Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Nachmittag war es, als das geschah; und an diesem Nachmittag sahen die Bewohner der Stadt den Referendar Schottenbauer, der sich ja stets in schneller Gangart zu bewegen pflegte, durch die Straßen nicht dahingehen, sondern dahinschießen. Den Kopf zur Erde, die Hände bald auf dem Rücken, bald gestikulierend rechts oder links, so kam er daher.

»Wie eine entgleiste Lokomotive!« meinte der Begleiter des Gardereferendars, der mit diesem in der Hauptstraße promenierte, als Schottenbauer an ihnen vorübergestürmt kam. »Schon mehr Brummkreisel!« verbesserte der Gardereferendar.

Im Schaufenster des Blumenladens an der Hauptstraße lag ein prächtiges Bukett aus. Man sah den Referendar Schottenbauer in dem Laden verschwinden und gleich darauf, das Bukett schwingend, wieder herauskommen.

War der Mensch plötzlich verrückt geworden?

Man hätte es glauben können, wenn man seine Augen sah, die leuchtend und lachend jedem Begegnenden ins Gesicht schauten und doch nichts zu sehen schienen; und wenn er sich Rechenschaft darüber ablegte, wie er eigentlich dazu gekommen war, das Bukett zu erstehen, so hätte er zu ähnlichen Vermutungen über sich selbst gelangen können.

Es war wie eine plötzliche Raserei über ihn gekommen; ein ungestümes Bedürfnis, jemanden zu beschenken. Als er das Rosenbukett im Schaufenster liegen sah, brach ein Feuerstrom in seine Phantasie ein; die wenigen Rosen verwandelten sich ihm in eine unendliche Menge, in eine Flur von Rosen, in ein Meer. Und diese ganze Fülle raffte er im Geiste zusammen und schüttete sie über dem Haupt des geliebten Weibes aus, so daß es um sie herum sich auftürmte wie ein duftender Berg, bis daß ihre schlanke Gestalt zusammenbrach unter der köstlichen Last, bis daß nichts mehr von ihr zu sehen war als das Antlitz, das stolze, kecke, böse, spottende, geliebte und ersehnte Antlitz, dessen Lippen jetzt nicht mehr höhnen konnten, weil sie in halber Erstickung seufzten, dessen Wangen mit süßer Glut umhaucht und dessen Augen gebrochen waren im Taumel des Duftes und der Liebe.

Darum hatte er sich nicht halten können, war hineingestürmt in den Laden und hatte das Bukett gekauft, obgleich die Rosen zu der Jahreszeit noch sehr teuer waren und der Preis des Buketts seine Mittel eigentlich weit überstieg. Er fragte auch gerade danach!

Nun hatte er es in Händen, und nun, geradeswegs, ging es damit zum Hause Nöhring. Erst als er vor der Tür angelangt war, kam er aus seinem Rausch zu sich. Er hatte ja bisher noch nie gewagt, ihr die geringste Spende darzubringen – wie würde sie es denn aufnehmen?

Aber nun gab es kein Zurück mehr. Im nächsten Augenblick war er im Zimmer, wo er die ganze Familie beisammen fand, und nun stand er, von blutroter Verlegenheit übergossen, den Hut in der einen, das Bukett in der andern Hand, mitten im Raum, einen Anblick gewährend, der unwillkürlich alle Anwesenden zu einem lauten Lachen herausforderte.

O Phantasie – o Wirklichkeit!

»Na, aber sagen Sie mal, Schottenbauer, was bringen Sie uns denn da?«

Es war Papa Nöhring, der mit diesem Zuruf den Bann brach.

Schüchtern lächelnd blickte Schottenbauer ihn an.

»Ich – habe eben eine große Freude erlebt – und darum trieb es mich –«

Er konnte nicht weitersprechen. Mit einer plötzlichen Hast trat er auf Freda zu, die hinter dem großen Tisch saß.

»Würden Sie es mir nicht übelnehmen – wollen Sie mir erlauben – daß ich Ihnen – dieses hier –«

Er hielt ihr das Bukett entgegen. An Freda kam jetzt die Reihe des Errötens; eine Glutwelle stieg in ihrem Gesicht auf.

