Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Zweites Kapitel

Ein leuchtender, verheißungsvoller Aprilmorgen war es, an dem die Familie Nöhring auseinander ging.

Papa Nöhring und Freda fuhren zu früher Stunde auf den Bahnhof; Percival sollte am Nachmittag nach Berlin übersiedeln. Er gab ihnen zur Abfahrt das Geleit.

Wallnows hatten natürlich auch dabei sein wollen, aber Freda hatte es abgelehnt. »Sie könnten durchaus nicht verlangen, daß Frau Wallnow so früh aufstände« – in Wahrheit wollte sie mit dem Jungen beim Abschied allein sein. War es doch das erstemal, daß sie auf längere Zeit von ihm ging.

Im Wagen saßen sie nun beieinander, die drei Menschen. Papa Nöhring sinnend und beinahe wehmütig, Percival nachdenklich, Freda heiter, redselig, ein Lächeln auf den Lippen.

Ob es ihr so ganz von Herzen kam? Wer wollte es sagen! Wenn sie aber einen Kummer empfand, so war es kein andrer als der, daß sie den Heißsporn nun solange nicht sehen sollte. Im Wagensitze vorgebeugt, hielt sie seine Hand in ihren Händen und blickte ihm in die Augen. »Also, nicht wahr, Junge, du schreibst gleich, sobald du nach Berlin gekommen bist?«

Er würde gleich schreiben, ja, ja.

»Poste restante Bordighera? Damit wir den Brief womöglich schon vorfinden, wenn wir ankommen?«

»Postlagernd Bordighera, ja, ja.«

»Und dann alle Wochen zweimal? Nicht?«

Na – ob es nun gerade so oft sein würde, das wußte er selbst noch nicht, aber sie würden schon Nachricht von ihm bekommen, über ihn selbst und über alles, was sie interessierte. Freda verkniff ein Lächeln zwischen den Lippen. Was sollte sie interessieren außer ihm?

Indem sie so mit ihm und dem Vater zusammensaß, hatte sie beinahe vergessen, daß er verlobt war, daß es eine Therese Wallnow auf Erden gab. Die Liebe zu dem Bruder stand wieder wie eine heiße Sonne in ihrem Herzen und brannte jede andre Empfindung zu Asche.

Nun war der Bahnhof erreicht, nun kam der wirkliche Abschied und das Leid der Trennung.

Alle drei wurden weich.

Über Percivals Backen rollten ein paar dicke, gutmütige Tränen; Fredas Augen blitzten und funkelten wie Blumen, auf denen der Tau liegt; das Gesicht des Regierungsrats zeigte eine tiefe Kummerfalte.

Er umarmte den Sohn mit väterlicher Zärtlichkeit; dann schlang Freda die Arme um Percivals Hals und küßte, küßte und küßte ihn. Ihr Gesicht war leichenblaß. Dann riß sie sich los und stieg in das Kupeé.

Bevor der Papa ihr folgte, nahm er Percival noch einmal beiseite.

»Wenn du von dem Schottenbauer etwas erfährst, dann schreib es mir – hörst du?«

Percival versprach es mit einem Händedruck. Die Abrede war so leise, so hastig zwischen beiden getroffen worden, als handelte sich um ein Geheimnis, beinahe um eine verbotene Sache.

Papa Nöhring schlüpfte zu seiner Tochter in das Kupeé; die Tür schlug hinter ihm zu; ein schrilles Pfeifensignal – »Adieu Percy!« »Adieu Freda, adieu Papa!«

Und der Zug trug sie hinaus aus der engen, kleinen Stadt in die weite, große Welt.

Es war beschlossen gewesen, über Frankfurt a. M. und Basel in einem Zuge bis nach Genua hinunterzufahren. Papa Nöhring selbst hatte darauf bestanden.

