Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Zweites Kapitel

In dem Raum, welcher durch die zwei Stühle als Bühne abgegrenzt wurde, standen die vier Darsteller, wie es schien, zur Schlußgruppe vereinigt. Die Probe neigte sich dem Ende zu, und das war gut, denn die Dämmerung war so tief hereingebrochen, daß beinahe Dunkelheit herrschte. Lampen hatte man noch nicht angezündet; die Dame, welche das Soufflierbuch handhabte, lehnte sich in ihren Stuhl zurück; lesen konnte sie nicht mehr. Sie saß zur Seite eines kleinen Tisches, auf einem der beiden Stühle, nach der Zuschauerseite hin.

Es wäre nicht leicht gewesen, zu beschreiben, wie sie aussah; ihre von einem dunkelfarbigen Kleide umschlossene Gestalt vermengte sich mit dem grauen Dämmerlichte, das sie umgab.

Soviel man indessen noch zu erkennen vermochte, war sie hochgewachsen und schlank. Aus dem weißen Spitzenkragen, der den Hals umgab und in breiten Kanten auf die Schultern niederging, wuchs ein Nacken hervor, schlank und gerade aufsteigend, von rebellischen blonden Nackenhaaren umkraust, wie ein aufschießender Pfeil, den das Gefieder umwallt. Und dieses Aufschießende, dieses jugendlich Hagere und Magere, beinahe Eckige war in dem ganzen Körper; es verbreitete sich wie ein herber Duft über die feinen Glieder und atmete aus dem Gesicht, das im letzten Tagesschimmer auffallend bleich erschien, von dichten dunkelblonden Augenbrauen und Augenwimpern beschattet. Die Darsteller standen, wie gesagt, in einer Gruppe vereinigt; Herr Rechtsanwalt Feßler etwas im Hintergrund der Bühne, Fräulein Nanettchen, die kugelrunde, kleine Klavierlehrerin, auf den Fußspitzen erhoben, beide Hände, wie segnend, über dem Paare ausgebreitet, das ganz vorn in theatralischer Umarmung stand, über Herrn Percival Nöhring und seiner Partnerin, Fräulein Therese Wallnow. Die soufflierende Dame schien gleichzeitig die Regie zu führen, denn ihre Augen hingen mit schweigenden Blicken, wie prüfend, an der Gruppe, insbesondere an dem Liebhaberpaar im Vordergrund.

Fräulein Nanettchen wurde ihrer segenspendenden Haltung müde.

»Aber Freda,« rief sie, aus der Rolle fallend, »wie lange soll ich denn hier stehen? die Arme sterben mir ja ab!«

»Vorhang – Schluß!« rief jetzt auch Herr Rechtsanwalt Feßler, und »Vorhang – Schluß!« wiederholte Percival Nöhring.

Freda Nöhring griff nach der Klingel, die auf dem Tischchen neben ihr stand, und setzte sie in Bewegung. Dann erhob sie sich, zum Zeichen, daß die Probe beendet sei.

»Schluß, und Bravo! Bravo! Bravo!« rief jetzt Tante Löckchen, die mitten im Zuschauerraum auf einsamem Sessel thronte. »Kinderchen, es geht ja schon famos, und es wird reizend werden, ganz reizend!«

Ihre weißen, kleinen, runden Hände patschten ineinander, und plötzlich, wie ein Echo ihres Klatschens, kam aus dem hinteren, ganz dunklen Teile des Zimmers ein kraftvolles Applaudieren von Männerhänden und ein »Bravo! Bravo! Ausgezeichnet!« aus Männerkehlen.

Herr Major a. D. Bennecke und Papa Nöhring, die ihren gemeinschaftlichen Nachmittagsspaziergang gemacht hatten, waren geräuschlos eingetreten und, vom Dunkel verborgen, dem Spiele als Zuschauer gefolgt. Jetzt schritten sie nach vorn; die Künstler kamen ihnen von der Bühne entgegen; alles sammelte sich zu einer plaudernden, lachenden, summenden Gruppe um Tante Löckchen, die auf ihrem Sessel inmitten des Zimmers saß.