»Für mich soll das sein? Aber das ist ja geradezu eine Kostbarkeit.«

Zögernd hatte sie die Hand nach dem Blumenstrauß ausgestreckt; indem sie ihn ergriff, fühlte sie, wie Schottenbauers Hand sich mit sinnloser Gewalt um ihre Finger schloß. Ein tiefer Atemzug schwellte ihre Brust; sie senkte unwillkürlich das Haupt; der Mensch, der da vor ihr stand, brannte ja lichterloh.

»Nun aber sagen Sie,« fing Papa Nöhring wieder an, »was ist denn eigentlich passiert? Eine große Freude, sagen Sie? Also, kommen Sie heraus damit, kommen Sie heraus!«

Mit bebenden Händen griff Schottenbauer in die Brusttasche, aus der er den Brief hervorholte, den er vorhin erhalten hatte.

»Eben – bekomme ich das –«

Er hielt dem Regierungsrat den Brief hin.

»Lesen Sie doch vor,« sagte dieser, »damit alle es hören.«

»Ich – kann nicht«, erwiderte er, und der Ton seiner Stimme war so stammelnd, daß man ihm glauben mußte.

Papa Nöhring nahm also das Schreiben an sich. Es kam aus Berlin von einem Theaterdirektor, der eine neue Bühne zu errichten gedachte.

Der Theaterdirektor war in Meiningen gewesen, gerade als man Schottenbauers Stück dort gab; er hatte es gesehen und wandte sich nun mit enthusiastischen Äußerungen der Bewunderung an den Dichter, damit er ihm sein Stück zur Aufführung übergäbe.

Papa Nöhring hatte laut vorgelesen. Nachdem er zu Ende gelangt war, trat ein allgemeines Schweigen ein.

»Das ist der Anfang zu großen Dingen«, sagte der Alte, indem er noch einmal gedankenvoll in das Schreiben blickte.

Niemand sagte ein Wort; alle fühlten, daß er recht hatte, daß das Schicksal dieses Menschen seinen Weg ging, und daß er jetzt an die Schmiede kam, wo heutzutage die Schicksale der Dichter und Schriftsteller Deutschlands zurechtgehämmert werden.

Unterdessen hatte sich Schottenbauer in einem entfernten Winkel des Salons niedergesetzt und schweigend in einem Armstuhl zusammengekauert.

Es erging ihm wie den andern; eine Last drückte ihn nieder; es war ihm, als stünde die Zukunft wie ein großes verschleiertes Weib mitten im Zimmer, und durch den Schleier blickte ihr geheimnisvolles Auge auf ihn herab.

Der Regierungsrat erhob sich von seinem Stuhl.

»Na, Schottenbauer,« sagte er, »man soll ja den Tag nicht vor dem Abend loben; aber es scheint mir, daß hier etwas kommt und wird, woran Sie und woran wir alle Freude erleben werden; und ich denke, man kann Ihnen mit gutem Gewissen Glück wünschen, recht von ganzem Herzen Glück.«

Er hatte beide Hände nach ihm ausgestreckt. Schottenbauer trat heran.

»Herr Regierungsrat,« sagte er halblaut, indem er den Kopf zu Boden senkte, »bitte, sagen Sie mir mal ganz ehrlich, verachten Sie mich eigentlich nicht ein wenig?«

Der alte Nöhring riß die Äugen weit auf.

»Warum sollte ich Sie denn verachten?«

»Weil ich so mutlos geworden war, als die Geschichte mit Meiningen passierte – Sie wissen ja – und jetzt so außer Rand und Band vor Freude bin, weil's wieder gut zu gehen verspricht.«

Der alte Mann legte den Arm um seine Schulter und sah ihn lächelnd mit den großen, schönen Augen an.

»Schottenbauer,« sagte er, »ich will Ihnen als Antwort auf Ihre Frage etwas wünschen, etwas, was man eigentlich jedem Dichter wünschen kann: möchten Sie immer jemand an Ihrer Seite haben, der Sie versteht. Einer, der Sie versteht, wissen Sie, wird vielleicht manchmal, vielleicht jeden Tag einmal den Kopf über Sie schütteln, aber verachten wird er Sie nicht und Ihnen böse sein auch nicht.«

Er strich mit der Hand über das Haar des jungen Mannes.

