußte es noch nicht.

Übermäßig groß war das Unglück allem Anschein nach gar nicht gewesen. Nur der vorderste Personenwagen hatte sich auf den vor ihm rollenden Gepäckwagen aufgebäumt – und gerade in jenem hatte Schottenbauer gesessen. Im Augenblick, als Papa Nöhring ankam, hatte man ihn aus dem Bahnhofsgebäude hinausgetragen; ein Arzt, der im Zuge fuhr, hatte ihm den ersten Verband angelegt. Auch ihm aber wäre vielleicht gar nichts geschehen – ein Reisender, der mit ihm in demselben Kupee gesessen hatte, war unbeschädigt davongekommen –, wenn er nur hätte stillsitzen wollen. Als sie aber in die Nähe der Stadt gekommen waren und die Lichter hatten aufleuchten sehen, wäre er so ungeduldig geworden, hatte der Mitreisende erzählt, daß er es auf seinem Sitz nicht mehr aushielt. Er war an das geöffnete Fenster getreten und hatte hinausgeblickt – gleich darauf war der Anprall erfolgt; durch den furchtbaren Stoß war er zur Seite geschleudert worden, mit dem Kopf gegen die Fensterkante, mit solcher Gewalt, daß er lautlos zusammengebrochen und bewußtlos liegengeblieben war.

Papa Nöhring sah zu Boden.

»Wenn er ruhig sitzengeblieben wäre – aber weil er sich so gefreut hatte – uns wiederzusehen – darum –«

Die Stimme brach ihm ab. Er setzte sich nieder und weinte still vor sich hin.

In dem Augenblick ertönten Schritte. Der Arzt, zu dem man das Mädchen geschickt hatte, kam mit dem Mädchen an.

Er schritt zur Untersuchung und nahm den Verband ab.

Freda und der Regierungsrat standen dabei und sahen zu. Ein langer, klaffender Spalt, aus dem es noch immer rot hervorsickerte, ging über die linke Schläfe bis in den Kopf hinauf. Es war das erstemal, daß Freda Blut und Verletzung an einem menschlichen Körper sah.

Als der Arzt den Verband lockerte, hatte sie mit heimlicher Angst auf das gewartet, was sie zu sehen bekommen würde – nun sie es sah, war sie ganz ruhig.

Der Kopf des jungen Mannes, der unter der dicken Umhüllung fast unkenntlich geworden war, kam jetzt, von allen Hüllen entblößt, in seiner ursprünglichen Gestalt hervor – sie sah nicht mehr den blutigen Spalt, sie sah nur noch diesen Kopf. Es war ihr, als sähe sie ihn zum erstenmal.

War es der Ausdruck des Leidens und des Schmerzes, der wie eine feierliche Weihe darüber gebreitet lag, oder hatte sie früher nie bemerkt, wie edel die Linien dieses Hauptes waren?

Diese breite, wölbende Stirn – diese schön geschwungene Linie, in der das jugendlich volle Haupthaar an die Stirn angesetzt war – und diese Blässe, in welcher das alles wie reiner, unbefleckter Marmor aussah –

»Es läßt sich noch nichts sagen«, das war der achselzuckende Bescheid des Arztes. Ein wenig tröstlicher Bescheid.

»Er ist noch immer bewußtlos; es kommt darauf an, wann er zu sich kommt. Geschieht es bald, dann ist es gut – sonst –«

Der Arzt verschluckte den Rest seines Satzes. Man verstand auch ohnedem, was er sagen wollte. »Sonst ist es nicht gut« – und wenn etwas nicht gut ist, dann steht es schlimm.

Schweigend nahmen Papa Nöhring und seine Tochter den Bescheid hin.

»Kalte Umschläge müssen gemacht und die ganze Nacht hindurch erneuert werden«, fuhr der Arzt fort; »ist jemand da, der das besorgen kann?«

»Das versteht sich«, entgegnete Papa Nöhring dumpf.

