Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Neuntes Kapitel

Als Freda in das Lesezimmer eintrat, saß der Vater noch an dem Platze, wo er sich niedergelassen hatte.

Die Zeitung lag ihm im Schoß, sein Haupt war auf die Brust gesunken – in der drückenden Schwüle, die im Raum herrschte, war er eingeschlafen.

Es war doch wirklich nur – Schlaf?

Freda war es, durch deren Hirn diese Frage zuckte, jählings wie ein Blitz, an deren Herz diese Frage griff, jählings wie eine krallende Hand –

So blaß sah er aus.

Eilends war sie an seiner Seite.

»Papachen –«, sie berührte seine Schulter.

»Papachen –«, sie schüttelte ihn stärker – er kam zu sich, er erwachte.

Er erwachte, und in demselben Augenblick lagen ihre Lippen auf seiner Stirn, und die Tränen schössen ihr in die Augen. Aber mit übermenschlicher Gewalt drängte sie die Tränen zurück. Später war Zeit zum Weinen – jetzt nicht. Jetzt hieß es stark sein, fest und mutig sein. Alles, was von Adel, Stahl und Kraft in ihrer Natur war, stand plötzlich in ihr auf.

»Es wird Zeit, daß wir zum Bahnhof gehen«, sagte sie, und ihre Stimme klang leicht und frei.

Schlaftrunken erhob er sich.

»Ja, ja – komm nur – komm.«

Er lallte beinahe – dann stützte er sich auf ihren Arm und verließ mit ihr das Haus. Die Treppe stiegen sie hinunter. Immer wuchtiger stützte er sich auf die Tochter, und indem sie die Schwere seines Körpers empfand, war es ihr, als trüge sie eine heilige Last.

Es war höchste Zeit. Der Zug stand zur Abfahrt bereit; sie hatten eben noch Zeit, hineinzuschlüpfen. Glücklicherweise war der Zug nur schwach besetzt; sie saßen in ihrem Kupee allein. Kaum daß sie Platz genommen hatten, sank der Regierungsrat in die Wagenkissen zurück und schlief wieder ein.

Schräg gegenüber von ihm saß Freda am Wagenfenster; aber nicht zum Fenster blickte sie hinaus, nicht auf das Meer, nicht auf die Landschaft und die Schönheit der Landschaft – bei dem alten Mann dort weilten ihre Gedanken, an seinem Gesicht hingen ihre Augen, ihre heißen, brennenden, fieberhaft starrenden Augen.

Wie müde es war, dieses Gesicht, dieses greise! Wie eine Last, beinahe wie eine Krankheit lag die Erschöpfung darauf.

Jetzt, da kein Lächeln die gütigen Züge erhellte, traten alle Falten darin hervor, und in den Falten der Gram, all der verschwiegene Kummer, den er im Herzen verbarg und verschloß, um sein Kind nicht zu betrüben, und der nun aus seiner Tiefe hervorkam und zu seinem Kinde zu sprechen anhob, leise vernehmlich wie die flüsternde Stimme des Gewissens, wie die unentrinnbare Stimme der Anklage.

Eingepreßt saß sie in ihrer Wagenecke; ihre Hände lagen im Schoß, und die seinen Finger rangen sich ineinander wie im Krampfe.

Wer hatte dem alten Mann das alles angetan?

Wer hatte ihn fortgenötigt und gehetzt aus der heimatlichen Stadt, aus dem heimatlichen Hause? Fort aus dem Garten, wo die Nachtigall sang und die Amsel schwatzte, aus dem Schatten seiner Bäume, den er so liebte, den er so brauchte, und hinunter in die brennende Sonne, zwischen das blendende Meer und die glühenden Berge? Wer war es, die ihn fortgescheucht hatte von lieben Gewohnheiten, von seinen stillen, bescheidenen Freuden, von Freunden und Bekannten, von allem, woran sein Herz und seine Seele hing, und die sich groß und bedeutend gedünkt hatte, weil sie den alten Mann zu dem allem vermocht hatte? Die in Eitelkeit aufgeschwollen war, weil sie den Vater beherrschte, ohne zu fühlen, daß der alte, gute Vater nur nachgegeben hatte, weil er zu weich, zu gütig war? Ohne zu fühlen, daß er seinem Herzenswunsch entsagt hatte, weil sie ihm gesagt hatte, daß die Erfüllung seines Wunsches ihr Tod sein würde?

Die Tränen, die sie vorhin bemeistert hatte, stießen ihr wieder zu den Augen herauf, vom Herzen her, wie ein glühender Strom aus einem glühenden See.

Wenn er nun wirklich krank wurde, wenn er dem Klima erlag, das ihm nicht bekam – wenn er –

Die Tränen traten ihr zurück, ein Angstgefühl, schrecklich und schwer, legte sich zermalmend auf ihre Brust, daß ihr der Atem röchelnd aus der Brust stieg.

Wie hatte er zu ihr gesagt damals, an dem Nachmittag, als er allein mit ihr im Zimmer neben dem Salon gewesen war?

