Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Sechzehntes Kapitel

Mittwoch also, nachmittags um halb fünf, geschah der Einzug der Gäste im Hause Bennecke.

Wallnows waren schon da, als Nöhrings ankamen – alles war da, nur einer fehlte – Schottenbauer.

Die Stunde, zu der eingeladen worden, war vorüber; beinahe eine Viertelstunde mehr – man begann an die Fenster zu treten und hinauszuschauen.

»Er wird doch nicht die ganze Geschichte etwa vergessen haben?«

Plötzlich rasselte das Straßenpflaster vor dem Hause: eine Droschke fuhr vor; man merkte dem Rosselenker an, daß er durch eine besondere Gabe zur beschleunigten Fahrt angetrieben worden war.

Aus dem Innern des Wagens sprang ein kleiner vierschrötiger Mann, einen frisch gebügelten Zylinderhut auf dem Kopfe.

»Der Visitenzylinder«, stellte Freda Nöhring, die am Fenster stand, für sich fest.

Einen Augenblick darauf wurde die Tür aufgerissen; Schottenbauer erschien; er war erregt und erhitzt.

»Ich muß – um Verzeihung bitten« – er war ganz außer Atem – »ich mußte – im letzten Augenblick noch einen notwendigen Gang – zu meinem Direktor machen – das hat mich so aufgehalten –«

Er hatte die Wirte begrüßt, beinahe flüchtig, dann trat er auf Papa Nöhring zu.

»Herr Regierungsrat« – seine Augen strahlten – »Herr Regierungsrat – heute abend fahre ich nach Meiningen! «

»Der Meininger hat Ihr Stück angenommen?«

»Angenommen!« Das Wort war ein Jubelruf; mit ausgebreiteten Armen flog er auf den alten Herrn zu, umarmte und küßte ihn. Papa Nöhring leuchtete über das ganze Gesicht.

»Schottenbauer, das freut mich! Schottenbauer, das freut mich!«

Alles drängte heran, um Glück zu wünschen, ein allgemeines Durcheinander fragender, antwortender, staunender und zufriedener Stimmen, vom Kamin her das freudige Gebell der braunseidenen alten Diana, die von dem vergnüglichen Lärm geweckt worden war. – Indem alles sich zu einem Knäuel um Schottenbauer versammelte, hatte man nicht acht, wie zwei von der Gesellschaft abseits traten, wie Percival Nöhring Therese Wallnow an beiden Händen ergriff und ihr hastig, leise eine Frage zuflüsterte, auf die sie mit erglühenden Wangen und schwimmenden Augen »Ja« nickte.

»Und nun zu Tisch,« rief Herr Major Bennecke, »und vor allem Sekt! Sekt! Sekt!«

Noch bevor man aber seiner Aufforderung Folge leisten konnte, trat ein neues, unvorhergesehenes Hindernis ein.

»Einen Augenblick noch, Onkelchen,« rief Percival Nöhring, »nur einen Augenblick noch, wenn ich bitten darf!«

Den Arm mit zärtlicher Gewalt um Therese Wallnows liebliche Gestalt geschlungen, trat er vor den Vater.

»Papa,« sagte er, und sein hübsches Gesicht erschien doppelt hübsch in der Verlegenheit, die darüber flammte, »im ganzen Leben und auf der ganzen Welt würde sich keine bessere Stunde und kein besserer Ort finden – um – um dir zu sagen – kein besserer Ort, als hier das Haus von unsrer geliebten Tante Löckchen, und keine bessere Stunde als diese Ehrenstunde unsres Freundes – um – dir zu sagen – das heißt – um dich zu bitten –«

»Junge – ich falle um und bin hin!« kreischte Tante Löckchen.

Mit einem Schritte war Papa Nöhring auf ihn zu, mit beiden Armen umschlang er das junge Paar und riß es an seine Brust. »Junge – Percy – Junge –«, eine Flut von Küssen schauerte auf den Sohn und auf Therese Wallnows holdes Gesicht nieder.