»Es ist auch nicht nötig, daß die dicke Bandage immer wieder umgelegt wird; es genügt, wenn ein einfaches Leinentuch um den Kopf geknüpft und die Kompresse auf die Wunde gedrückt wird.«

Der Arzt richtete sich auf.

»Vorläufig ist nichts weiter zu machen; morgen früh komme ich wieder.«

Damit ging er hinaus.

»Papa,« sagte Freda, sobald der Arzt das Zimmer verlassen hatte, »nun tu mir die Liebe und geh' und lege dich nieder. Ich werde jetzt bei ihm bleiben und die Umschläge besorgen.«

Papa Nöhring wollte Einwendungen machen.

»Du hast ja immer noch dein seidenes Kleid an –«

»Was kommt's denn darauf an?« Sie bestand auf ihrem Willen, und weil der alte Mann infolge der körperlichen Überanstrengung wirklich wie zerbrochen war, gab er nach.

»Aber nur ein paar Stunden – dann löse ich dich ab.«

»Dann lösest du mich ab.«

Er warf noch einen Blick auf Schottenbauer, dann ging er und lehnte die Tür seines Zimmers leise an.

Freda blieb zurück.

Sie hatte von dem Mädchen eine Schüssel mit Eis heraufbringen lassen. Nun schickte sie auch das Mädchen zur Ruhe. Und nun war sie mit ihm allein.

Sie machte eine neue Kompresse und befestigte sie, nach den Anweisungen des Arztes, auf der verwundeten Schläfe. Dann setzte sie sich auf den Stuhl zur Seite des Bettes, und dort saß sie nun.

Unter dem feuchten Umschlage, den sie ihm aufgelegt hatte, kam ein Tropfen hervor, halb Wasser, halb Blut, und rollte langsam zwischen Ohr und Wange zum Halse hinab. Immerfort sah sie dem gleitenden Tropfen nach; wie eine Träne beinahe sah er aus, wie eine schwere, dicke Träne.

Weinte er? Nein, nein – und doch – indem sie das bleiche, schmerzensvolle Antlitz betrachtete, kam sie von der Vorstellung nicht los, daß er dennoch weinte.

Warum?

Weil er Abschied nehmen mußte von dem Leben, das er sich, einer spottenden Welt zum Trotz, kraft eigener Kraft erschaffen hatte, und aus dem ihn nun, mitten in der Jugend, ein brutaler Zufall hinausriß?

Oder sammelte sein scheidender Geist sich in letzter Stunde noch einmal und fühlte all die Schmerzen noch einmal, die ihm die Menschen angetan hatten, und unter den Menschen am bittersten sie, die jetzt hier an seinem Lager saß in grimmer Gewissenspein, in brennender, trostloser Reue?

Unverwandt hingen ihre Augen an seinem Gesicht; kein Glied ihres Körpers bewegte sich; lautlos und unerschöpflich rannen die Tränen aus ihren Augen und fielen tropfend auf ihre Hände im Schoß. Wie jeder Gedanke wieder da war, mit dem sie seiner gedacht hatte, und wie häßlich ein jeder war, wie häßlich! Wie sie sich geärgert hatte, wenn die andern ihm Beifall spendeten, wie sie sich daran ergötzt hatte, wenn sie ihn mit Klatscherei und Hohn verfolgten. Wie sie die Blumen behandelt hatte, die er ihr damals gebracht, die schönen, stillen, duftenden Rosen, wie sie sie zerpflückt, zerfetzt und von sich geworfen, und wie sie ihr Herz zum Schweigen gebracht hatte, das ihr zurief: »Du tust nicht recht!«

War denn kein Gedanke da, an den sie sich klammern, kein Trost, hinter den sie sich flüchten konnte vor ihren Selbstvorwürfen?