»Kinderchen, aber jetzt etwas zu essen«, erklärte sie, indem sie sich mit einem Stoße erhob, und hinter ihr drein begab sich die ganze Gesellschaft in das nebenan gelegene Speisezimmer.

Hier war die große Hängelampe bereits angezündet; unter der Hängelampe stand der Tisch mit einem reichlichen kalten Abendessen angerichtet; hier war es hell, hier war es warm und gemütlich, hier war es, wie es eben nur bei Tante Löckchen sein konnte.

Alle Gesichter leuchteten förmlich auf, selbst über Freda Nöhrings strenge, beinahe finstere Züge, die man jetzt erst deutlich zu erkennen vermochte, ging ein Lächeln. Vielleicht aber kam dieses Lächeln nicht daher allein, daß sie sich behaglich fühlte, sondern weil sie ihren Bruder ansah, der, wie es schien, auch jetzt noch in der Rolle war, indem er den Arm noch immer um Therese Wallnow geschlungen hielt.

»Aber Percy – Junge –« sagte sie, indem sie die großen blauen Augen auf ihn richtete, »du vergißt wohl ganz, daß das Theater zu Ende ist? Jetzt ist Fräulein Wallnow wieder Fräulein Wallnow und nicht mehr Alice Forster« – so hieß die Figur des Lustspiels, die Therese Wallnow soeben dargestellt hatte.

Alles lachte. Therese Wallnow errötete ein wenig; Percival Nöhring ließ sie aus seinem Arme und machte ein Verbeugung gegen seine Schwester.

»Zu Befehl, Herr Regisseur«, sagte er; dann wandte er sich zu Tante Löckchen.

»Tantchen, was bekomme ich für meinen Eifer? Du siehst, wie ich in meiner Aufgabe lebe und webe!«

Tante Löckchen funkelte mit ihren Äuglein zu ihm empor.

»Auch noch was bekommen, du Taugenichts, für all deine Lumpazivagabunderei?«

Sie faßte ihn an beiden Ohren, zog seinen braunen Kopf zu sich herab und küßte ihn mitten in die Locken. »Da hast du's,« sagte sie, »Schlingel!« Ein allgemeiner Jubel brach aus; das runde Fräulein Nanettchen war nahe daran, sich vor Begeisterung in Percivals Arme zu rollen und ihm schlankweg einen Kuß zu geben; Fredas Augen ruhten auf dem Bruder, ganz weit, ganz groß, mit dem stillen Glanze stolzer innerer Glückseligkeit. Wie hübsch der Junge ausgesehen hatte, als Tante Löckchen seinen Kopf zu sich herabzog! Wie ritterlich er ihr die Hand geküßt hatte! Wie er jetzt dastand, so liebenswürdig, so der Mittelpunkt aller Augen und aller Gedanken, so wirklich wie ein genialer Mensch, der alles tun darf, weil alles ihm steht – es war eben der Percival, der Percy, ihr Percy, ihr Heißsporn, ihrer, und keines andern, und kein andrer neben ihm!

Papa Nöhring legte den Arm um ihre Schultern.

»Na, Freda, hat unser Junge seine Sache gut gemacht?«

Sie standen beide vor Percival; Freda faßte ihn mit beiden Händen an der flatternden Krawatte und strich und zupfte sie zu malerischer Wirkung zurecht. Indem sie ihn dabei mit leuchtenden Blicken anschaute, sah es aus, wie wenn jemand einen jungen Hengst am Halfter festhält, den er darauf ansieht, was künftig einmal aus ihm werden wird.

»Die Aufgabe,« sagte sie, »die er heute zu absolvieren hat, das ist keine Aufgabe; ich denke, er wird einmal andere vollbringen.«

»Was denn für andere?« fragte Percival, gutmütig lächelnd.

Die Schwester ließ seine Krawatte los und gab ihm mit der flachen Hand einen Schlag auf die Schulter.

»Größere«, erwiderte sie kurz und bestimmt.

