Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Einundzwanzigstes Kapitel

Acht Tage lang blieb Schottenbauer unsichtbar. Man sah und hörte nichts von ihm im Nöhringschen Hause.

Wahrscheinlich saß er über den Akten, die ihm der Gerichtsdirektor zudiktiert hatte.

Am Ende der Woche machte der Regierungsrat Nöhring seinen gewohnten Nachmittagsspaziergang, und als er gegen Abend zurückkam, zeigte er ein bekümmertes Gesicht.

Er wollte anfangs nicht mit der Sprache heraus – endlich erfuhr man, was ihm begegnet war.

Weit draußen vor der Stadt, in dem hochstämmigen Kiefernwald, den er mit Vorliebe aufzusuchen pflegte, hatte er Schottenbauer getroffen, der einsam durch die Heide streifte. Er hatte ihn angerufen, weil es ihm wirklich erschienen war, als ob er ihm ausweichen wollte; daraufhin war jener herangekommen, und nun hatte der Regierungsrat bemerkt, daß er blaß und verstört aussah.

»Ist Ihnen was Unangenehmes passiert?« hatte er gefragt.

Schottenbauer hatte geschwiegen, dann hatte er kummervoll genickt.

»Ich habe heute nachmittag eine recht häßliche Nachricht bekommen.«

»Was denn?«

Wieder war eine Pause entstanden.

»In Meiningen wird mein Stück nicht wieder gespielt werden.« Der Regierungsrat war ganz erschrocken.

»Aber ich denke, es war alles abgemacht?«

»Ja natürlich; ganz zuverlässig war es mir versprochen worden, und ich hatte mich so namenlos darauf gefreut, wieder dazu hinzureisen – und nun ist's alles nichts.«

»Na, lassen Sie nur den Kopf nicht hängen!« hatte der Regierungsrat getröstet; »wenn die Meininger mit Ihrem Stück reisen, ist alles wieder gut.«

Schottenbauer war wie in Verzweiflung stehengeblieben.

»Aber das tun sie ja nicht! Sie reisen nicht mit meinem Stück!«

Nun war auch der alte Nöhring kleinlaut geworden.

»Aber – wie kommt denn das alles nur?«

»Weiß ich's?«

Schottenbauer hatte es laut herausgerufen.

»Die Dispositionen des Reiserepertoires haben sich geändert, so schreibt mir der Intendanzrat, und darum geht es nicht mit meinem Stück!«

Lautlos war er neben dem Regierungsrat einhergegangen. In seiner Seele wühlte der erste Schmerz, den ihm das schöne Ungeheuer mit den falschen Augen, das Theater, angetan hatte.

»Sehen Sie, als ich Ihnen den Abend aus Meiningen schrieb – Sie werden's ja wohl gefühlt haben, wie mir das Herz von Liebe zu den Menschen überschwoll und überquoll! Totschlagen hätte ich mich lassen für diesen Herzog und seine Leute! Die Tage im Kalender habe ich gezählt, bis es wieder so weit sein würde – und nun von diesen Menschen, die ich so himmelhoch über alle andern Menschen stellte, diese – diese Treulosigkeit! Dieser Wortbruch!«

Sie waren bis an die Stadt herangekommen, Schottenbauer hatte die Hand seines Begleiters erfaßt und hastig gedrückt.

»Leben Sie wohl für heute, Herr Regierungsrat!«

»Aber Sie kommen doch bald und lassen sich bei uns sehen?«

»Ja, sobald ich kann, sobald ich kann.« Damit hatten sie sich getrennt. Der Regierungsrat war traurig nach Haus zurückgekehrt, und hier hatte er nun sein Erlebnis zum besten gegeben.

Mit teilnahmsvollem Bedauern hatten Mutter Wallnow und Therese dem Berichte gelauscht – am nächsten Tage war die Geschichte in der Stadt herum.

Es war alles ganz übertrieben gewesen, es war alles gar nicht wahr.

Das Stück hatte in Meiningen nur einen ganz mäßigen Erfolg gehabt, darum war es einmal gespielt worden und dann nicht wieder; die Meiniger würden nicht mit dem Stück reisen – das Stück war eigentlich durchgefallen. In dieser freundlichen Steigerung wurde der Vorgang in der Stadt besprochen.

Es hatten sich bereits zwei Parteien gebildet, die Schottenbauerianer und die Antischottenbauerianer. Jene ließen die Ohren hängen, diese triumphierten.

Am Biertisch saß der Gardereferendar mit blitzendem Monokel und sandte verächtlich überlegene Blicke umher. Der Philosoph vom Gymnasium forderte seine Kollegen auf, ihm zu bezeugen, daß er der einzige gewesen sei, der sich von dem Schwindel nicht hatte betölpeln lassen. Sein Gesicht zeigte jetzt wieder den Ausdruck von Gelassenheit, der ihm für gewöhnlich zu eigen war; das literarische Gleichgewicht war wiederhergestellt, das Strohfeuer verpufft. Er zog den Tischkasten auf, in dem seine Dramenmanuskripte lagen, und musterte sie mit wohlwollendem Blick. »Verständige Menschen lassen ihre Werke ausreifen – Toren bringen sie auf den Markt, wenn sie noch grün sind, und dann verderben sie andern den Magen damit und schließlich sich selbst.«

Der Gedanke gefiel ihm so gut, daß er ihn in Gestalt eines Distichons mit der Überschrift »Schottenbauer« seinem Tagebuch einverleibte:

»Schüttle den Baum nicht zu früh, du schüttelst dir saure Früchte – Warte, bis er im Herbst selbst seine Früchte dir gewährt.« Inzwischen saß der, welchem all dieses Wohlmeinen galt, einsam auf seiner Stube am Wasser und kaute an seinem Gram.