»Aber was sagen denn Sie zu der ganzen Geschichte, Frau Wallnow?«

Mutter Wallnow näherte sich mit einer gewissen Feierlichkeit, umhalste auch ihrerseits Tochter und Sohn und reichte alsdann Herrn Regierungsrat Nöhring würdevoll die Hand. Der Überfall war gelungen, die Sache abgemacht; Percival Nöhring und Therese Wallnow waren verlobte Leute. Der erste Laut, der sich der verblüfften Umgebung entrang, war ein geradezu donnerndes Lachen, das von Herrn Major Bennecke kam.

»Junge, das ist wahrhaftig schade, daß aus dir kein Soldat geworden ist! Ein Ziethen wärst du geworden! ein Ziethen aus dem Busch!«

Er wollte sich vor ihn hinpflanzen und ihn mit weiteren Lobsprüchen bedenken, aber jetzt kam Tante Löckchen herangeschossen, schob ihren Herrn und Gemahl ohne weiteres beiseite und bemächtigte sich Percivals, den sie an beiden Händen ergriff.

»Siehst du, Junge – und daß du das bei mir, in meinem Hause, fertiggebracht hast – siehst du, Junge – dafür – da vergebe ich dir alle Nichtsnutzigkeiten, die du früher schon begangen hast und später noch begehen wirst!«

Die dicken Freudentränen liefen ihr über das Gesicht.

Percival beugte sich zu ihr nieder, indem er sie mit beiden Armen umschlang, und als er ihr auf diese Weise nicht genügend beikommen konnte, warf er sich auf die Knie vor ihr nieder, preßte sie an sich und herzte und küßte sie wie ein großer, guter, liebenswürdiger Junge.

»Nun aber endlich und wirklich zu Tisch!« kommandierte Herr Major a. D. Bennecke, indem er Frau Wallnows Arm in seinen raffte.

»Nöhring, alter Freund, du nimmst meine Frau, Schiller führt Fräulein Freda, und der Pirat, der – der Ziethen aus dem Busch – nimmt seine Jungfer Braut!« Er lachte, daß ihm der weiße Schnurrbart wackelte.

Schottenbauer sah sich um; er wußte kaum recht, wie ihm geschah. Unvermutet und plötzlich sah er sich in die innersten Angelegenheiten der Familie Nöhring hineingezogen; vor acht Tagen noch ein Wildfremder, stand er jetzt mitten in dem Hause wie ein Freund, beinahe wie ein Angehöriger des Hauses. Er suchte Freda mit den Augen – im Hintergrunde des Zimmers, ganz für sich allein, in einem Armstuhle, saß sie da. Er mußte mehrere Schritte tun, um zu ihr zu gelangen. Als er vor ihr stand und ihr den Arm bot, schaute sie auf – und er erschrak, indem er sie ansah.

Sie erschien ihm wie verwandelt. Eine fahle Blässe bedeckte ihre Züge; die sonst so kecken, spottlustigen Augen blickten stumpf; all die Kobolde, die in diesem Gesichte ihr Spiel trieben, ihr manchmal so übermütiges, beinahe schlimmes Spiel, waren wie weggeblasen und weggefegt; es sah aus, als hätte sich eine schwere, plumpe Hand auf dies Gesicht gelegt und die seinen, schönen Linien desselben zu einem grauen, trüben Gemisch zusammengedrückt.

Er vermochte kein Wort hervorzubringen; lautlos erhob auch sie sich und schob ihren Arm in den seinigen. Es schien ihr ganz gleichgültig, wer sie führte; mochte es Schottenbauer sein oder ein andrer – ganz einerlei – wie jemand, den nichts mehr freut und nichts mehr reizt.

Als er sie so gebrochen aufstehen und seinen Arm ergreifen sah, konnte er sich nicht enthalten, sie leise anzusprechen.

»Fehlt Ihnen etwas?«

Sie zuckte in seinem Arm; dann lachte sie auf.

»Wie soll mir denn etwas fehlen? Bei solch einem Freudenfeste?«

Ihr Lachen klang nicht gut. Er schwieg. Ganz verstand er sie nicht – nur das eine fühlte er, daß diese da keinen Trost brauchen konnte, der ihr von andern kam. Eine Natur, die aus sich selbst heraus glücklich sein mußte oder, wenn sie sich das nicht zu geben vermochte, an sich selbst zugrunde ging – unwillkürlich preßte er ihren Arm in den seinen – eine große Natur.