Inzwischen hatte man sich an der gastlichen Tafel niedergelassen; Papa Nöhring setzte sich neben seine Tochter.

»Und deine übrigen Akteurs?« fragte er, indem er sich ein Stück kalten Lachs mit Remouladensoße auf den Teller häufte. »Bist du mit ihnen zufrieden?«

Es war, als wenn der helle Glanz, der eben noch von Fredas Stirn und Wangen geleuchtet hatte, mit einer grauen Hand fortgewischt worden wäre. »Ach, die« – gab sie achselzuckend zur Antwort. Ihre Augen blickten gleichgültig und kalt, und ihre Züge nahmen einen beinahe wegwerfenden Ausdruck an.

Die Gesellschaft aber war zu sehr mit Essen, Trinken und Lustigsein beschäftigt, als daß sie den Wechsel in Fredas Gesicht und Stimmung hätte bemerken sollen. Die Speisen verschwanden, die Gläser wurden leer und wieder voll; ein Klappern von Tellern, Messern und Gabeln, ein immer lauteres, vergnügteres Durcheinander von Stimmen – plötzlich sprang Percival Nöhring vom Stuhle auf und schlug klirrend ans Glas.

»Meine Damen und Herren« – dann schwieg er.

Sobald Freda den Bruder hatte aufspringen sehen, war der gleichgültige Ausdruck von ihrem Gesicht verschwunden und eine gespannte Aufmerksamkeit dahin zurückgekehrt.

Als er jetzt schwieg, wurde sie ganz blaß. »Um Gottes willen – der Junge bleibt stecken mit seinem Toaste und blamiert sich!« Sie klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne; trotz des lächerlich unbedeutenden Anlasses schlug ihr das Herz.

Ihre Besorgnis aber war unnötig gewesen; Percival hatte nicht gestockt, sich vielmehr nur besonnen; die dichterische Ader in ihm war flüssig geworden; nicht in Prosa, sondern in improvisierten Versen wollte er seinen Toast ausbringen. Mit der Klangfülle des Tons, mit welcher er begonnen und das »Meine Damen und Herren« hervorgebracht hatte, schoß er jetzt los:

»Zu Schinken und Braten,
Kompott und Salaten,
Zu Eiern und Würsten
Und Lachsremouladen,
Zu würdigen Taten,
Die heut sie mit Käthen, der Köchin –
ihr kennt sie –
Frühmorgens beraten.
Hat heut Tante Löckchen
Mit klingenden Glöckchen
Uns wieder geladen.
Sie füllt uns den Humpen,
Damit wir nicht dürsten,
Nun sind wir gar fröhlich
Und springen wie Böckchen
Über Steine und Stöckchen.

So laßt euch nicht lumpen,
Ergreift eure Humpen –
Doch macht kein Geplemper –
Die Freud' uns gegeben,
Tante Löckchen soll leben
Fideliter semper!«

»Fideliter semper!« – Ein wändeerschütternder Jubel brach aus; alles sprang auf, um mit Tante Löckchen anzustoßen. Sogar die alte Diana mit dem braunseidenen Fell und dem sanftmütigen Augenaufschlag, die schläfrig blinzelnd vor dem Kamin gelegen hatte, erhob sich und mischte sich mit vergnüglichem Bellen in den jauchzenden Lärm. »Fideliter semper – fideliter semper.« Tante Löckchen saß strahlend auf ihrem Platz, während das Wort, wie ein Widerhall des immer wiederholten Gläserklangs, um sie her sauste und brauste. Dann schlug sie auch ihrerseits an das Glas. Allgemeines Schweigen trat ein.

»Ich trinke mein Glas«, sprach sie, »auf die Künstler des Hauses Bennecke, die heute solch famose Probe von ihrem Können abgelegt haben – vor allem aber« – und sie funkelte wieder mit den Äuglein zu Percival empor, der noch aufgerichtet am Tische stand – »auf unsern Dichter!«

Der kaum beschwichtigte Freudentumult brach von neuem aus; alles drängte jetzt, die Gläser in den Händen, auf Percival Nöhring zu. »Der Dichter! Unser Dichter!« hieß es, während die Gläser an seines klangen. Mit sonorer Stimme übertönte Herr Major a. D. Bennecke den Lärm.