Nun – zuletzt hatte sie ihm ja doch nachgegeben und ihm erlaubt, daß er sie in die Arme und an sein Herz schloß –

Zuckend aber fuhr sie auf. Warum hatte sie es getan? Aus Liebe? Nein! Weil sie durch seine reine Umarmung wieder rein werden wollte von der Befleckung, die sie erlitten hatte. Aus Eigennutz also, aus schnödem, gemeinem Eigennutz!

Es war ihr, als stünde sie sich körperlich gegenüber und müßte sie sich anspeien vor wütender Verachtung. Darum hatte sie wie ein Eisblock in seinen Armen und unter seinen Küssen gelegen, hatte wie eine Bettlerin vor ihm gestanden, die ihm nichts zu geben vermochte, während er ihr alles, alles und alles gab. Belogen hatte sie sein Gefühl und betrogen, und sich wohl gar noch gefreut, daß er sich so leicht belügen ließ, weil sie zu elend war, zu fühlen, daß er zu der seltenen Menschenart gehörte, deren Herz leichtgläubig ist, leichtgläubig, groß und unvermögend, zu denken, daß es elende, kleine, erbärmliche Herzen gibt!

Und nun jetzt, da endlich, endlich, endlich ein Bewußtsein in ihr aufzudämmern begonnen hatte, was dieser Mann und wer er war, daß es eine Welt war, die er ihr geben konnte, geben wollte, daß sie wie eine Törin und Närrin, wie ein trotziges, kindisches Kind sich gegen ihn gesträubt und gewehrt hatte, jetzt, da ihr Herz endlich warm zu werden begonnen hatte, da sie zum erstenmal mit sehnsüchtig zitternder Hand nach der Hand des Mannes hatte greifen wollen, die sie hinausführen sollte aus Enge und Dumpfheit in die Lebenslust des Geistes, jetzt, da alles in ihr sich zu wandeln, da sie ihn zu lieben angefangen hatte, jetzt kam dieser Donnerschlag des Geschicks, und alles war zu Ende und zu spät!

Zu Ende nun das Leben, das wie ein ahnender Traum der Glückseligkeit vor ihr aufgegangen war, das mitschaffende Leben an der Seite des schaffenden Mannes!

Zu spät nun, daß sie mit gerungenen Händen neben ihm saß und daß ihr brechendes Herz ihm zuschrie: »Ich habe unrecht an dir getan! Vergib! Vergib! Vergib!«

Er hörte sie nicht, er würde sie nie mehr hören.

Diese Augen, die im Feuer des Geistes gelodert und gleich darauf wie die schalkhaft freundlichen Augen eines freundlichen Kindes geblickt hatten, sie öffneten sich nicht mehr, würden sich nie mehr öffnen, nie mehr!

Diese Hände, die jetzt so weiß, so kalt, so tot auf der Bettdecke lagen, sie würden sich nie mehr in ihre Hand schmiegen, nie mit Blumen mehr für sie füllen, nie mehr Worte schreiben, die ihr Seele und Geist mit Wonne und süßer Seligkeit erfüllten – nie mehr! nie mehr! nie mehr!

Von der Gewalt ihrer Verzweiflung übermannt, glitt sie vom Stuhl und sank vor dem Bett in die Knie.

Auf seine bleichen Hände drückte sie die Lippen und überströmte sie mit ihren Tränen. Und dann, als wenn sie ihn festhalten könnte im Leben, und weil ein wütendes Verlangen in ihr war, ihn festzuhalten im Leben und bei ihr, schlang sie die Arme um seinen regungslosen Leib und drückte den Mund auf seinen Mund und küßte ihn auf die Augen, auf Wange und Stirn, und »Bleibe bei mir!« stöhnte sie unter Schluchzen und Tränen, »geh nicht von mir! Bleibe bei mir!«

Und in dem Augenblick fuhr sie mit dem Gesicht zurück –

Ein Zucken war durch seine Glieder gegangen – ein Seufzer kam von seinen Lippen – langsam schlug er die Augenlider zurück, und mit großen, dunklen, traumumflorten Augen blickte er sie an.