Erfolg erwarten, wenn auch vergeblich, ist ein Krankheitszustand, an den man sich allmählich gewöhnt – Erfolg genießen und dann wieder verlieren, ist ein Schlag, der plötzlich in die Nerven trifft.

Das machte Schottenbauer an sich durch.

Mochte er sich, wenn er einsam hinter seinem Tisch saß, wenn er bei der neuen Arbeit, die er vorgenommen hatte, die Kraft seines Könnens empfand, stolz über Ärger und getäuschte Hoffnung hinwegsetzen – das alles half nichts dagegen, daß, sobald er auf die Straße trat, die Blicke der Begegnenden sich auf ihn richteten, teils mit kummervoller Teilnahme, die beschämt, teils mit verhohlener oder unverhohlener Schadenfreude, die verletzt.

Man kann an solchen Blicken vorübersehen – natürlich – aber man fühlt trotzdem, daß sie da sind.

Man fühlt es, und daß man es fühlt, das ist das Gefährliche und Schlimme, das den Menschen bedroht, der in der Öffentlichkeit steht. Sein Inneres gehört ihm nicht mehr ausschließlich an, fremde Augen spähen darin umher. Dadurch entsteht ein Zustand fortwährender Suggestion, der von der umgebenden Welt auf solche Menschen ausgeübt wird, und daher, daß diejenigen, welche verborgen in der Masse leben, diesen Zustand nicht nachempfinden können, entstehen die falschen und gehässigen Beurteilungen, denen die Leute der Öffentlichkeit von seiten der andern so häufig ausgesetzt sind.

Zu all dieser kleinlichen, widrigen Pein, die ihn aufregte und nervös machte, weil er sie als etwas Unwürdiges empfand und doch nicht ganz von sich zu stoßen vermochte, gesellte sich der Gedanke, wie denn sie zu dem allem dachte und fühlte, sie, an der seine Gedanken und Sinne hingen, Freda Nöhring?

Immer wieder stand der Augenblick vor seiner Seele, als er damals von der Ablehnung seines Stücks durch das Königliche Schauspielhaus erzählt und dabei wahrgenommen hatte, wie sie sich darüber freute. Sie hatte sich gefreut – jetzt, da sein Auge durch die scharfe Brille des Pessimismus blickte, konnte er es sich nicht verhehlen.

Was also würde sie jetzt tun? Natürlich erst recht sich freuen.

Das war es gewesen, warum er in diesen Tagen nicht zu Nöhrings gekommen war. Er würde die spottenden Augen und den höhnisch zuckenden Mund jetzt nicht ertragen haben. Sein Zusammenkommen mit ihr bedeutete ja jedesmal einen Kampf, wie den zwischen dem Knaben und der wilden Rose auf der Heide, einen Kampf, bei dem er sie im Geist umarmte und sie ihn mit ihren Dornen stach. Wenn Glück und Stolz ihm die Brust umpanzerten, war es ihm eine Wonne, ihre Stacheln zu empfinden – jetzt würden sie ihm ins Herz und ins Leben gedrungen sein.

Er schüttelte das Haupt – unbegreifliche Macht, die den Menschen in die Gewalt des Menschen gibt!

Fühlte er denn nicht, daß dieses Weib ihn nicht liebte? Freilich fühlte er's, und im Zimmer nebenan hing ja der Spiegel, der ihm deutlich genug sagte, warum sie es nicht tat, warum sie es nicht konnte. Und dabei diese Allgewalt, die ihn zu ihr hinzog.

Jeder Gedanke an sie war eine stürmende Welle in seinem Blut. Gerade dieses Widerstreben, diese wilde Herbheit, diese unbändige Keuschheit, das alles war es ja, was ihr den Duft verlieh, der ihn berauschte. Der Gedanke, daß sein Geist dennoch als Sieger einziehen würde in diesen Eispalast der Jungfräulichkeit, er war es ja, der ihn mit immer erneuter Wonne in den Kampf trieb, der alle schaffende Kraft in ihm verdoppelte und verdreifachte.

Und jetzt zu ihr gehen? Nachdem er vor ihren lauschenden Ohren erklärt hatte, daß die Literaturgeschichte nicht mehr an seinem Namen vorbeigehen könnte, und nachdem er gleich darauf diese Niederlage erlitten hatte? Jetzt vor ihr stehen mit gesenktem Haupt? Nein, nein, nein – alles, was gekränkter Stolz, beleidigte Eitelkeit heißt, bäumte sich in ihm auf – unmöglich! unmöglich!

Und als er so, von finsteren Gedanken umflutet, auf den Stuhl gesunken war und brütend vor seinem Tische saß, klopfte es an die Tür. Der Briefträger stand draußen, mit einem Briefe in der Hand »an Herrn Schottenbauer, dramatischen Dichter«: – »Sind Sie das, Herr Referendar?«

Er war es und nahm ihm das Schreiben ab.

Als der Postbote die Treppe hinunterstieg, vernahm er aus dem Zimmer, dessen Tür er hinter sich geschlossen hatte, einen lauten Schrei.

Schottenbauer hatte das Kuvert aufgerissen und das Schreiben gelesen und, nachdem er es getan, in lauter Freude aufgejauchzt. Er fühlte, daß er auf dem Ozean des Lebens war, wo eine Welle in die Tiefe und die nächste an den Himmel trägt; Menschen und Dinge um ihn her hatten plötzlich wieder ein anderes Gesicht angenommen; er griff zum Hut und warf den Mantel um, weil es ihn im Zimmer nicht mehr duldete, weil er hinaus mußte in die Welt, in die neugeschenkte, große, herrliche Welt.


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