»Na, und ich, sehen Sie, bilde mir nun ein, daß ich Sie so ein bißchen verstehe – also können Sie sich das übrige denken.«

Alle Augen hatten auf die Gruppe der beiden Menschen geblickt, alle Ohren auf das hingehört, was dort eben wie ein edler, aus Erfahrungen des Lebens gekelterter Wein von den Lippen des alten Mannes geflossen war. Darum hatte niemand auf Freda Nöhring achten und bemerken können, welch tiefer Erregung sie zur Beute geworden war. Die Blumen lagen vor ihr auf dem Tisch; sie hatte sich im Sessel weit vorgebeugt, als wollte sie erlauschen, was der Vater sprach; ihr Gesicht war tief erblaßt.

Nachdem er geendet, richtete sie sich unhörbar auf, raffte das Bukett an sich und verschwand. Als Schottenbauer aufblickte, war ihr Platz leer. Unwillkürlich hafteten seine Augen an der Stelle, wo sie gesessen hatte; dann griff er zum Hut.

»Ich habe noch zu arbeiten«, sagte er, indem er sich von dem Regierungsrat verabschiedete.

»Wir sind heute abend bei Benneckes, kommen Sie nicht hinüber?« fragte Papa Nöhring.

»Heute abend? Nun – das ließe sich überlegen.«

Im Augenblick, als er hinausging, trat Freda wieder ein; er hatte ihr nicht mehr adieu sagen können.

»Wo hast du denn seine Blumen gelassen?« wandte sich der Vater an sie, als er ihre leeren Hände gewahrte.

»Draußen,« erwiderte sie kurz, »ich habe sie in Wasser gestellt.«

»Draußen –,« murrte der Regierungsrat, »solch ein schönes Bukett gehört doch in den Salon.«

Sie lächelte mit Anstrengung.

»Also können sie auch im Salon stehen.«

Sie ging wieder hinaus und kehrte gleich darauf zurück, eine Vase in Händen, in welcher das Bukett stand. Auf dem großen Tisch inmitten des Salons stellte sie das Gefäß auf; dann machte sie sich, um niemand ansehen zu müssen, an den Blumen zu schaffen. Ihre Lippen waren aufeinandergeschlossen, der Atem ging gepreßt durch ihre Nase, so daß die Nasenflügel leise erzitterten; sie fühlte, wie Mutter Wallnow und Therese mit neugierigen Augen auf sie einblickten. Es war ihr zumute, als ob sie vor Qual und Pein laut aufschreien sollte.

Papa Nöhring trat an den Tisch.

»Was für eine Pracht von Rosen!« sagte er mit lächelnder Bewunderung. »Hast du ihm denn eigentlich dafür gedankt?« Freda gab keine Antwort; ihr Atem ging so schwer, daß der Vater es vernahm. Mit einer hastigen Bewegung wandte sie sich ab.

»Ich begreife eigentlich überhaupt nicht, wie er dazu kommt–«

Sie wollte vom Tisch hinweggehen; der Vater warf den Arm um sie und hielt sie fest.

»Wie er dazu kommt? Hast du denn nicht gehört, daß er eine große Freude erlebt hat?«

Unwirsch, ohne den Vater anzusehen, schüttelte sie den Kopf.

»Was hat denn das für einen Zusammenhang?«

»Was das für einen Zusammenhang hat?« fuhr Papa Nöhring immer gleich ruhig und gleich eindringlich fort, »soll ich dir das erklären? Siehst du, es gibt Menschen, die, wenn sie eine Freude erleben, nur ein Bedürfnis haben: andern auch eine Freude zu bereiten. Und siehst du, mein Kind, solch ein Bedürfnis ist ein edles Bedürfnis, und solche Menschen sind gute Menschen.«

Er schwieg, als wartete er auf eine Antwort. Freda aber wand sich, als wollte sie sich aus seinen Armen befreien.

»Aber warum er sie mir bringt?« stieß sie endlich hervor, »das meine ich.«

»Das meinst du?«

»Ja, das meine ich allerdings!«

Sie hatte nicht laut gesprochen; ein heißes Flüstern war es, beinahe ein Zischen, mit dem ihre Worte herauskamen. Papa Nöhring fühlte, wie ihr ganzer Leib erzitterte und erbebte.

Mit leiser, zärtlicher Hand strich er über ihre Wangen.

»Das fragst du? Das verstehst du nicht? Aber Freda –«

Er hatte die Stimme gleichfalls sinken lassen, so daß es war, als unterhielten sich Vater und Tochter nicht Mund zu Mund, sondern Herz zu Herzen. Und nun verstummte das Gespräch gänzlich.