»Unser Dichter von Gottes Gnaden,« erklärte er mit lautem, beinahe feierlichem Tone, »er soll leben – semper!« »Soll leben – semper! semper!« erscholl es lachend und jubelnd zurück. Percival Nöhring stand da, bis über die Ohren errötend vor Vergnügen und geschmeichelter Eitelkeit. »Aber Onkelchen,« wandte er lächelnd ein, mit einem Tone, wie jemand Komplimente ablehnt, die ihm zwar etwas weitgehend, aber doch nicht ganz unberechtigt erscheinen, – »Onkelchen, nur nicht die jungen Pferde scheu machen!« Major Bennecke aber hielt ihn an der Schulter gefaßt. »Junge,« sagte er, »dein Toast war das Entzückendste, was ich lange gehört habe, den mußt du mir nachher aufschreiben.«

»Aufschreiben!« erklärte Tante Löckchen, indem sie mit dem Glase auf den Tisch stieß, und »Aufschreiben! Aufschreiben!« wiederholte die ganze Gesellschaft.

»Wenn er's nicht tut, tue ich's,« rief Fräulein Nanettchen, die Klavierlehrerin, »ich habe ihn gleich auswendig behalten und glaube, ich könnte ihn hersagen von Anfang bis zu Ende!«

Sie fing auch wirklich sofort an:

»Zu Schinken und Braten,
Kompott und Salaten,
Zu Eiern und Würsten –«

hier stockte sie. »Und Lachsremouladen«, half Freda ein. Alles wandte sich lachend nach ihr um. »Natürlich,« erklärte Tante Löckchen, »wenn ihr Percy etwas spricht, dann kann sie aufpassen, die Freda!«

Sie war vom Stuhle aufgestanden und zu Freda hingegangen. Mit beiden Armen umfing sie ihren Kopf und küßte ihr bleiches, jetzt ganz von Glück strahlendes, von der Freude verschöntes Gesicht.

»Gott – Kindchen, Kindchen, Kindchen!« sagte sie voller Zärtlichkeit.

Alles hatte sich erhoben, und man begab sich in den Saal zurück, wo vorhin die Probe stattgefunden hatte, und wo die beiden Stühle, welche die Bühne abgrenzten, noch an ihrer Stelle standen. »Junge,« wandte sich Tante Löckchen zu Percival, »nun mal rauf auf die Bühne und deklamiere uns etwas.« Ohne sich lange bitten zu lassen, ging Percival hinaus, und als die übrigen im Zuschauerraume Platz genommen hatten, erschien er wieder, den breiten schwarzen Schlapphut auf dem Kopfe, eine dunkle Tischdecke in malerischen Falten um die Schultern geworfen. So trat er hinter die beiden Stühle und blieb einige Zeit gesenkten Hauptes stehen, als wollte er den Zuschauern Zeit lassen, seine Erscheinung zu bewundern.

Und in der Tat, er sah wunderhübsch aus, wahrhaft romantisch.

Dann legte er das Gesicht in finstere Falten und mit einer Stimme, die aus dem Grabe hervorzutönen schien, begann er Hamlets »Sein oder Nichtsein« zu rezitieren. Während er den Monolog sprach, setzte er abwechselnd den rechten und dann wieder den linken Fuß nach vorn; dazu machte er gestikulierende Bewegungen mit den Händen.

Freda hatte sich ganz hinten im Zimmer niedergesetzt, und während sie den Bruder mit den Augen verfolgte, lauschte sie auf die Kundgebungen der Zuhörer. Sie tat es mit einiger Sorge, denn sie konnte sich nicht verhehlen, daß sein Sprechen und seine Bewegungen ganz dilettantenhaft waren. Sie fürchtete, daß die andern ebenso empfinden würden.