Sie wagte kein Glied zu rühren, sie wagte kaum zu atmen.

Lautlos starrten die beiden Menschen sich in die Augen.

»Walther,« sagte sie dann mit leisem, süßem Ton, »kennst du mich nicht?«

Es war, als müßte sein Geist aus weiter Ferne zurückkommen; man sah ihm die Anstrengung an, sich zu besinnen und zu erinnern. Dann hob er die Hände und strich mit schwacher Bewegung über ihre Stirn und ihr blondes Haar.

»Mein Gott – ist das nicht – Freda?«

Sie verschlang die Tränen, die ihr aus den Augen brechen wollten, sie zwang den Jubelschrei nieder, der sich von ihren Lippen ringen wollte, nur das Zittern ihrer Hände und ihres Leibes verriet den Sturm, der sie durchwühlte, während sie mit gefaßter Stimme antwortete:

»Freilich ist es die Freda, Walther; und weißt du denn nicht, daß du bei ihr und bei dem Papa bist?«

Ein dämmerndes Lächeln ging über seine Züge, beinahe der Widerschein eines Lächelns nur, aber es verstärkte und verstärkte sich, und jetzt lachte ihm wirklich das ganze Gesicht, und er hob beide Arme auf.

»Ach ja – und da ist ja auch der Papa.«

In der Tür des Zimmers stand Papa Nöhring, der durch Fredas laute Worte geweckt worden und aufgesprungen war.

Als er jetzt die Worte vernahm, als er begriff, daß Schottenbauer lebte, wieder bei sich war und ihn erkannte, brach ein dumpfer, unartikulierter Laut aus seiner Brust hervor. Beide Arme streckte er aus. Es sah aus, als wollte er sich über ihn herstürzen. Freda flog ihm entgegen.

»Papachen! Vorsicht, um Gottes willen!«

Sie hatte sich an seine Brust geworfen. Die Tränen liefen ihm über die Backen, Er weinte, er lachte, alles durcheinander.

»Hast recht.«

Dann schob er sie beiseite. Mit einem Schritt war er am Bett; er sank in die Knie, drückte das Gesicht auf Schottenbauers Brust und klopfte und streichelte ihn.

»Mein Junge – bist du wieder da? Mein Junge – mein Junge!«

Papa Nöhring hatte sich wieder aufgerichtet; er saß auf dem Stuhl; zur andern Seite des Lagers stand Freda.

Stumm lächelnd, wie ein müdes Kind, griff Schottenbauer nach Papa Nöhrings und nach Fredas Hand. Eine nach der andern zog er an seine Lippen und küßte sie; dann vereinigte er die beiden geliebten Hände auf seiner Brust, sah noch einmal, glücklich lächelnd, in die Gesichter der beiden auf, schloß sodann die Augen, und mit einem langen, aus tiefster Brust entströmenden Atemzuge schlief er sanft und ruhig ein.

Lange, lange ließen Freda und der Vater ihre Hände da ruhen, wo Schottenbauer sie zusammengefügt hatte. Dann, als sie merkten, daß seine Hände nachließen und daß er wirklich eingeschlafen war, nickten sie sich zu und zogen behutsam ihre Hände zurück. Auf den Fußspitzen, leise, leise, schlichen sie hinaus, in Papa Nöhrings Zimmer, in das alte grüne Zimmer hinüber; dort, an dem runden Tisch, blieb der alte Mann stehen und breitete beide Arme aus. Aufschluchzend warf Freda sich in seine Arme, an seine Brust, und wortlos hielten sie sich umschlungen.

»Gott wird ihn uns nicht nehmen,« stammelte Papa Nöhring, »er wird ihn uns nicht nehmen.«

»Nein, Vater« – Freda reckte sich auf, so daß ihr Mund am Ohr des Vaters war –, »er wird ihn dir lassen, und er wird dein Sohn sein und dir mehr gehören als je zuvor, denn von heute an wird deine Tochter ihm gehören mit Herz und Seele und Leib.«


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