Er sah und fühlte den Sturm, der sie durchwühlte. Das war nicht das süße Schauern des Weibes, das vor der nahenden Liebe erbebt, das war aufrichtige, bittere Qual. Schweigend blickte er auf sie nieder, auf sein unbändiges, unbegreifliches Kind, und indem er an die einsame Zukunft dachte, zu welcher dieses herbe, seltsame Geschöpf sich eigenwillig selbst verdammte, faltete sich seine Stirn, und ein Schatten senkte sich über sein Gesicht. Als er so verstummte, blickte Freda auf, und als sie sein sorgenvolles Antlitz über sich gebeugt sah, hielt sie es nicht länger aus. Sie standen nicht weit von der Tür des Nebenzimmers. Mit einem verzweifelten Griff erfaßte sie die Hand des Vaters und riß ihn über die Schwelle in das andere Zimmer hinein. Dann warf sie die Tür zu, und nun in einen Tränenstrom ausbrechend, der ihren Körper auf und nieder fliegen ließ, stürzte sie sich dem Vater in die Arme, an die Brust.

»Papa, Papa, Papa, quäle mich doch nicht so! Quäle mich doch nicht so fürchterlich!«

Er drückte ihr tränenbenetztes Antlitz an sein Herz, er streichelte ihr den Kopf, das Haar und die Wangen.

»Freda, mein Töchterchen, mein Herz, wer quält dich denn? Wer tut dir denn etwas zuleide?«

»Ihr alle – ihr wißt es ja nicht – aber – ihr alle!«

Ihre Stimme klang dumpf; das Schluchzen zerriß ihre Worte. Sie hob nicht das Haupt und sah den Vater nicht an. Wie in Verzweiflung schüttelte sie den Kopf. Dann machte sie sich von ihm los, ging in die Ecke am Ofen, wo sie an jenem Abend gesessen hatte, sank auf einen Stuhl, legte beide Arme auf die Stuhllehne und das Gesicht in die Arme und weinte.

Der alte Mann stand ganz ratlos vor diesem Ausbruch leidenschaftlicher Verzweiflung.

»Aber Freda,« sagte er endlich, und er bemühte sich, einen möglichst straffen Ton anzuschlagen, »nun sei endlich einmal vernünftig! Zwinge ich dich zu etwas? Habe ich dich je zu etwas gezwungen? Ist überhaupt von irgend etwas die Rede gewesen? Ich denke, du kennst mich doch und weißt, daß du tun und lassen kannst, was du willst!« Sie richtete das Gesicht auf; dann sprang sie vom Stuhl empor.

»Wenn ich doch nur wäre, wie ihr wollt! Wenn ich doch nur könnte, wie ihr wollt!«

Sie hatte in unbewußter Bewegung beide Arme emporgeworfen; ihr Haupt war hintenüber in den Nacken gesunken; so stand sie da wie eine Hilfesuchende und Anklagende zugleich; ihre Augen, noch von Tränen schimmernd, richteten sich ins Leere, als suchte sie die unbekannte Macht, die ihr all dies Leiden verhängt, die ihr alles das versagt hatte, was Frauen schwach und durch die Schwäche glücklich macht, den süßen Schauer der Sinne, das selige Spielen mit der Liebe des Mannes. Ein Rätsel für Menschen, ein Gegenstand dumpfer Sorge für die Ihrigen, durch das geordnete Menschenleben dahingehend wie ein Irrstern, der sich von der Bahn des Regelrechten getrennt hat – so fühlte sie sich in diesem Augenblick, so blickte sie in ihr eigenes, unverständliches Innere hinein, so stand sie da und ahnte nicht, daß, wie sie dastand in ihrem Jammer, ihrer Not, sie ein Bild darbot, so überwältigend in seiner weiblichen Schönheit, daß das Geschlecht, dem sie sich versagte, daß alle Männer hingerissen zu ihren Füßen hätten sinken müssen.

Papa Nöhring wollte weitersprechen, aber mit einer hastigen Bewegung der Hand schnitt Freda ihm das Wort ab.

Sie riß das Tuch aus der Tasche und trocknete sich mit energischer Bewegung die letzten Tropfen von den Wimpern; sie war zu sich zurückgekommen, wieder Herrin ihrer selbst.