»Freda, mein Herzenskind, du mußt doch bedenken, daß ich ein alter, alter Mann bin –«

So war es gewesen, ja – das Wort, das ihr wie ein Stich durch Leib und Seele gegangen war! Das hatte er gesagt, das hatte sie gehört, und statt darauf bedacht zu sein, jeden Tag, jede Stunde und Minute, daß sie sein Leben, das heilige, teure Gut, behütete, beschützte und bewachte, hatte sie es aufs Spiel gesetzt, dem Schicksal und dem Zufall preisgegeben, wie eine – wie eine – und warum? Für wen? Für – jenen da drüben?

Ein Ekel schüttelte sie. Weinen konnte sie nicht; das trockene Schluchzen zerriß ihr die Kehle; mit den Zähnen faßte sie die Spitzen ihrer Handschuhfinger und biß hinein in wütender Reue.

Wenn es einmal käme, daß das Gesicht da vor ihr läge, daß sie neben ihm in die Knie sänke – »Vater – ich habe dir noch etwas zu sagen – Vater, ich habe dir noch etwas abzubitten« – und die Augen sich nicht mehr öffneten, um sie anzusehen, die Ohren nicht mehr vernähmen, was sie ihm zu sagen hatte –

Jesus! Jesus! Jesus!

Jetzt waren sie in Bordighera angelangt, und jetzt hielt der Zug, und jetzt saß sie neben dem schlafenden alten Mann, ihre Lippen an seinem Ohr, ihre Wange an seiner Wange – »Papachen!«

Er fuhr auf.

»Aber, mein Gott – warum schreist du denn so?«

»Nun – ich wollte dir nur sagen – wir sind da!«

Er rieb sich die Augen.

»Na – also ist's ja gut. Aber ich dachte doch wirklich, es wäre was passiert, weil du so schriest.«

Er sah sie an und lachte.

Als sie ihn lachen hörte, fiel sie mit beiden Armen um ihn und hing an seinem Halse. Nie hatte sie einen wonnevolleren Laut gehört.

»Ja – nicht wahr – ich bin recht kindisch?«

Dann fing sie selbst zu lachen an, heftig, immer heftiger, beinahe konvulsivisch; und mitten in dem Lachen stürzten ihr die Tränen aus den Augen, und das Lachen wurde jählings zum Schluchzen, zu einem Schluchzen, das ihr das Herz zu sprengen drohte und ihre Brust an seiner Brust auf und nieder fliegen ließ.

»Aber – Freda – was ist dir denn?«

»Nichts, Papachen, komm nur, komm nur, komm!«

In seinen Arm gehängt, zog sie ihn fort, den Weg zum Gasthof hinauf, das Gesicht zur Erde gebeugt, damit man ihre verweinten Augen nicht sehe.

Unterwegs überlegte sie. Was sollte sie tun? Sollte sie ihm alles sagen? Ihm erzählen, was zwischen ihr und jenem Menschen vorgegangen war? Nein, nein, nein! Das hätte ihn aufgeregt, und sie zitterte jetzt vor jeder Aufregung, die ihn treffen konnte. Ihre Tat war es gewesen und ihre Schuld – so sollte nun auch das Bewußtsein davon ihr eigen bleiben, und er sollte nicht mitzutragen haben daran.

Noch lag das Erlebnis der letzten Stunde wie eine wüste, ungeordnete Masse in ihrer Erinnerung, noch getraute sie sich nicht, an alle Einzelheiten zurückzudenken, noch begriff sie kaum, wie sie jemals in ihrem Bewußtsein damit fertig werden und darüber hinwegkommen würde – aber der Vater war ihr wiedergeschenkt, und es hatte einen Augenblick gegeben, wo er ihr beinahe schon verloren gewesen war. Das war es, was jetzt ihre Seele erfüllte und alles andre zurücktreten und verschwinden ließ wie hinter einem großen Licht. Ob es nicht möglich sein würde, die ganze abscheuliche Geschichte aus dem Gedächtnis zu werfen und darüber hinwegzuleben, als wäre sie nie dagewesen? Sie preßte die Lippen zusammen und die Fingernägel in die Hand – versuchen wir's! Versuchen wir's!

Als sie in den Gasthof zurückkehrten, zeigte die Uhr beinahe die Essensstunde, und als sie ihr Zimmer droben betrat, sah sie die Toilette bereit liegen, die sie heute zum Mittagessen hatte anziehen wollen. Das Kleid von mattgelber Brussaseide, das sie an jenem ersten Abend getragen hatte, das ihr so gut stand, in dem sie – jenem so gefallen hatte.

Mit beiden Händen fuhr sie an die Schläfen – vergessen wollte sie, während jeder Gegenstand eine Erinnerung und jede Erinnerung ein Greuel war.

Mit einem Blick voller Haß riß sie das Gewand an sich, als wollte sie es zerfetzen von oben bis unten – dann warf sie es zurück – der unschuldige Lappen, was konnte er dafür?

Schwer atmend sank sie auf einen Stuhl; ein unaussprechlich widerwärtiges Gefühl drückte sie nieder und erdrückte sie.

Die große Hotelglocke rief zur Mahlzeit, und es fiel ihr ein, wie die Stimme dieser Glocke ihr gestern noch und vorgestern und diese ganze Zeit hindurch wie ein Kommandoruf ertönt war, wie ein Befehl, dem sie sich rasch und unbedingt gefügt hatte. Warum? Weil sie wußte, daß – jener sie unten erwartete – ah!