Er wollte sich unterwegs nicht aufhalten, wollte rasch an den Ort der Bestimmung gelangen, damit er sich dort alsdann häuslich einrichten und niederlassen konnte. Er mußte stillsitzen können, wenn er das Leben genießen sollte.

Als man jedoch am Abend in Frankfurt ankam, fühlte der alte Mann sich so angegriffen, daß man die Fahrt unterbrechen und die Nacht im Gasthofe zubringen mußte.

»Habe mich doch für jünger gehalten, als ich bin«, sagte er lächelnd. Es war ein etwas müdes Lächeln.

Freda schlug vor, den nächsten Tag in Frankfurt zu bleiben, damit der Papa sich ausruhen könnte. Aber er wollte davon nichts wissen. Es war wie eine Unruhe in ihm, rasch da hinunter zu gelangen; beinahe wie jemand, der sich ein Schicksal heraufbeschworen hat und nun wenigstens rasch bis ans Ende desselben gelangen will.

Am nächsten Morgen ging es weiter.

In Basel erreichten sie die Gotthardbahn, und nun tat sich vor den beiden Menschen die ungeheure Pracht auf, durch welche der Zug sie mühelos dahintrug.

Staunend wie ein Kind saß Freda am Fenster des Wagens, und der Regierungsrat, der diese Triumphstraße der menschlichen Kraft auch noch nicht befahren hatte, saß ihr mit kaum geringerem Staunen gegenüber.

Am Nachmittag überschritten sie die Grenze von Italien. Es war das erstemal in ihrem Leben, daß Freda eine andre Sprache als die deutsche vernahm.

Tief in der Nacht kamen sie in Genua an.

Hier wurde ausgestiegen, hier sollte Station gemacht werden. In einem offenen Wagen fuhren sie durch die Stadt, die schon ganz ausgestorben war und im Schlafe lag. Mit weit aufgerissenen Augen blickte Freda nach rechts und links; zum erstenmal in ihrem Leben sah sie italienische Paläste.

Hie und da war eines der großen Bogentore noch geöffnet; dann verlor sich ihr Blick in einem Gewirr von Marmortreppen, von Säulenhöfen und Gärten.

Sie wagte kaum, nach Haus zurückzudenken, an die kleine norddeutsche Stadt, aus der sie kam, die ihre Heimat war. Der Abstand war zu ungeheuer. Sie war ja wohl manchmal in Berlin gewesen, aber was war auch Berlin gegen das, was sie hier sah!

Indem sie weiterfuhren, drang ein Brausen und Rauschen, erst fern, dann näher und näher an ihr Ohr. Der Gasthof, in dem sie abzusteigen gedachten, lag am Hafen; sie näherten sich dem Meer.

Jetzt bogen sie um eine Straßenecke, und in dem Augenblick tauchte vor ihren Augen, wie ein wiegender Wald, die unendliche Masse der Schiffsmasten auf.

Die See war unruhig geworden; die Schiffe stiegen auf und nieder; das Tauwerk knarrte und ächzte, und draußen an den Hafenmolen donnerte die brandende Flut.

Freda war beinahe froh, als sie den Gasthof erreicht hatten und in ihre Zimmer gelangt waren; der Übergang aus der stillen Enge, darin sie gelebt, in die neue, dunkle Weite war zu plötzlich; vielleicht kam auch die Abspannung infolge der langen Fahrt hinzu – sie fühlte sich schier überwältigt und erdrückt.

Dem Vater schien es ebenso zu ergehen. Mit hastigem Gutenachtkuß trennten sie sich und begaben sich eilends zur Ruhe.

Lange aber dauerte ihre Ruhe nicht, denn kaum daß der Tag angebrochen war, weckte sie der geradezu brüllende Lärm, der vom Hafen herauf erscholl.

Dann kam die italienische Sonne und lugte mit brennenden Augen durch Spalten und Fugen der hölzernen Fensterläden herein, neugierig, als wollte sie sich die beiden komischen Kleinstädter ansehen, die da aus dem barbarischen Norden herzugereist gekommen waren.