»Laß nur, Papa,« sagte sie, »laß nur gut sein! Ich bin schon wieder vernünftig und werde vernünftig sein.«

Dann ging sie auf ihn zu und schlang beide Arme um ihn her.

»Du armer Papa – was ich dir aufgebe! Nicht wahr?«

Mit ihrem Munde suchte sie seinen Mund, ein Lächeln ging über ihre Züge, und indem sie die Lippen auf die Lippen des Vaters drückte, war es ein Bild aller Anmut und Lieblichkeit. Papa Nöhrings Gesicht wurde wieder freundlich und hell.

»Du Mädel, du Mädel – was ich dem Schottenbauer vorhin gesagt habe, das paßt auch für dich: daß du nur immer jemand an deiner Seite haben möchtest, der dich versteht.«

Sie schmiegte sich in seine Arme.

»Aber Papachen – Hab' ich denn nicht dich?«

Einen Augenblick schwieg er, dann neigte er sich zu ihrem Ohr.

»Aber Freda, mein Herzenskind, du mußt doch nicht vergessen – ich bin ein alter, alter Mann.«

Mit einem krampfhaften Griff packte sie seine Schultern, so daß er fühlte, wie ihre Fingernägel sich in das Tuch seines Rockes gruben.

»Vater –«

Ihre Lippen waren ganz blutlos, ihre Augen wie erloschen.

»Na – erschrick nur nicht,« sagte er begütigend, »noch steh' ich ja ganz fest auf meinen zwei alten Beinen.«

Sie ließ ihn los und ging durch das Zimmer; ein Gedanke schien sie zu beschäftigen. Dann blieb sie stehen.

»Aber weißt du, Papa, dabei fällt mir ein, was der Arzt dir voriges Jahr gesagt hat, daß du in diesem Sommer durchaus eine lange, tüchtige Kur gebrauchen mußt.«

»In irgendeinem Altenmännerbade«, meinte Papa Nöhring lächelnd.

»Warum denn nicht? Wenn es dir nur bekommt. Also, siehst du,« fuhr sie fort,»hab'ich mir die Sache so gedacht: Percy geht nun so bald wie möglich nach Berlin, um sein Examen zu machen – er wird sich wohl noch etwas vorbereiten müssen?«

»Natürlich!« meinte Papa Nöhring.

»Aber bis zum Herbst kann er fertig – und alles abgemacht sein? Wie?«

»Bis zum Herbst – na – das denk' ich auch.«

»Also, siehst du, schlage ich vor: sobald es einigermaßen wärmer wird, schließen wir einfach unser Haus zu und gehen alle miteinander davon – Percy nach Berlin und wir zwei beide nach irgendeinem schönen, warmen, traulichen Winkel.«

Papa Nöhring schmunzelte vor sich hin.

»Das heißt – wir kneifen aus.«

»Kneifen aus? Wieso?«

Er schüttelte lachend den Kopf.

»Na, wissen Sie, Mamsellchen, für so dumm brauchen Sie Ihren alten Papa nun auch nicht zu nehmen.«

Freda errötete. War sie so durchsichtig geworden, daß man jeden ihrer Gedanken erriet?

»Aber du mußt doch zugeben,« fuhr sie eifrig fort, »daß der Gedanke gut ist?«

»Ja, ja«, meinte Papa Nöhring, »der Gedanke ist ganz gut. Aber wo sollen wir denn so früh hingehen? Nach Karlsbad vielleicht?«

»Karlsbad – nein, Gott sei Dank – das brauchst du nicht.«

»Aber Gastein,« meinte er, »und wie die andern Altenmännerbäder da oben in den Bergen heißen, werden so früh nicht aufgemacht; da können wir also noch nicht hin.«

Freda zuckte die Achseln.

»Mit deinen Altenmännerbädern! Ich hatte mir gedacht, ob wir nicht einmal an einen der oberitalischen Seen gehen möchten? Die kenne ich noch gar nicht, und da soll es ja im Frühlingsanfang so schön sein?«

Der Alte war ihr nachgegangen und sah ihr listig ins Gesicht.