Wohin sie dachte und sah, immer – jener! Wie ein Schmutzfleck, der in ihre Seele gefallen war, an dem sie vorbeisehen wollte und auf den sie hinstarren mußte, an dem sie vorbeischlüpfen wollte und nicht vorbeikommen konnte, nicht konnte und nie können würde! Die Glocke läutete und läutete, es war, als ob sie persönlich nach ihr rief. Aber sie drückte die Stirn auf den Tisch. »Läute du nur, ruf du nur, was gehst du mich an?« »Weil ich heute früh das Kleid da zurechtgelegt habe, um mich heute abend hineinzustecken und damit zu putzen? Nicht wahr? Darum, meinst du, müßte ich jetzt kommen, nicht wahr? Aber was geht das Weib, das Weibstück mich an, das heute morgen hier ihre Torheiten getrieben hat? Ich weiß nichts von ihr, will nichts wissen, habe nichts zu schaffen mit ihr! Nichts! Nichts!«

Auf dem Stuhle rückte sie herum; denn dort über dem Sofa hing ja der Spiegel, der ihr das Bild dieser Person zeigte. Beide Hände drückte sie vor das Gesicht und verbarg ihr Gesicht darin; und wieder fing es in ihrer Brust zu wühlen an, wieder stieg der Tränenstrom von drunten empor, heiß wie aus einem kochenden See. – Aber fort mit den Tränen – hinter ihr klappte die Tür. Heute war es der Papa, der nach seiner Tochter zu sehen kam.

Hurtig sprang sie auf. Halb überrascht sah er von der Türschwelle zu ihr hin.

»Na, sag' einmal, Kind? Noch im Reisekleid? Wird heute keine Toilette gemacht?«

Sie flog auf ihn zu, ihm um den Hals.

Ach, Papachen, wozu? Für die da unten ist das ja wahrhaftig genug! Schon zu gut, viel zu gut!«

Ihre Augen waren weit aufgerissen; indem sie sprach, öffnete sich ihr Mund, als ob sie nach Luft ringen müßte; sie schrie beinahe, indem sie sprach.

Papa Nöhring strich ihr die Stirnlocken zurück; ihre Stirn war mit kaltem Schweiß bedeckt. Mit dem alten, bekannten, schalkhaften Lächeln sah er sie forschend an, dann küßte er sie schweigend auf beide Augen.

Als sie seinen Kuß fühlte, stieg ein Seufzer der Erleichterung aus ihrer Kehle.

»Ach – du lieber Papa –«, und ihr Haupt sank an seine Brust.

»Komm jetzt nur,« mahnte er, »es wird Zeit, und du mußt etwas essen.«

»Ja, ja –«, und sie gingen hinunter. Als sie den Speisesaal betraten, fühlte der Vater, wie sie an seiner Seite aufzuckte. Ihre Augen gingen in Todesangst umher – würde jener da sein? Gott sei Dank, nein, er war nicht da. Wie konnte er denn auch? Er hätte ja geradezu durch die Luft fliegen müssen. Aber er war für sie zum Gespenst geworden, und Gespenster sind überall.

Aufatmend setzte sie sich an die Tafel, und nun tat sie sich Gewalt an, um Speise und Trank zu sich zu nehmen. Viel wurde es freilich nicht, und Papa Nöhring sah die winzigen Portionen, die sie sich auf den Teller füllte. Er sah es, aber er sagte nichts und fragte nicht. Und sie bemerkte, daß er es sah, und daß er nicht fragte – wie sie ihm dafür dankte! Wie sie sie empfand, die feine, milde, rücksichtsvolle Seele des alten Mannes, der an ihrer Seite saß! Und es fiel ihr ein, daß einmal ein Tag gewesen war, an dem sie sich geärgert hatte, daß der alte Mann an ihrer Seite keinen Frack anhatte wie die andern; ein Tag, an dem er ihr so kleinstädtisch und kleinbürgerlich erschienen war, so wenig höflich und verbindlich gegen den »englischen Lord«, ein Tag, an dem sie nicht weit davon entfernt gewesen war, daß sie sich seiner geschämt hätte.

Die Plätze ihr gegenüber am Tische waren leer, wie denn heute überhaupt viele von den Gästen fehlten, und das war gut für Freda Nöhring. Denn wenn jemand ihr gegenübergesessen hätte, so würde er nicht gewußt haben, was mit dem schönen Mädchen vorging, dessen Gesicht plötzlich aschfahl wurde und dessen Züge ganz verstört waren.

Nach dem Essen saßen sie wieder auf der Terrasse an ihrem kleinen Tische, und der Kellner brachte ihnen den Kaffee.

Auch dazu hatte sie ihn vermocht, obschon sie doch wissen mußte, daß er den Kaffee so spät nicht gewöhnt war, daß er ihm unmöglich gut bekommen konnte.

Unter dem Tisch setzte sie einen Fuß auf den andern und bohrte sich den Hacken des Schuhs in den Fuß; sie hatte ein Bedürfnis, sich etwas anzutun, etwas, das ihr weh tat, womit sie sich bestrafte. Zum erstenmal begriff sie, wie Menschen in früheren Zeiten dazu gekommen waren, daß sie sich Geißeln flochten und sich selbst bis aufs Blut züchtigten.