An Schlafen war für Freda nicht mehr zu denken; lange bevor der Papa sich erhob, lag sie schon im offenen Fenster und blickte auf das quirlende Leben hinunter, das sich da vor ihr entfaltete. Solche Bilder hatte sie noch nie gesehen, solche Töne noch nie gehört. Das war wirklich die Fremde.

Es war ihr zumute, als müßte sie eine andre Natur anziehen, sich andre Organe anschaffen, um die Äußerungen dieses Lebens in sich aufnehmen und ertragen zu können. Markerschütterndes Getöse von den Schiffen – ohrenzerreißendes Geschrei von Straßenverkäufern, die ihre Waren verkündeten. Wagengerassel und die anfeuernden Zurufe der Maultiertreiber.

Und von all den Stimmen, die da zu ihr hinaufdonnerten, krächzten und quiekten, nicht eine, die sie verstand; fremde Menschen, fremde Sprache und Worte, alles und alles fremd.

Zu ihrer Rechten türmten sich die kahlen Berge, die die Stadt umlagern, und unwillkürlich flogen ihre Gedanken über sie dahin. Da oben, weit hinter den Bergen, lag die Heimat und ihr stilles Haus.

Wie anders klopfte dort oben der Frühling an Fenster und Türen als hier!

Hier kam er wie ein glutäugiges Weib, mit entblößter Brust und entfesseltem Haar – dort oben wie eine keusche Maid, die mit weißen, zierlichen Füßen durch die betauten Wiesen schreitet, Veilchen auf ihrem Wege pflückt und sie den schlummernden Menschen lächelnd auf die Betten wirft.

Wie manchmal, wie unzähligemal, wenn die Frühlingsmorgensonne zu ihr hereinblickte, war sie aufgestanden, früher als alle andern Hausbewohner, hatte sich angekleidet und war hinuntergestiegen in den jungen Morgen, in den taubesprengten Garten. Wie still war es da. Wie selig ging es sich im Garten auf und ab!

Nur der Amseln fröhliches Kauderwelsch ertönte aus den Bäumen, und weil sie die schwarzgefiederten Schwätzer so lieb hatte, brachte sie jeden Morgen ganze Hände voll Brotkrumen mit, die sie ihnen auf den Rasenplatz inmitten des Gartens streute. Und dann, wenn der neunzehnte April gekommen war, dies heimliche Lauschen und Erwarten – denn am neunzehnten April, pünktlich wie nach dem Kalender, kamen ja die Nachtigallen. Wenn sie dann einige Tage von der Wanderfahrt gerastet hatten, fingen sie an zu singen, und im Nöhringschen Garten war eine, die jedes Jahr dort einkehrte.

Jedes Jahr geschah es alsdann, wenn Papa Nöhring eines Morgens zum Frühstück herunterkam, daß Freda ihm ganz erregt entgegenflog: »Papa, Papa! die Nachtigall ist gekommen!«

Und jedesmal, bevor sie noch etwas zu sich genommen, eilten sodann alle drei Nöhrings an die Gartentür und standen und lauschten, bis ein flüsterndes »Ja, da ist sie« Fredas Botschaft bestätigte, und jedesmal war es wie ein Familienfest im Hause Nöhring.

Dieses Jahr würde sie nun auch kommen, die Nachtigall, der Tag rückte heran – und niemand würde da sein, sie zu empfangen.

Vom Fensterbrett, auf dem sie mit beiden Armen aufgestützt lag, ruckte Freda empor.

Was sollte denn das alles heißen?

Nichtsnutzige Sentimentalität, die ihr im Blut steckte!

Heimweh wohl gar? Nach was? Nach wem? Nach Therese Wallnow vielleicht? und ihrer Mutter? und ihren roten Ohren?