»Und da bekommt man so wenig deutsche Zeitungen zu lesen, nicht wahr? Und erfährt nicht, was an deutschen Theatern unterdessen gespielt wird?«

Freda blickte geradezu betroffen auf. Als sie aber den drolligen Ausdruck in seinem Gesicht sah, brach sie unwillkürlich in lautes Lachen aus.

»Nein, aber sag' mir, Papa, an dir ist ja wahrhaftig ein Polizeispitzel verloren?« »Komm nur weiter 'raus mit deinen Plänen«, fuhr er fort; »also an einen der oberitalischen Seen? Vielleicht an den Comersee? Hm?«

Sie sah ihn mißtrauisch an, als witterte sie wieder irgendeine Falle.

»Nun – warum also nicht zum Beispiel an den Comersee?«

»Sehr gut,« fiel er ein, »am Comersee, das weißt du doch, liegt die berühmte Villa vom Herzog von Meiningen, die Villa Carlotta. Ist wunderschön, kann ich dir sagen. Da gehen wir im Garten spazieren, und dann setzen wir uns unter einen Magnolienbaum; und weil wir keine Zeitungen haben, lese ich dir dann den Brief vor, den ein gewisser Jemand aus Meiningen geschrieben hat.«

Wie von einem Stiche getroffen, fuhr Freda herum und auf ihn zu.

»Aber Papa!«

Sie drückte ihm die flache Hand auf den Mund; in ihren Augen flimmerte es durcheinander, Schreck, Zorn und Lachlust, aber die Lachlust trug für dieses Mal den Sieg davon.

»Ein Ungeheuer bist du, ein vollständiges Ungeheuer!«

Er hatte sie an sich gezogen und sah in ihr Gesicht herab, das so wechselnden Ausdruckes fähig und jetzt so holdselig war. Dann setzte er sich, und indem er sie an sich geschlossen hielt, sank sie an ihm nieder, auf sein Knie, und auf seinem Knie saß sie nun, den Kopf an seine Schulter gelehnt wie ein Kind.

»Soll ich dir mal ein Märchen erzählen?« fragte er.

Sie nickte.

»Ja – aber es muß mir gefallen.«

»Kritik«, erwiderte er, »kommt hinterdrein.«

»Also, siehst du, es war einmal eine Amazone. Du weißt doch, was Amazonen sind und worin ihr Beruf besteht? Nämlich, so viele Männer umzubringen als nur möglich. Die, von der ich erzähle, hatte nun ihren Beruf famos erfüllt; jeden Abend, wenn sie sich zu Bett legte, sagte sie: »Wieder einer um die Ecke, und dann schlief sie beruhigt ein. Das wäre nun alles ganz schön gewesen – aber eines störte ihre Gemütsruhe. Da war nämlich ein einziger Mann, über den sie nicht Herr wurde; und noch dazu war es ein ganz kleiner Kerl, eigentlich ein Junge. Der hatte einen Köcher umgehängt und in dem Köcher Pfeile, kleine, spitze, goldene Pfeile. Wenn nun die Amazone so durch Feld und Wald geritten kam, saß der nichtsnutzige kleine Kerl hinter irgendeinem Büsche, den Bogen gespannt, und ehe sie sich's versah – surr – hatte er abgeschossen, und sie hatte ihren Pfeil im Leibe.«

»Aber sie drangen nicht ein«, unterbrach ihn Freda. Sie hatte ihre Stellung nicht verändert; das Wort kam tonlos aus ihrem Munde.

»Sie drangen nicht ein«, fuhr Papa Nöhring fort, »es ist wahr, und sie schüttelte sie ab. Aber, siehst du, das wiederholte sich, immer und immerzu. Und sie konnte seiner nicht habhaft werden, so sehr sie's versuchte. Und darum wurde ihr die Geschichte lästig, und eines schönen Tages ging sie zur Königin und sagte: ›Gib mir das beste Pferd aus deinem Stall, ich will verreisen.‹ Eigentlich, siehst du, wollte sie ja gar nicht verreisen, sondern entfliehen; aber das sagte sie natürlich nicht, da hätte sie sich geschämt.

Und weil sie sich nun so große Verdienste erworben hatte, so erfüllte die Königin ihre Bitte und gab ihr das beste Pferd aus ihrem Stall; und da setzte sich die Amazone darauf und jagte davon, über Berg und Tal, immer Galopp, Galopp, damit ihr der abscheuliche kleine Kerl nicht nachkommen könnte.