Sie legte die Hand auf seine Hand.

»Bekommt der Kaffee dir auch, Papachen?«

Überrascht blickte er auf. Wie kam sie denn heute plötzlich zu der Frage?

»Na, mein Gott – man gewöhnt sich schließlich.«

»Man gewöhnt sich –« Wenn er ihr eine donnernde Standrede gehalten hätte, wäre die Wirkung vernichtender gewesen als dieses traurig resignierte Wort? Daß man fern von allem, was einem teuer und lieb ist, fremd in der Fremde lebt – man gewöhnt sich schließlich daran. Daß man jedem Herzenswunsch und jeder Lebensfreude entsagt – man gewöhnt sich daran. »Aber eine Zigarre rauchst du, nicht wahr?« Das war ja beinahe das einzige, was er hier so gut wie zu Hause tun konnte, beinahe das einzige, was ihm ein Vergnügen bereitete; und jeder Gedanke in ihr fahndete und suchte jetzt danach, wo sich etwas bot, das ihm lieb und angenehm sein mochte; was sie nie getan hatte, all diese Abende lang – mit eifriger Hand steckte sie ein Streichholz in Brand und hielt es ihm hin, damit er seine Zigarre daran anzündete.

Freundlich streichelte er ihre Hand.

»Ich danke dir, liebes Kind, ich danke dir.« Sie lächelte ihm über den Tisch zu, lächelte, weil sie in Tränen ausgebrochen sein würde, wenn sie ihr Gesicht nicht zum Lächeln gezwungen hätte, und es war ein wütendes Bedürfnis in ihr, sich auf den Tisch zu beugen und seine Hand zu küssen. Aber die Menschen ringsumher – es durfte nicht sein.

So zwang sie sich, ruhig und scheinbar heiter ihm gegenüberzusitzen, bis daß er zu Ende geraucht hatte, und so glaubte sie wirklich, ruhig geworden zu sein, als sie aufstanden, um ihre Gemächer aufzusuchen.

Ihr »Gute Nacht, Papachen« klang noch ganz frisch und wohlgemut – dann aber war sie in ihrem Zimmer, allein mit sich und ihren Gedanken, und nun fielen die Gedanken über sie her wie reißende Hunde über ein gehetztes Wild.

Sie hatte sich ja vorgenommen, zu vergessen, hinwegzuleben über das greuliche Erlebnis, als wäre es nicht dagewesen – also nur vorwärts! Die Kleider herab! Ins Bett! Die Augen geschlossen und dann von nichts mehr wissen, von nichts!

Aber indem sie die Kleider abwarf und ihr Blick an ihrem Leibe niederging, fiel es ihr ein, daß dies nicht mehr Freda Nöhrings unentweihter Leib war, daß eines Mannes Arm sich heute darum geschlungen hatte, eines Mannes Hände diese ihre Hände gepackt und gehalten hatten, daß dieser stolze, weiße Fuß kein Recht mehr hatte, stolz zu sein, weil eines Mannes Hand ihn umspannt und gedrückt hatte – und was für eines Mannes! Was für eines! Des scheußlichsten, den die weite Erde trug, und dem sie das Recht zu all seiner Frechheit gegeben hatte, sie! sie! sie selbst!

Stöhnend, wie unter Geißelhieben, wälzte sie sich auf ihrem Lager; mit brennenden Augen starrte sie in die Finsternis.

All die Wochen, die sie nun hier am Orte verbracht hatte, zogen an ihrem Geiste vorüber, jede Stunde war ihr gegenwärtig, von der ersten bis zu dieser letzten, jeder Gedanke und jedes Gefühl, und alles war Äußerlichkeit, Elendigkeit und Erbärmlichkeit.

Wenn sie wenigstens aus großem Antriebe in großen Frevel verfallen wäre, wenn eine große Leidenschaft sie hingerissen und betört hätte – Leidenschaft ist Kraft, und jede große Kraft, auch wenn sie ins Verderben führt, versöhnt uns schließlich mit sich selbst, weil sie uns fühlen läßt, daß wir echte Kinder der Natur sind, in der es auch Vulkane und Erdbeben und Kämpfe der Selbstvernichtung gibt. Aber von dem allem war es ja nichts gewesen, sondern das Kleinste des Kleinlichen, Eitelkeit, dumme, kindische Eitelkeit!

Warum hatte sie sich denn geputzt und geschmückt? Warum hatte sie sich beeifert, ihm zu gefallen, dem – Menschen? Etwa weil er ihr gefiel? Weil sie sich hingezogen fühlte zu ihm? Nein – sondern weil sie geglaubt hatte, er wäre ein »englischer Lord«, irgendein bedeutender Fremdländer. Darum hatte es sie gekitzelt und ihr geschmeichelt, daß sie ihm gefiel, obgleich sie doch »nur eine Deutsche« aus einer kleinen norddeutschen Stadt war.