Bevor man sich zu Tisch setzte, entstand nochmals eine Zögerung. Es waren Plätze belegt worden, im letzten Augenblick aber warf Tante Löckchen alles wieder um, weil sie durchaus zwischen den beiden Helden des Tages, Percival und Schottenbauer, sitzen wollte. Danach mußten sich die andern einrichten. Endlich war auch das besorgt, endlich saß alles, und nun faßte Tante Löckchen Schottenbauer an der einen, Percival an der andern Hand.

»Zwischen einem gottbegnadeten Dichter auf der einen und einem Bräutigam auf der andern Seite – Kindchen, Kindchen, man weiß ja gar nicht mehr, wohin vor lauter Wonne!«

Die allgemeine Aufmerksamkeit lenkte sich jetzt wieder auf Schottenbauer, den man über Percival und Therese Wallnow für einen Augenblick beinahe vergessen hatte.

»Also heute noch soll es nach Meiningen gehen?«

»Ja.« – Er hatte vor kurzem eine telegraphische Depesche von dem Intendanten in Meiningen erhalten, daß morgen schon die Proben beginnen sollten, und daß ihn der Herzog dazu erwartete. Darum war er spornstreichs zu seinem Direktor gelaufen, um sich Urlaub auszuwirken für mehrere Tage.

Der Herzog selbst lud ihn zu den Proben ein – eine beinahe ehrfürchtige Stille trat ein.

»Haben Sie die Depesche bei sich?«

Natürlich hatte er sie bei sich; solche Dokumente legt man nicht aus der Hand. Aus der Brusttasche zog er das Telegramm hervor und zeigte es über den Tisch hin dem Regierungsrat.

Das Papier wanderte um die Tafel; jeder einzelne faßte es so behutsam an, als könnte es entzweigehen. Als es zu Schottenbauer zurückgekehrt war, streckte Papa Nöhring von neuem die Hand danach aus.

»Schottenbauer,« sagte er, »Sie haben mir das Manuskript von dem Stücke geschenkt – die Depesche da gehört zur Sache zu – schenken Sie mir die auch, dann leg' ich sie dazu, und beides kommt ins Hausarchiv.« Mit beiden Händen drückte ihm Schottenbauer das Telegramm in die Hand; dann hielt er die Hand in beiden Händen fest.

»Herr Regierungsrat« – sein Atem flog und sein Gesicht erglühte – »Herr Regierungsrat, die Depesche, und – und wenn Ihnen daran liegt – auch das Manuskript von dem andern Stück – alles – dann – ist alles in Ihren Händen, was ich habe – und – in Ihrem Hause ist dann mein Herz und meine Seele –«

Er war halb aufgesprungen; die Gedanken wirbelten ihm, daß er kaum wußte, was er sprach.

Papa Nöhring wollte etwas erwidern, kam aber nicht dazu, denn:

»Sekt! Sekt! Sekt!« brüllte jetzt Herr Major Bennecke mit einer Stimme, als müßte er eine feuernde Batterie übertönen. Im nächsten Augenblick war die Flasche in seiner Hand; wie eine Keule schwang er sie empor.

»Die Gläser her!«

Das schäumende Gold sprudelte in den Kelchen.

»Nöhring, alter Freund« – der weiße Schnurrbart wehte wie vom Sturmwind gepeitscht – »seit dreißig Jahren kennen wir uns jetzt – Nöhring, alter Freund, das gönn' ich dir, daß du solch einen Tag erlebst, hol mich der Teufel, das gönn' ich dir! Was ich dir immer gesagt habe von deinem Jungen, deinem Percival, daß das ein ganz famoser Bengel ist – siehst du, Nöhring, da hast du's nun, und ich habe recht behalten, und nun bringt er dir ein Töchterchen ins Haus, ein – ein – daß ich nur sagen kann: schade, daß ich schon verheiratet bin!«

»Taugenichts!« kreischte Tante Löckchen auf, indem sie die Serviette nach ihm warf, »alter Sünder und Lumpazivagabundus!«