Als sie nun so viele, viele hundert Meilen weit geritten war, hielt sie ihr Pferd endlich an und sah sich um, und, Gott sei gelobt! da war weit und breit nichts von dem kleinen Kerl mit seinem Bogen und seinen Pfeilen zu sehen.

Wie nun aber die arme Amazone die Arme ausbreitete und so recht aus tiefster Brust aufatmete, weil sie endlich den Verfolger los war – da, mit einemmal – piek – dringt von hinten wieder ein Stich in sie ein, gerade nach ihrem Herzen zu, und wie sie sich ganz entsetzt umsieht, springt etwas hinter ihr vom Pferde und kichert und lacht – und da ist es der wieder, der kleine, schändliche Kerl, der nichtsnutzige Junge, der sich hinter sie gesetzt hatte, so daß sie ihn nicht sehen konnte, und mit ihr geritten war, die vielen, vielen hundert Meilen weit, auf ihrem eigenen Pferde.«

Freda hatte sich allmählich aufgerichtet, während der Vater sprach. Jetzt glitt sie von seinem Knie und ging von ihm hinweg an das Fenster. Dort blieb sie stehen, gedankenvoll hinausblickend in den Garten, in dem es zu dunkeln begann.

»Na,« sagte Papa Nöhring nach einer Pause, »denkst du über mein Märchen nach?«

»Bei deinem Märchen«, gab sie zur Antwort, »ist mir ein andres eingefallen, das ich einmal irgendwo gelesen habe, und das ihm etwas ähnlich sieht, wenn's auch anders ist. Soll ich dir das auch erzählen?«

»Also schieß los!« sagte der Regierungsrat.

Sie kam vom Fenster zurück, setzte sich wieder, wie sie vorhin gesessen hatte, und nestelte sich mit langsamer Umarmung an seine Brust.

»Also – es war einmal ein Kalif,« begann sie, »und der hatte einen Wesir, der ihm lange, lange Jahre treu gedient hatte. Alle Morgen, im Vorzimmer des Kalifen, empfing der Wesir die Leute, die ein Anliegen an den Kalifen hatten, und dann ging er zu seinem Herrn und trug ihm alles vor.

Eines Morgens nun erschien unter den andern einer, den der Wesir noch nie gesehen hatte und der ihm ganz merkwürdig erschien. Er hätte kaum sagen können, ob es ein Mann oder eine Frau war. Es war eine lange Gestalt, in einem langen schwarzen Mantel, und das Gesicht war halb verhüllt.

Der stand nun in einer Ecke des Gemachs und rührte sich nicht, bis alle andern abgefertigt waren. Und wie nun die andern alle hinaus waren, wandte sich der Wesir an ihn und fragte: »Was hast du für eine Bitte?«

Da sagte der Unbekannte: »Ich habe keine Bitte, sondern eine Botschaft, und die sollst du deinem Herrn bestellen.«

»Also nenne deine Botschaft«, sagte der Wesir.

Darauf sprach der Unbekannte: »Sage deinem Herrn, daß ich morgen um diese Stunde wieder hier sein werde, und dann soll er sich fertig halten, denn dann muß er mit mir gehen.« Und wie er das gesagt hatte, war er plötzlich nicht mehr da, und doch hatte ihn der Wesier nicht zur Tür hinausgehen sehen.

Da wurde es dem Wesir schaurig zumute, und er ging eilends zu dem Kalifen und berichtete ihm, was sich eben begeben hatte.

Und als der Kalif das vernahm, wurde auch er beklommen in seinem Gemüt, und mit dem Wesir riet er hin und her, wer der Unbekannte gewesen sein möchte, und sie konnten es doch nicht ergründen.

Darauf sprach der Wesir: »Laß deinen schnellsten Hengst satteln, Herr, und reite davon, damit du morgen, wenn der Unbekannte kommt, tausend Meilen fern von hier bist.«

Und der Kalif tat, wie der Wesir ihm geraten hatte, und ließ seinen Hengst satteln, der so schnell lief, daß der Wind hinter ihm zurückblieb, und dessen Füße so leicht waren, daß, wenn er über ein Ährenfeld dahinjagte, die Ähren unter ihnen nicht knickten, und auf den setzte er sich und ritt davon, aus seinem Palast hinweg, aus seiner Stadt hinweg, ganz allein, daß niemand erführe, wohin er geritten war.