Darum hatte sie ihm erlaubt, Blicke zu ihr hinüberzusenden, hatte seine Blicke sogar erwidert, hatte ihm erlaubt, sie spazierenzuführen in nächtlicher Stunde, einsam am Strande des Meeres, hinter dem Rücken des Vaters, des Vaters, den sie vernachlässigt hatte um dieses Menschen willen, dessen Gefühl sie als das des Kleinstädters verachtet hatte, weil er ihn richtig durchschaut hatte, diesen – diesen Piraten!

Darum hatte sie ihren eigenen Instinkt unterdrückt, wenn zu unbewachter Stunde ein Licht über das Gesicht des – Menschen gegangen war, bei dem sie schaudernd geahnt hatte, wes Geistes Kind er eigentlich war, hatte ihr Gefühl unterdrückt und unterdrückt, bis daß es zu spät geworden war, bis daß sie ihn zu dem Glauben gebracht hatte, daß sie seinesgleichen sei, ein albernes Weib, mit dem er machen könnte, was ihm beliebte, bis daß sie voller Entsetzen zu sich gekommen war und sich in den Armen dieses Menschen gesehen hatte, dieses Menschen, dieses Spielers, dieses Räubers, der ihr den Vorschlag zu machen wagen durfte, daß sie ihren Vater bestehlen sollte, ihren alten, gütigen, geliebten Vater!

An einen solchen hatte sie sich fortgeworfen! Ja – nichts von Bemäntelung und Beschönigung jetzt – fortgeworfen hatte sie sich an ihn, sie, Freda Nöhring, die stolze, die keusche, die unnahbare Freda Nöhring, die Walküre, die auf die Männer verachtend herabgesehen hatte, um sich nun hier in die Macht des niedrigsten, schlechtesten, gemeinsten aller Männer zu begeben, eines Mannes, der wahrscheinlich nichts anderes war als ein fortgelaufener, steckbrieflich verfolgter, spitzbübischer Kassier! Und warum das alles? Weil er einen wohlgebügelten und geschniegelten Anzug, einen aufgewichsten, parfümierten Bart trug, weil er Englisch und Französisch zu sprechen, Lawn-tennis zu spielen und sich ungezwungen zu benehmen wußte. Darum! darum! Darum war seine Frechheit ihr wie weltmännische Überlegenheit, seine hohle, angenommene Maske wie geistige Bedeutung erschienen!

So hatte sie sich versehen, verlaufen und verirrt!

So war sie hineingetaumelt und hineingefallen!

So! So! So!

Von Scham und Verzweiflung überwältigt und zermalmt, warf sie sich im Bett herum, das Gesicht in das Kopfkissen gedrückt, die Hände in die Haare gewühlt, mit stoßender Brust, mit ächzendem, beinahe heulendem Jammer.

Und das wollte sie vergessen? Darüber wollte sie hinwegkommen, als wenn es nicht gewesen wäre?

Mit dem allem wollte sie fertig, darüber wollte sie Herr werden mit sich allein und in ihrem eigenen schweigenden Bewußtsein?

Während ihr ganzes Bewußtsein nichts andres mehr war als ein einziger schreiender Vorwurf? Während in ihrem zermalmten Innern nur ein Verlangen noch war, nach Trost, nach Hilfe, nach einem Wesen, dem sie sich anvertrauen, zu dem sie flüchten, von dem sie, wenn es noch möglich war, Absolution erlangen konnte?

Wo fand sie einen solchen Menschen? Wo war er?

Törin, verstockte – wo er war?

Der fieberglühende Leib richtete sich auf; sie schlug Licht, und aus dem heißen, zerwühlten Bett stieg sie hinaus, um einen Mantel umzuwerfen und in die Schuhe zu schlüpfen.

In der tiefen, lautlosen Nacht war es, als der Regierungsrat Nöhring aus seinem Halbschlafe aufschrak – fest und tief schlafen konnte er ja schon seit langem nicht mehr. – Vorsichtig wurde die Tür seines Zimmers geöffnet, und eine hohe Gestalt trat geräuschlos ein.

War das – Freda? Er verhielt sich ganz still.

Auf den Fußspitzen kam sie heran; an seinem Lager kniete sie nieder; ihr Haupt schob sich zu seinem Gesicht empor, so daß ihr Kinn sich auf sein Kopfkissen stützte.

»Vater –!« Seine Hand legte sich auf ihr Haupt; er fühlte, wie verwirrt das Haar auf ihrem Haupte war.

»Was willst du, mein Kind? Warum kommst du zu mir?«

»Verzeih, Papa, daß ich dich störe.«

»Du störst mich nicht; ich habe nicht geschlafen.«

Ein Wimmern stieg aus ihrer Brust.

»Das ist meine Schuld, daß du nicht schlafen kannst.«

Er gab keine Antwort – konnte er »nein« sagen?

»Das ist meine Schuld, daß du hast hierherkommen müssen, daß du hier sitzen mußt, wo die Luft dir nicht bekommt, unter den fremden Menschen, die du nicht magst – o du lieber Vater – du armer Vater –«

Sie hatte sich höher zu ihm hinaufgeschoben, ihr Gesicht lag an seinem Gesicht, ihr kühles blondes Haar floß über ihn hin, und die Tränen, die von ihren Augen strömten, netzten seine Wange.