Ihre Sorge war aber wieder unnötig gewesen, denn sobald Percival geendigt hatte, brach ein allgemeines Bravoklatschen aus. »Vortrefflich, wirklich ganz vortrefflich!« rief Herr Major Bennecke laut, und »Wunderschön!« erklärten Tante Löckchen und die übrigen.

Stumm lächelnd blickte sie vor sich hin; sie wußte nicht recht, ob sie sich freuen sollte oder nicht.

Von seinem Erfolg begeistert, warf Percival Nöhring jetzt den Schlapphut und die Tischdecke ab, reckte sich hoch auf, machte eine Verbeugung gegen die Zuhörer und begann mit dröhnender Stimme und rollendem Zungen-R die »Kraniche des Ibykus« zu deklamieren.

Nachdem er auch für diese Leistung eine rauschende Beifallssalve geerntet hatte, fügte er noch Goethes »Füllest wieder Busch und Tal« hinzu und ließ endlich noch Lenaus »Drei Zigeuner fand ich einmal« folgen. Nun hatte er genug, und die Zuhörer waren ebenfalls befriedigt. Tante Löckchen zog ihr weißes Taschentüchlein hervor und trocknete ihm die erhitzte Stirn.

»Wie du das alles auswendig weißt«, sagte sie bewundernd.

»Und diese Vielseitigkeit!« fügte Fräulein Nanettchen hinzu, indem sie den Gefeierten an beiden Händen ergriff, »diese Modulation im Ton! diese Nuancen!« Jeder bemühte sich, eine Huldigung zu finden und ihm zu Füßen zu legen; die einzige, die sich schweigend verhielt, war Freda. Das sonderbare zwiespältige Gefühl von vorhin wollte nicht von ihr weichen: während sie sich sagte, daß all sein Deklamieren nicht mehr als mittelmäßig gewesen war, schwoll ihr das Herz in stummer Wonne, als sie ihn so von allen Seiten umdrängt und umschmeichelt sah.

»Jetzt aber was zu trinken und zu rauchen«, gebot Herr Major Bennecke. Bierflaschen wurden aufgesetzt und Zigarren angeboten, und während die blauen Dampfwolken sich im Zimmer ausbreiteten, nahm alles zu erneuter Gemütlichkeit um den runden Tisch im Salon Platz.

»Aber jetzt«, sagte Tante Löckchen, indem sie Percival, der sein erstes Glas in einem Zuge hinuntergestürzt hatte, von neuem einschenkte, »mußt du mir noch einen Gefallen tun, Junge. Einen Prolog brauch' ich, den mußt du mir schreiben.«

Percival schob den Stuhl, auf dem er saß, mit einem Ruck zurück.

»Einen Prolog?« rief er, »Tantchen, du fängst an, mir fürchterlich zu werden!«

Die Idee hatte aber sofort gezündet.

»Das ist reizend,« erklärte Fräulein Nanettchen, »und Percy spricht ihn natürlich selbst!«

»Natürlich, natürlich«, kam die Bestätigung von allen Seiten. »Aber meine Herrschaften,« wandte Percival Nöhring lachend ein, »wie komme ich dazu, daß ich einen Prolog dichten soll? Was denken Sie denn von mir?«

»Wir denken gar nichts,« erwiderte Tante Löckchen, »wir wissen.«

»Was weißt du denn?«

Tante Löckchen beugte sich über den Tisch. »Daß du ein Dichter bist«, erklärte sie mit resolutem Ton. »Und solche Kleinigkeiten wie einen Prolog schüttelt ein Dichter wie du aus dem Ärmel.«

Percival Nöhring warf sich lachend gegen die Stuhllehne zurück.

»Das hat man davon, wenn man mit Toasten in Versen um sich schmeißt.«

Seine Augen blickten wie hilfesuchend umher und begegneten denen seiner Schwester, die gespannt und beobachtend auf ihm ruhten.