»Unterbrechen Sie mich nicht, Madame,« sagte Herr Major a. D. Bennecke, »ich bin noch lange nicht zu Ende. Nein – ich habe noch viel zu sagen, Nöhring. Denn siehst du, daß in Deutschland ein neuer Schiller geboren wird, und daß er bei dir, in deinem Hause, in deiner Stube geboren wird – na hör' mal, Nöhring, alter Freund, da muß man sagen, du bist doch wirklich ein von Gott gesegneter Mann! Aber ich gönne es dir, Nöhring, denn ich kenne dich jetzt seit dreißig Jahren; und in den dreißig Jahren ist nicht ein Tag gewesen, wo ich nicht gesagt habe, es ist doch ein, Gentleman, mein alter Freund Nöhring, ein durch und durch anständiger, famoser Kerl, der alte Nöhring – und darum – will ich jetzt von dem nichts weiter sagen, was noch alles kommen könnte« – und er warf einen listig zwinkernden Blick nach der Richtung, wo Freda neben Schottenbauer saß – »wie gesagt – ich hätte darüber noch viel zu sagen, denn es ist noch lange nicht aller Tage Abend – aber – wie gesagt, davon will ich jetzt nichts sagen – sondern ich fordere Sie auf, meine Herrschaften – mein alter Freund Nöhring – und das ganze Haus Nöhring, mit allem, was dran und drum hängt und dran und drum hängen wird – es soll leben hoch! hoch! und nochmals hoch!«

»Nochmals und immer wieder hoch!« krähte Tante Löckchen mit ihrer feinen Stimme dazu, und »hoch, hoch, hoch!« donnerte Percival, obgleich der Toast seinem eigenen Hause und also auch ihm selbst gegolten hatte.

Ein wahrer Enthusiasmus bemächtigte sich der Gesellschaft; ein ganzer Himmel voll glückverheißender Zukunft hing über den Menschen, die schwatzend, lachend und trinkend um den Tisch geschart saßen.

Endlich griff Schottenbauer nach der Uhr.

»Ich muß fort«, sagte er, und er erhob sich vom Stuhle.

Eine augenblickliche Stille trat ein; alle fühlten, daß da ein Mensch einem großen unbekannten Schicksal entgegenging.

Er stand vor Papa Nöhring.

»Leben Sie wohl, Herr Regierungsrat!« – seine Augen waren feucht; er streckte ihm beide Hände hin.

»Schottenbauer,« sagte Papa Nöhring, »Sie nehmen ja Abschied wie fürs Leben?« Schottenbauer neigte das Haupt.

»Ich werde ja wohl wiederkommen.«

»Ja, das hoff' ich,« lachte Papa Nöhring, »das hoff ich sehr.«

»Wirklich? Wünschen Sie's?« In seinen Augen leuchtete es auf. Dann, um die Tischgesellschaft nicht zu stören, machte er eine rasche, allgemeine Verbeugung.

»Adieu, allerseits!«

»Und auf Wiedersehen! Und gut Glück auf den Weg!«

Alle Hände reckten sich nach ihm aus; er mußte sie alle drücken.

»Und hören Sie, Schottenbauer,« rief Herr Regierungsrat Nöhring, »telegraphieren Sie uns von Meiningen!«

»Ja, ja, telegraphieren!« wiederholte Tante Löckchen, indem sie in die Hände schlug.

»Und schreiben Sie uns aus Meiningen«, fuhr Papa Nöhring fort.

Schottenbauer hielt die Tür in der Hand und hörte lächelnd an, was alles von ihm verlangt wurde. Ihm gegenüber saß Freda Nöhring; er sah ihr gerade ins Gesicht. Sie hatte das Haupt erhoben und schaute zu ihm hinüber. In ihrem Antlitz regte sich kein Zug; ihre Augen blickten ganz starr; es war ein Ausdruck darin – eine öde Trostlosigkeit und zugleich ein dumpfes Drohen – ein Antlitz, daß man meinte, man sähe dem Schicksal ins Gesicht.

Unwillkürlich neigte er das Haupt gegen sie – sie rührte sich nicht. Er riß sich los und ging hinaus, und die ganze Nacht hindurch, während die Eisenbahn ihn der fremden Stadt und dem unbekannten Schicksal entgegentrug, stand dieses Antlitz vor seiner Seele, in das man wie in das Schicksal hineinsah.