»Liebst du mich noch, Vater? Liebst du mich noch ein bißchen?«

»Ein bißchen?«

Er drückte ihre schluchzende Brust an sich, er küßte ihr tränenüberflutetes Gesicht.

»Freda, mein Kind, werde ruhig; zünde Licht an und sage mir, was los ist.«

Sie glitt von seinem Bett herab und tat, wie er geboten hatte. Dann, als das Licht auf dem Nachttische brannte, sank sie auf den Stuhl, der am Kopfende seines Lagers stand, und hängenden Hauptes saß sie alldort.

»Papa« – und sie griff nach seiner Hand –, »ich habe eine Bitte, eine große; laß uns fortgehen von hier, ja? Recht bald, womöglich noch morgen!«

»Fort von hier?« fragte er langsam. »Noch weiter hinaus?«

»Nein,« erwiderte sie hastig und laut, »nicht weiter, sondern zurück!«

»Zurück – nach Haus?« »Wohin du willst – nur nach Deutschland zurück!«

Nun richtete sich der Alte im Bett auf, so daß er sie mit der Hand erreichen konnte; er strich ihr das wirre Haar aus Stirn und Gesicht, drehte ihr Haupt zu sich herum und sah ihr in die Augen.

»Freda, mein liebes Kind, ich glaube beinahe, du bist einen Weg gegangen, der gefährlich hätte werden können; aber ich habe dich gehen lassen, weil ich mir wohl gedacht habe, daß du von selbst dich zurückfinden würdest; bist du nun zurückgekommen?«

Sie beugte das Haupt auf sein Kissen; es war ein schütternder Krampf in ihr.

»Ja, ja, ja!«

»Bist du nun fertig mit deinem – Reisemarschall?«

Das schalkhafte Lächeln wollte aus seinen Augenwinkeln hervorblicken, aber es wich zurück, als er den Verzweiflungsanfall sah, der sie bei diesen Worten erfaßte.

Mit ausgestreckten Armen, das Gesicht an seiner Brust verbergend, warf sie sich über ihn hin.

»Sprich nie mehr von diesem Menschen, Papa! Nie mehr, um Gottes Barmherzigkeit willen! Siehst du – was ich verdiente, das wäre, daß du aufständest und mich straftest, mich schlügest – dieser Mensch, Papa – dieser Mensch –«

»Was ist mit dem Kerl?« fragte er rauh. »So etwas wie ein Spieler? Was?«

Sie nickte, ohne ihn anzusehen.

»Und er hat dich verleitet? Du hast mit ihm gespielt? Wohl gar eine Masse Geld verloren?«

»Ach,« seufzte sie, »ich habe ihm zwanzig Frank gegeben, und damit hat er ja mindestens tausend gewonnen.«

Papa Nöhring fuhr zurück.

»Und das hast du genommen?«

Sie richtete das Angesicht auf und sah ihn an.

»Aber – Papa –«

Mit beiden Armen riß er sie an sich und küßte sie auf Augen, Stirn und Mund. »Mein Herzenskind, das war eine dumme Frage! Das war eine dumme Frage! Nimm's deinem alten Papa nicht übel!«

Er hatte sich aufgesetzt, und wie ein Kind ließ er sie neben sich auf dem Bettrande sitzen.

»Hast es ihm vor die Füße geworfen, dem – dem Kujon?«

»Ja – natürlich.«

»Na, brav, mein Kind! Na, brav, mein Kind!«

Alle Zärtlichkeit, die während dieser ganzen Zeit in ihn zurückgetreten war, daß es ihn gepeinigt und gedrückt hatte wie eine Krankheit, brach hervor und strömte über sie aus.

»Siehst du, mein Mädel, nun wollen wir unsre Koffer packen, und dann machen wir uns auf. Das ist eine famose Idee! Zurück. Aber nicht gleich nach Haus, sonst lacht Tante Löckchen uns aus, und den Spaß wollen wir ihr nu mal nicht machen; irgendwo in Deutschland hin, wo es so recht deutsch und schön ist, zum Beispiel vielleicht an den Bodensee, den kenn' ich von meiner Studentenzeit her, und der wird dir auch gefallen, mit seinem kühlen, schönen, grünen Wasser, wenn wir drauf umherfahren werden. Und dann, wenn es höher in den Sommer hineinkommt, überfallen wir Benneckes in Teplitz, und dann macht der Junge sein Examen, und dann kann er Hochzeit machen, und im Herbst sind wir wieder daheim in unserm lieben, alten, gemütlichen Haus –«

Er hatte den Kopf an ihre Schulter gedrückt; seine Phantasie war wieder wach geworden, und in den Augen dieser Phantasie spiegelte sich ja das Bild der Welt, wenn nicht eine gar zu unangenehme Wirklichkeit ihren Schatten darüber warf, in so fröhlichen Farben.