Er ritt den ganzen Tag und die ganze Nacht, und als der Morgen graute, war er tausend Meilen weit von seinem Palast, und da blieb der Hengst stehen, weil er nicht weiter konnte.

Da blickte der Kalif auf und sah, daß er am Rande der Wüste war. Und in der Wüste war ein Stein, und auf dem Stein saß einer in langem schwarzen Mantel, dessen Gesicht war halb verhüllt.

Und als das Roß des Kalifen anhielt, stand die Gestalt auf und trat heran und sprach: »Bist du gekommen? Ich war schon vor dir da.«

Und damit reckte sie die Hand nach ihm und senkte den Schleier – und da erkannte der Kalif den Unbekannten –«

Freda brach ab. Ein Schweigen entstand.

»Und wer war also der Unbekannte?« fragte der Regierungsrat.

Sie schmiegte das Gesicht an seine Wange.

»Das war der Tod«, sagte sie leise.

Er schwieg abermals und diesmal noch länger als vorhin.

»Das hast du gelesen?« fragte er dann, »und jetzt fällt es dir plötzlich ein?«

»Ja«, flüsterte sie, »bei dem Märchen, das du mir eben erzählt hast. Denn es mag ja sein, daß es Dinge gibt, denen man nicht entrinnt. Aber wenn sie uns erreichen – dann – ist es – der –«

Sie fühlte plötzlich seine Hand, die ihr den Mund verschloß, so daß sie nicht zu Ende sprechen konnte.

Sein Gesicht senkte sich auf ihr Haupt, und es war ihr, als würde das Haar auf ihrem Scheitel feucht.

Im Zimmer war es inzwischen völlig dunkel geworden, und in der Finsternis saßen die beiden Menschen, eng aneinandergedrückt, ohne Laut, beinahe ohne Regung.

Endlich, nach langer Zeit, richtete der alte Mann sich auf und erhob sich vom Stuhl. Ein Seufzer drang aus seiner Brust.

Ohne ein Wort zu sagen, ging er zur Tür, aber nicht nach dem Salon, wo Percival mit den beiden Wallnows saß, sondern nach dem Flur hinaus, um von dort in sein Zimmer zu gelangen.

Freda ließ ihn schweigend gewähren. Als er hinaus war, ging sie leise hinter ihm drein, die Treppe hinauf, in ihr Schlafzimmer. Lange aber duldete es sie dort nicht. Auf den Fußspitzen schlich sie an sein Zimmer, geräuschlos öffnete sie die Tür und lugte hinein.

Papa Nöhring saß an seinem Schreibtisch; die Lampe stand neben ihm; er hatte das Fach geöffnet, in welchem er das »Archiv« aufbewahrte; die Briefe, Telegramme und Manuskripte Schottenbauers lagen vor ihm.

Von der Seite konnte sie ihn betrachten; sie sah den Ausdruck liebevollen Kummers in seinem greisen Gesicht und konnte sich nicht entschließen, ihn zu stören.

Unhörbar, wie sie gekommen war, zog sie sich zurück. Eine halbe Stunde später klopfte sie an seine Tür.

»Ja, ja, nur herein!« rief er von innen.

Sie trat hinein und sah, wie er das Schubfach zuwarf und verschloß.

»Ich glaube,« sagte sie, »es wird Zeit, Papachen, für Benneckes.«

Mit einer straffen Bewegung stand er auf.

»Hast recht; Benneckes werden schon warten. Bist du fertig?«

Sie war fertig.

»Also wollen wir gehen.«

Trotzdem zögerte sie noch einen Augenblick.

»Na –,« fragte er, »was ist noch?«

Mit einer jähen Bewegung lag sie wieder an seiner Brust.

»Bist du böse auf mich?«

Er hielt ihr Gesicht mit beiden Händen umfaßt.

»Du Kind – wir Menschen sind Eintagsfliegen, verstehst du, denn der Augenblick gehört jedem, aber die Zukunft niemandem –«

Er drückte ihr die Wangen zusammen, so daß ihr Mund sich nach vorn spitzte, und auf die gespitzten Lippen küßte er sie.

»Die Zukunft lassen wir darum vorläufig in Ruhe – jetzt wollen wir dem Augenblick leben, das heißt, zu Benneckes gehen.«


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