Die ganze Nacht – und die Nacht, in die er hinausfuhr, war dieselbe, die hinter ihm in der Stadt zurückblieb, die er soeben verlassen hatte, und welche dort das Haus Nöhring umhüllte und in dem Hause Nöhring auf ein Weib herabsah, das sich schlaflos auf seinem Lager wälzte. Heute ließ Freda den Bärenkopf in Ruhe; heute bedurfte es der Dunkelheit nicht, um das Lächeln auf ihrem Gesicht verschwinden zu lassen; wie ein Stein war sie in ihr Bett gefallen und hatte die Augen geschlossen, um zu vergessen. Einen Augenblick hatte sie auch geglaubt, daß sie einschlafen und vergessen würde – gleich darauf aber waren alle Gedanken wieder da, und nun wußte sie, daß sie die ganze Nacht nicht wieder einschlafen würde. Es war ja das Bett, in dem sie immer gelegen, das Zimmer, das sie immer umgeben hatte – unwillkürlich aber tastete sie auf den Decken herum, als müßte sich das alles ganz anders anfühlen als bisher, als wäre ihr Zimmer nicht ihr Zimmer, das alte Haus nicht das Haus mehr, als wäre etwas geschehen, wodurch sich das alles verwandelt hätte – was denn nur? Was denn nur?

Wie man nach dem Tode eines geliebten Menschen das Gefühl hat, als könnte die Welt gar nicht so weitergehen wie bisher, als könnte man gar nicht weiterleben, wie man bisher gelebt hat, so war ihr zumute.

Aber es war ihr ja doch niemand gestorben?

Niemand? Niemand? Percival war tot – tot für sie und dahin!

Sitzend fuhr sie im Bett auf; beide Arme schlang sie um die hochgezogenen Knie, und indem sie das Gesicht in die Arme drückte, brach sie in Schluchzen aus.

Es war nicht das sanfte Weinen, mit welchem die Natur des Weibes sich von allzu schwerem Gram befreit, bittere Tränen waren es, wütende; und als der angespannte Rücken ihr ermüdete, sank sie zurück und wühlte das Gesicht ins Kopfkissen, und unter dumpfem Schluchzen biß sie ins Kopfkissen hinein. So hatte er sie verlassen! So war er ihr untreu geworden! So mit lachendem Munde, ohne sie zu fragen, ohne eine Ahnung von dem, was er ihr antat! So – so–so!

Alle gräßliche Qual der Eifersucht zerriß und zerschnitt ihr das Herz. Wenn er wirklich gestorben wäre – wäre es nicht beinahe besser gewesen als so? Dann hätten die andern mit ihr gejammert und geweint – jetzt mußte sie ihren Jammer noch dazu verstecken und verschweigen! Was hätte man denn gesagt, wenn man sie weinen sah, wo alles eitel Lust und Freude war? »Geh – schäme dich, du bist schlecht – oder gar, du bist verrückt!«

Vielleicht war sie ja wirklich verrückt; wenn jemand mit seinen Empfindungen so ganz aus der Reihe der andern heraustritt, ihnen so ganz entrückt steht – nun, so ist solche »Entrücktheit« in den Augen der vernünftigen Menschen eben »Verrücktheit« – was denn anders? Und das also wäre Wahnsinn, daß eine Schwester ihren Bruder liebte? Nein, nein, nein! Und noch dazu einen solchen Bruder! Jetzt, da er sich von ihrer Seite wandte, ging das ganze Leben noch einmal an ihr vorüber, das sie an seiner Seite gelebt. Jeder Tag war da und jede Stunde, jeder Gedanke und jede Hoffnung, dieses ganze jahre- und jahrzehntelang nur für ihn da sein, nur für ihn sorgen, trachten und tun.

Wie sie ihn vor sich sah mit dem kurzen Jäckchen, in Kniehöschen, den Schulranzen in der Hand, das Käppchen auf dem lockigen Haupte, als er noch als Schuljunge in die Schule ging!

Wenn er am Schlusse des Halbjahrs eine gute Zensur nach Hause brachte – dieser Jubel, dieser schmetternde, durchs ganze Haus! Und immer brachte er ja gute Zensuren nach Haus! Immer war er ja der Fleißigste, Klügste, Beste, Schönste, Geliebteste von allen, allen, allen!