Von seinen Armen umschlungen, saß Freda auf dem Bettrand, in ihrem weißen Frisiermantel, über den das lange, blonde Haar hinabwallte, mit gesenktem Haupt, mit hängenden Gliedern. Sollte sie ihm jetzt gute Nacht sagen und gehen? Es wäre solch ein guter Augenblick gewesen, jetzt, da er so glücklich wieder war. Aber sie konnte nicht, sie hatte ihm noch etwas zu sagen, was gesagt werden mußte. Wenn sie es nicht sagte, wäre dieser nächtliche Besuch, dieser Bußgang ein halber, ein verfehlter gewesen. Auch ihre Seele war wach geworden, und nun stand das auf, was den Grundzug dieser Seele bildete, der rücksichtslose, mitleidslose Ernst. Alle Fenster ihres Innern tat er auf, alle Vorhänge riß er zur Seite, so daß die Luft hereindrang in die Dumpfheit da drinnen und das helle, grelle Licht in die wunde, zuckende Seele. Aus den Armen des Vaters machte sie sich los; an seinem Bett glitt sie noch einmal in die Knie; wie eine Büßerin lag sie vor ihm.

»Papa – du bist so gut, viel zu gut – aber ich habe dir noch etwas zu gestehen. Ich bin schlecht gewesen in dieser Zeit, ich habe mich benommen wie ein – wie ein miserables Frauenzimmer.«

»Freda« – wollte er sie unterbrechen; aber sie schüttelte den Kopf. Er sollte ihr nicht zu früh die Hand bieten zur Vergebung; ganz hinunter mußte sie, bis in die Tiefe des Abgrundes; dann vielleicht konnte er ihr helfen, daß sie wieder zum Lichte emporstieg.

»Ich bin schuld gewesen, Papa, daß dieser – Mensch sich einbilden konnte, er dürfte mit mir umgehen, wie er's nachher getan hat. Während du hier oben in deinem Zimmer saßest, bin ich allein mit ihm spazierengegangen, in der Dunkelheit, am Meer entlang.«

»Das hättest du nicht tun sollen«, sagte Papa Nöhring.

»Nein, Gott weiß es, Gott weiß es«, erwiderte sie, und das dumpfe Klagen stieg wieder in ihrer Stimme auf.

»Und darum hat er sich unterstanden – als wir heute früh auf der Terrasse in Monako waren – du weißt – als der Rabe nach mir geschnappt hatte – meinen Fuß zu drücken, und nachher, als wir im Spielsaal waren, hat er sich neben mich gesetzt – und meine Hände gefaßt – und den Arm um mich geschlungen – und es war nahe daran – so hätte – dieser Mensch – mich geküßt –«

Sie war zu Ende – Papa Nöhring schwieg. »Und siehst du, Papa, daß dieser Mensch mich hat berühren dürfen, und daß ich schuld daran gewesen bin, das werde ich nun nie mehr los, solange ich lebe, und nun – bin ich eigentlich gar nicht deine Tochter von ehemals mehr – sondern verunreinigt und – und befleckt – für immer – für immer.«

Ein langes Schweigen trat ein. Mit ernsten Augen blickte der alte Mann auf seine Tochter, wie sie geknickt vor ihm lag, sich in Reue zermarternd, in Selbstvorwürfen wühlend. Ob dies die Stunde war, von der er geahnt hatte, daß sie ihr einstmals kommen würde, da sie zerbrechen würde in ihrer Selbstherrlichkeit? Da ihr die Augen aufgehen würden über ihre Unfehlbarkeit, die im Grunde nichts weiter war als Unerfahrenheit?

»Stehe auf, Freda,« sagte er sanft, aber bestimmt, »setze dich zu mir. Über solche Sachen muß man sich aussprechen; Tränen und Klagen helfen darüber nicht hinweg.«

Sie gehorchte und setzte sich auf den Stuhl, auf dem sie vorhin gesessen hatte.

»Siehst du, mein Kind,« fuhr er fort, »nun könnt' ich ja sagen, gehe jetzt zu Bett, wir wollen morgen über die Sache weitersprechen; aber es ist besser, wir sprechen gleich jetzt, wo du noch ganz die Lehre empfindest, die das Schicksal dir gegeben hat. Denn es ist wirklich eine schwere Lektion, die du bekommen hast; das, was dir passiert ist, das ist wirklich etwas sehr Schlimmes für ein Mädchen, und du hast ganz recht, wenn du darüber außer dir bist. Freda, mein Kind, was ich dir zu sagen habe, ist etwas ganz Einfaches; aber die einfachen Dinge lernt man im Leben am schwersten, weil man sich einbildet, man braucht sie gar nicht erst zu lernen – bis dann die Erfahrung kommt, und da merkt man, daß man noch nichts gewußt hat. Siehst du, der Mensch kann nicht immer bloß mit sich selbst verkehren; dazu ist keiner stark genug, auch nicht der bedeutendste; er muß hie und da andere um Rat fragen. Und nun hat die Natur es so angeordnet, siehst du, daß der Mann am besten bei der Frau, und die Frau am besten bei dem Mann sich Rat erholt; das ist nun einmal so, und dem muß man sich nicht widersetzen.«

Er strich ihr leise über das Haar.

»Verstehst du mich, mein Kind?«

Sie nickte leise.

»Ich glaube.«

»Und nun hast du dir ja wohl manchmal bei deinem alten Papa Rat erholt – allzuoft freilich auch nicht –«

Er hob ihr das Kinn empor, und ein leises Lächeln zwinkerte um seine Augen.