»Freda,« rief er, »so tu doch deine Iphigenienlippen auf und steh deinem armen Bruder Orest bei.«

»Abraten aber dürfen Sie ihm nicht, Fräulein Freda,« erklärte Rechtsanwalt Feßler, und »Abraten gilt nicht«, wiederholte der Chor. Alle schienen zu wissen, daß ihre Entscheidung maßgebend für ihn sein würde.

Freda verzog etwas spöttisch die Lippen.

»Wer sagt denn schon, daß ich ihm abraten werde?«

Sie senkte, wie überlegend, einen Augenblick das Haupt, dann erhob sie das Gesicht, und über den Tisch hin sah sie dem Bruder mit einem plötzlich aufleuchtenden Blick gerade in die Augen.

»Na, Junge« – sie nahm ihr Glas auf und stieß damit an Percivals Glas – »warum denn nicht? Zeig' einmal, was du kannst!«

»Das lass' ich mir gefallen,« rief Herr Major Bennecke, »prost, Fräulein Freda, dafür muß ich auch mit Ihnen anstoßen!«

»Bravo, Fräulein Freda, bravo!« Alle Gläser wanderten über den Tisch, um mit dem ihrigen zusammenzuklingen. Percival aber warf sich, wie gebrochen, zurück.

»Auch du, Brutus?« stöhnte er, indem er die Hände gegen Freda ausstreckte. Er sprang auf.

»Nun, wenn es so steht,« donnerte er pathetisch – er reckte den Arm empor, spreizte die Finger und wandte sich an Tante Löckchen: »nun beim kristallnen Äther«, deklamierte er, »verpfänd' ich hier mein Wort: Du sollst ihn haben, Tante, den Prolog!«

»Hurra!« rief Tante Löckchen, und »Bravo, bravo, bravo!« widerhallte die ganze Tafelrunde.

»Aber Percy, Dichter meiner Seele,« mahnte Fräulein Nanettchen, »etwas feierlich Erhabenes muß es sein, was du schreibst; etwas, was du sprechen kannst wie vorhin die ›Kraniche des Ibykus‹, damit man in Stimmung kommt. Nicht wahr?«

»Jawohl,« erklärte Tante Löckchen, »etwas Ernsthaftes muß es sein, damit die Menschen sehen, daß wir um der Kunst wegen zusammenkommen. Und dann lassen wir das Klavier hinter die Bühne bringen, und Nanettchen leitet die ganze Geschichte mit etwas Musik ein.«

»Famos«, sagte Papa Nöhring, und »Das tu ich, natürlich tu ich das«, entgegnete eifrig Fräulein Nanettchen. »Ihr braucht nur zu sagen, was ihr haben wollt; die Ouvertüre zum ›Tannhäuser‹ vielleicht?«

»Ausgezeichnet,« erklärte Herr Major Bennecke, »ausgezeichnete Idee«, und mit Akklamation wurde beschlossen, daß Fräulein Nanettchen mit der Ouvertüre zum »Tannhäuser« anfangen, Percival Nöhring darauf mit seinem Prolog folgen und alsdann die Aufführung beginnen sollte.

»Das wird eine Stimmung geben,« meinte Herr Rechtsanwalt Feßler, »wie sie überhaupt noch gar nicht dagewesen ist.«

Und somit hatte denn auch dieser heutige entzückende Abend bei Benneckes sein Ende erreicht.

Tante Löckchen, mitten im Zimmer stehend, wurde von Fräulein Nanettchen stürmisch, von Therese Wallnow zärtlich und von Freda Nöhring freundlich zum Abschied umarmt und geküßt. Dann zogen die Herren in Defiliercour an ihr vorüber, und sodann begleitete Herr Major Bennecke, von der braunseidenen alten Diana gefolgt, mit der Lampe in der Hand, seine Gäste an die Haustür, die er selber aufschloß.

Aus den Mantelkragen, die hoch aufgeschlagen waren, weil man in die Winternacht hinaus mußte, und aus den Pelzboas der Damen, die bis zum Munde hinaufgezogen waren, tönte ein »Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!« zurück, und dann schlug die Pforte des gastlichen Hauses hinter der kleinen Karawane zu.


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