Wenn er dann als Student während der Ferien nach Haus kam und mit dem Cerevis auf dem Kopf durch die Straßen der Stadt wandelte, der Stadt, wo es keine Universität gab und man nur selten einmal einen Studenten zu sehen bekam – wie alt und jung dann stehenblieb, groß und klein ihm nachschaute, wie die Mädchen an die Fenster gestürzt kamen: »Kinder, kommt rasch, da geht Nöhring! Percival Nöhring!« Wenn dann an solchen Tagen sie an seiner Seite ging, den Arm in seinen Arm gehängt, ihn sehend, ihn hörend, ihn fühlend in allernächster Nähe – wie sie sich an ihn preßte alsdann, wie sie an sich halten mußte mit Gewalt, daß sie nicht auf offener Straße die Arme um ihn schlang, nicht aufjubelte vor allen Menschen!

So hinzugehen mit ihm, die Straßen entlang, die Welt entlang, das Leben entlang – alle Tage so und immer, immerzu – nichts zu brauchen als das, nichts zu wollen als das – kein Gedanke im Herzen, daß das je anders werden könnte, jemals –

Und die Menschen, die ihnen begegneten – denen die Gesichter aufleuchteten, wenn sie das schöne, reizende Paar daherkommen sahen – ob sie auch nach ihr fragten? Gott weiß es, sie fragte nicht danach – was sie für Augen machten, wenn sie den Percy sahen, darauf kam es ihr an, das beobachtete, das belauerte sie. Und jedesmal drückte sie alsdann schweigend seinen Arm; sie hatte ja gelesen und verstanden, was die Augen der Menschen sagten: »Aus dem wird einmal was.«

»Aus dem wird einmal was«, das war der Orgelton gewesen, der ihr ganzes Leben durchhallt hatte, der Gedanke, mit dem sie abends einschlief und morgens aufstand, »aus dem Percy wird einmal was; ein genialer Mann, ein großer, ein berühmter, vor dem sie in Bewunderung dastehen werden, alle!«

Das war die Sonne gewesen, die am Himmel ihres Lebens stand, der Gedanke war ihr Mut und ihre Kraft.

Wenn sie merkte, daß sie den Leuten unliebenswürdig erschien, daß sie an ihr vorübergingen – pah – was fragte sie danach – auf den Percival sollt ihr sehen, ihn sollt ihr lieben und bewundern, an ihn sollt ihr glauben!

Und sie glaubten an ihn, und sie selbst – ob sie an ihn geglaubt hatte! Ob!

Und nun das heute! Das! Dieser Hagelschlag! An ein unbedeutendes elendes Geschöpf warf er sich fort! Von aller Zukunft nahm er Abschied, um in ein erbärmliches Ehejoch zu kriechen! Nun gab's ja keine Zukunft mehr für ihn! Die ganze Fülle von Hoffnungen und Erwartungen, die sie ein Leben lang aufgesammelt und aufgespeichert hatte – nun floß sie dahin wie ein Faß edlen Weins, das in den Sand fließt! Aus war nun alles und dahin! Aus, aus, aus – und das Kissen, auf dem ihr Haupt ruhte, wurde feucht von ihren strömenden Tränen. Ja – wenn Percival es gewesen wäre, dem heute die Depesche galt; wenn er es gewesen wäre, der heute abend nach Meiningen fuhr, um dort sein Stück aufführen zu lassen – unwillkürlich malte sie sich aus, wie das alles geworden sein würde, wie sie ihn mit dem Vater auf den Bahnhof begleitet, wie sie ihn noch einmal vor der Abfahrt auf Stirn und Augen geküßt haben würde: »Reise glücklich – werde groß!« – aber sie brach die Gedanken ab, die törichten, lügnerischen Gedanken, die ihren Jammer zur Verzweiflung steigerten – er war es ja eben nicht, dem das alles galt, sondern der andere!