»Aber das meine ich damit nicht, sondern das, was ich meine, ist etwas ganz anderes, viel Größeres. Siehst du, mein Kind, man kann einen sehr klugen Kopf und einen großen Verstand haben, aber wenn man daneben ein – na, wie soll ich sagen – ein unausgewachsenes Herz hat, dann ist und bleibt man mit alledem ein unreifer Mensch, und dann passieren einem solche Dinge, wie sie dir jetzt passiert sind. Darum, siehst du, muß man sein Herz wachsen lassen, und wenn die Sonne hineinscheinen will, muß man es nicht zuschließen mit Gewalt, und sich noch dazu einbilden, daß man etwas Großes tut; denn dann kann das Herz nicht aufblühen, und man tut damit etwas, das gegen die Natur ist, und die Natur läßt sich nicht foppen, und wenn du ihr heute ein Schnippchen schlägst, bricht sie dir morgen oder übermorgen dafür, ein Glied.«

Er schwieg und blickte sie an. Regungslos saß sie auf ihrem Stuhl, die Hände im Schoß verschränkt, das Haupt gesenkt, in Gedanken verloren.

»Hörst du mich, Freda?«

»Ja, Papa – ich höre dich.«

Ohne Seufzer, wie aus tiefer Tiefe kam ihr Wort herauf.

xxxEr holte Atem; es wurde ihm schwer, zu sagen, was er noch zu sagen hatte.

»Und nun fühlst du dich bemakelt, weil ein schlechter, gemeiner Mann dir zu nahe getreten ist – und nun möchtest du, daß ich dir sage, wie du darüber hinwegkommen kannst in deinem Bewußtsein – und siehst du, mein Kind, da kann ich dir nur eines sagen: über das, was dir heute der schlechte Mann angetan hat, darüber kann dir nur ein anderer Mann wieder hinweghelfen. Daß heute dieser Mensch den Arm um dich gelegt hat, davon kannst du nur wieder rein werden, das kannst du nur vergessen, wenn ein guter und edler Mann kommt und seinen Arm um die Stelle legt, wo heute der Arm dieses Menschen gelegen hat, und wenn du dich alsdann nicht in Stolz verhärtest, sondern fühlst, daß jeder Mensch einmal in die Lage kommen kann, daß er sich von andern etwas vergeben lassen muß, und daß es eine wunderschöne Sache ist, wenn man sich von einem edeln, guten Menschen etwas vergeben lassen kann.«

Er schwieg wieder, und so lautlos still wurde es in dem Gemach, daß man den Hauch zu hören vermeinte, der von den Lippen des in sich gebeugten Weibes kam. Bleich, wie ein atmendes Marmorbild saß sie da.

»Freda,« hub Vater Nöhring noch einmal an, und seine Stimme bekam einen feierlich eindringlichen Ton, »das, was ich dir sage – verstehe mich recht – geht nicht auf einen einzelnen und einen Bestimmten. Wenn ich dich jetzt, in der Stimmung, in der du bist, dahin bringen wollte, daß du irgendein Versprechen, irgendeine Zusage machtest, auch nur innerlich, weil du dächtest, daß du mir einen Gefallen damit tätest, siehst du, dann wäre das so, als wenn ich den Notstand eines Menschen ausbeuten wollte, um ihm etwas abzuzwingen, und von allem Niederträchtigen, was es auf Gottes weiter Welt gibt, ist dies das Niederträchtigste. Freda« – er griff nach ihrer Hand und sah sie mit großen, heißen, trockenen Augen an –, »was ich von dir verlange, ist nur, daß, wenn einmal die Sonne kommt und hineinscheinen will in dein Herz, daß du dann an die Worte denkst, die jetzt hier dein Vater zu dir gesprochen hat, dein Vater, der zugleich dein Freund ist, der dich versteht – fühlst du das, mein Kind?«

Langsam erhob sie das Haupt, und indem sie die Augen mit einem tiefen, staunenden Blick auf ihn richtete, lösten sich zwei schwere Tränen von ihren Augen. Ihre Lippen bewegten sich – er konnte nicht verstehen, was es war.

»Was willst du mir sagen, mein Kind?«

Statt aller Antwort stand sie vom Stuhl auf, mit einer schweren, feierlichen, beinahe majestätischen Bewegung. So beugte sie sich über ihn, daß sein Haupt in ihren Armen lag, sie neigte das Gesicht auf seines und küßte ihn einmal, zwei- und dreimal.

»Vater« – in ihrer Stimme war ein tiefes Beben –, »mein lieber Vater – ich will mich bemühen, daß ich deiner würdig werde, würdiger als ich es bisher gewesen bin.«

Sie richtete sich auf.

»Nun schlaf – du Teurer – schlaf.«

An der Tür wandte sie sich noch einmal um, ihre Arme taten sich auseinander; ein herrliches Lächeln verklärte ihr Gesicht:

»Übermorgen, Papa, wieder in Deutschland?«

Er nickte ihr vom Bett aus zu.

»Ja, mein Kind, übermorgen wieder in Deutschland.«

Er hörte, wie der weiche Schritt über den Flur draußen dahinging, wie die Tür ihres Zimmers hinter ihr ins Schloß fiel, und während das Licht auf seinem Nachttisch wieder erlosch, wurde es hell in seinem Herzen.


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