Oder nach Nanettchen mit den kurzen, dicken Fingern und dem Tränenreservoir? Pah!

Eben hatte sie ihren Willen durchgesetzt, eben war sie frei geworden, und da kamen ihr solche Gedanken!

Solche Gedanken hier, in einem Lande, wo man von Sentimentalität nichts wußte, das Wort wahrscheinlich gar nicht kannte! Wo die Leute sich unter die Bäume stellen, nicht um dem Gesang der Nachtigallen zu lauschen, sondern um sie vom Baum zu schießen, in der Pfanne zu braten und aufzuessen.

Sie lachte vor sich hin.

Zu Hause, wenn sie das von den Italienern erzählen hörte, war es ihr ganz abscheulich erschienen – ah bah – sie raffte mit beiden Händen das lange Haar, das noch aufgelöst um ihren Scheitel hing, zusammen und warf es in den Nacken zurück – andere Länder, andere Leute; andere Leute, andere Sitten – mußte denn alles überall so sein wie bei ihr zu Hause? Keineswegs.

Und wenn man in andere Länder kommt, so muß man eben die Kleinstädterei abtun, die dumme, enge, norddeutsche Kleinstädterei, und die Augen aufmachen und sich Land und Leute ansehen – jawohl – ansehen, auch wenn man dabei Dinge sieht –

Sie war vom Fenster zurückgewichen bis in den Hintergrund des Zimmers, denn soeben hatte sie da unten ein Schauspiel erblickt, wie sie es früher und zu Hause freilich noch nie gesehen hatte.

Gerade unter den Fenstern des Gasthofes, am Bollwerk des Hafens, lag ein Kohlenschiff; Arbeiter waren beschäftigt, die Kohlen auszuladen.

Der Hitze wegen hatten sie sich bis auf die Beinkleider entblößt, so daß sie beinahe nackt einhergingen.

Bei dem Anblick war Freda zurückgefahren; nun stand sie schamrot so weit hinten im Zimmer, daß sie die Männer nicht sehen konnte.

Ein drolliger Kampf entstand in ihrem Innern.

»Kleinstädterei! Deutsche Simpelei und Prüderie!«

So schalt sie sich, so spornte sie mit Verstandesgründen ihr Gefühl – aber das arme Gefühl kroch wie ein Schulmädchen, das sich vor Schlägen fürchtet, in sich zusammen.

»Nein, bitte, nein! Nicht ans Fenster gehen, nicht hinuntersehen!«

Sie biß die Zähne aufeinander.

»Jetzt gerade wird ans Fenster gegangen!« Plötzlich aber drangen ihr die Tränen in die Augen, und sie brach in ein nervöses Weinen aus.

Sie wollte ja nicht weinen! Sie ging im Zimmer auf und ab, schwang die Arme, griff sich ins Haar und warf es wieder und wieder in den Nacken zurück. Aber die elenden schwachen Nerven waren stärker als der starke Verstand, und die arme Walküre mußte weinen und weinen, bis daß sie sich ausgeweint hatte und mit dem nassen Schwamm sich das verweinte Antlitz kühlen konnte.

Während des Ankleidens überlegte sie, warum sie eigentlich geweint hatte.

Sie fand keine Antwort, wenigstens keine bestimmte; nur ein dumpfes Gefühl war da in der Herzgegend, und bei dem wollte sie nicht anfragen. Es war, als fürchtete sie sich vor der Antwort, als würde es heißen: »Der Anfang ist nicht ganz so, wie er hätte sein sollen.«

Jetzt aber waren die Augen wieder klar gewaschen, das reiche blonde Haar zierlich auf dem Haupte geordnet; im Spiegel ihr gegenüber stand die schlanke, schöne Freda – der stolze Nacken fuhr empor, mit der kurzen Bewegung, die ein gewisser Jemand da oben hinter den Bergen so abgöttisch liebte – »ach was! es wird besser werden, immer besser und ganz gut!«


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