Der andere – dieser Mensch – der wie ein Wegelagerer Percival überall den Weg ablief! Der neben ihrem Percy dastand wie ein plumper Weidenknorren neben einer schlanken Edeltanne – nur daß der Weidenknorren bis in die letzten Spitzen mit quellendem Safte gefüllt war und die Edeltanne mit trägem, schwerem Harz – nur daß der Weidenknorren überhaupt gar keine Weide war, sondern ein Fruchtbaum, dessen Äste schwer waren von hängenden Früchten!

Sie preßte die Hände zusammen und bäumte sich im Bett auf. Gegen wen? Gegen das Schicksal, das nichtswürdige, ungerechte Schicksal, das ihrem Percival alles versagte und diesem da alles in den Schoß warf!

Diese Mittagsstunde heute, die wie ein steinernes Erinnerungskreuz, das einen Unfall bezeichnet, nun für immer an ihrem Lebenswege stehen würde! Diese böse Stunde, die das niederträchtige Schicksal sich eigens für sie ausgedacht hatte, um ihr recht handgreiflich zu zeigen, wie verschiedene Bahnen nun das Leben der beiden wandeln würde, wie der eine sich, ein freier Adler, in die Lüfte schwang, großen, unbekannten Zielen zu, während der andere, einem zahmen Kanarienvogel gleich, hinter die Stäbe des Vogelbauers schlüpfte, zu Futternapf und Wassertrog, nicht mehr fragend nach dem Himmel und der Sonne, glücklich und zufrieden, weil er sein Kanarienweibchen auf der Käfigstange gefunden.

Dieser blutige Hohn, daß das so zusammentreffen mußte, so!

Aber ein Zusammentreffen? Ein Zusammentreffen war es ja gar nicht gewesen, sondern eins hatte sich aus dem andern ergeben. Wie hatte Percival gesagt, als er vor den Vater trat? »Keine bessere Stunde könnte er finden als diese Ehrenstunde seines Freundes« – also gerade weil der andere hinausging, ein berühmter Mann zu werden, schien ihm die Gelegenheit günstig, seinerseits allem Ruhm und aller Ehre zu entsagen, alle große Ungewißheit hinzugeben für eine erbärmliche kleinbürgerliche Gewißheit?

Wer also war es, von dem alles Unheil wieder ausging? Was tobte sie gegen das Schicksal? Was kämpfte sie mit der Luft, während der Feind leibhaftig körperlich vor ihr stand?

Er! Er! Und immer wieder Erl

Er, auf den sie alle mit zwinkernden Augen hinwiesen, als wollten sie sagen: »Du entgehst ihm doch nicht«; den sie von sich stieß, und der sich nicht fortstoßen ließ; der sich an sie hing mit aller Schwere seiner lechzenden Seele; dessen Augen zu ihr sprachen: »Komm doch zu mir, so will ich dir Ersatz schaffen für alles, was du verlierst!«

»Du mir Ersatz schaffen? Du – mir?!«

Sie sprach es unwillkürlich laut vor sich hin; ihre Arme fuhren unter der Decke hervor und stießen in die dunkle Luft, als hätte er sich über sie gebeugt, und als wollte sie ihn vertreiben.

»Du mir Ersatz geben? Womit? Mit deinem Können vielleicht und deinem Geist? Daß du ein Dichter bist und ein berühmter Mann werden wirst, das soll mich trösten dafür, daß Percy es nicht ist und nicht werden wird?«

Und plötzlich streckte sie sich wieder lang im Bett aus. Der ringende Leib wurde starr. Wenn es denn also Schicksalsschluß war, daß sie Percival verlieren und diesem da anheimfallen mußte – nun denn – so laßt uns überlegen, wie er mir's bezahlen soll, alles, was ich durch ihn verliere.

Ein Fruchtbaum also war er, ein saftquellender? Hatte sie nicht als Kind mit angesehen, wie die Knaben Birkenbäume anschnitten, den Mund an die aufgeschlitzte Rinde legten und den Saft aus den Bäumen sogen?

Wenn man ihn anbohren könnte, den kraftstrotzenden Baum, bis daß er welk würde und matt und schwach und schwächer noch als der andere.

Ah – ein tiefer Atemzug hob ihre Brust –, es gab also doch noch einen Weg in diesem zur Wüste gewordenen Leben; schwer sank ihr Haupt in die Kissen zurück, und tief und schwer schlief sie ein.


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