Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Sechstes Kapitel

Etwas spät kamen Nöhrings heute zu Tisch; die übrigen Gäste waren schon in voller Tätigkeit.

Der Regierungsrat hielt den Kopf gesenkt. Der Gruß des Gegenübers wurde heute noch kürzer beantwortet als gewöhnlich. Es sah beinahe aus, als hätte er ihn am liebsten gar nicht gesehen.

Ein fragender Blick kam zu Freda herüber.

»Ist etwas vorgefallen?«

Es fehlte nicht viel, so hätte sie ihm zugenickt: »Ja – es ist etwas vorgefallen.«

Sie mußte an sich halten. Nun wußte sie ja mit einemmal, woher die Abneigung des Papas gegen jenen dort drüben kam. Daß sie daran auch nicht früher gedacht hatte!

Aber zugleich regte sich jetzt die Auflehnung in ihr. War sie darum von Hause fortgegangen, um jetzt, weil der Name jenes Menschen zufällig erwähnt worden war, wieder an ihn gekettet zu werden?

In ihrem Gesichte war eine Spannung, als rüstete sie sich zum Kampfe, und dadurch erhielten ihre Züge einen ganz anderen, viel bedeutenderen Ausdruck als den, welchen sie hier bisher gezeigt hatten, den Ausdruck ihrer eigentlichen Natur.

Der Fremde drüben hatte es sofort bemerkt; seine Augen gaben es ihr in unzweideutiger Weise zu verstehen. Und indem sein Blick immer unablässiger auf sie eindrang, schwamm auch der ihre immer rückhaltloser zu ihm hinüber, und es war schon nicht mehr der Blick allein, es war, als löste sich ihre Persönlichkeit mehr und mehr auf, um da drüben von zwei stählernen Armen empfangen und in eine andere Persönlichkeit umgestaltet zu werden. Den Regierungsrat duldete es heute nicht lange auf der Terrasse, unter all den fremden, sorglosen, vergnügten Leuten. Seine Gedanken waren weit fort, da oben, im fernen deutschen Land; da liefen sie umher und suchten, suchten nach dem einsamen, traurigen, verzweifelten Menschen, und fanden ihn nicht.

Er war fort – mein Gott – wie das klang! Wo denn nur hin?

Immer war es ihm, als sähe er ihn bei Benneckes sitzen, wie Tante Löckchen ihn beschrieben hatte, ohne ein Wort zu sprechen, ohne nach jemand zu fragen – Tante Löckchen ihm gegenüber, das Battisttuch zwischen den Händen zerdrückend, Herr Major a. D. Bennecke im Zimmer auf und ab gehend, den Schnurrbart wirbelnd, der freundliche Raum, wo sonst das vergnügte Leben ertönte, voll dumpfem, totem Schweigen, der warme, zärtliche, liebe Mensch kalt, blaß und still –

Mit einem Ruck drehte er sich vom Tisch ab und stand auf. Er konnte hier nicht länger sitzen, unter den gleichgültigen Menschen! Was hatte er überhaupt hier zu tun? Warum war er hergekommen?

Zu ihm hinauf hätte er gehen sollen, in sein einsames Zimmer am Wasser, das hätte er tun sollen, hätte mit ihm sprechen, ihm zureden, ihm sagen sollen, daß er nicht verzweifeln sollte, daß, wer solchen Reichtum zu verwalten hätte wie er, nicht verzagen und verzweifeln dürfte.

Das würde ihn getröstet, vielleicht gerettet haben – denn jetzt – es war ihm, als umwitterte ihn ein kalter Hauch – und er fühlte, daß es in diesem Augenblick nur eine Möglichkeit für ihn gab: sich in seinem Zimmer still hinsetzen, Fenster und Türen schließen, die ganze Welt ausschließen und seine Stücke lesen, seinen Brief, seine Handschrift – wie man sich die Töne einer verklungenen Melodie zusammensucht, wie man sich aus den Sachen eines Menschen sein Bild zurückbeschwört, wenn er nicht mehr da ist, nie mehr da sein wird.

»Willst du schon hinaufgehen?« fragte ihn Freda, als sie ihn aufstehen sah.

Er nickte.

»Aber dir ist's freilich wohl noch zu früh?« meinte er.

Er überlegte.

»Du könntest ja noch ein wenig ins Lesezimmer gehen! Da sind ja illustrierte Zeitungen? Hm?«

Sie würde sich noch ins Lesezimmer setzen – ja, ja. Damit erhob sie sich und begleitete ihn bis an den Fahrstuhl. Im Lesezimmer war sie ganz allein; wer setzte sich bei solcher Wärme in geschlossene Räume?

Als sie ein paar Journale durchgeblättert hatte, klappte die Tür hinter ihr – als sie aufblickte, stand der Fremde ihr am Tisch gegenüber.

Sie hatte kaum Zeit, verlegen zu werden.

»Es ist so heiß hier,« begann er, »ich möchte mir den Vorschlag erlauben, Sie ein wenig am Strande spazierenzuführen? Herrliche Luft draußen.«

So einfach kam das alles heraus, als handelte es sich um etwas ganz Selbstverständliches.

Freda hatte ein Gefühl, als würde es gräßlich kleinstädtisch sein, wenn sie ablehnte.

Sie erhob sich; er bot ihr den Arm, und an seinem Arm ging sie hinaus. Er führte sie nicht über die Terrasse, wo die Gäste saßen und sie sehen konnten, sondern gleich hinten hinaus auf die große Straße und von dieser zum Strand hinunter.

Trotz aller Mühe, die sie sich gab, sich einzureden, daß gar nichts daran sei, daß sie allein mit ihm in dunkler Stunde spazierenging, war ihr der Mund wie verriegelt, und das Herz schlug ihr schwer.

Beide schwiegen, und man hörte nur das Rauschen des Meeres, das gleichmäßig am Ufer brandete, und das Rasseln im Kies, der von den Wellen zum Ufer hinaufgeschleudert wurde und dann mit der abfließenden Welle zurückrollte.

Sie waren ein ganzes Stück in der Richtung gegangen, die sie heute früh gefahren waren.

»Zu weit aber wollen wir nicht gehen«, sagte Freda. Er stand sogleich still. Sie ließ seinen Arm los.

»Ist es nicht der Mühe wert,« fragte er, »sich das anzusehen?«

Er blickte über die See hinaus, über welcher der zunehmende Mond in einer leuchtenden Sichel stand.

»Herrlich –« gab sie leise, beinahe dumpf, zur Antwort. Dann streckte sie die Hand aus und deutete nach vorn.

»Was ist denn das?«

Über dem Wasser gewahrte sie in der Ferne ein Flimmern und Leuchten, das sie sich nicht zu erklären vermochte.

Er blickte in der Richtung, in der sie zeigte.

»Ah so – das ist der Fels von Monako mit seinen Lichtern. Sie haben das noch nicht gesehen?«

»Nein – wie merkwürdig«, entgegnete sie.

Er griff in die Rocktasche.

»Hier zulande muß man eigentlich nie ohne Operngucker ausgehen – darf ich Ihnen den meinigen anbieten?« Er hielt ihr das Glas hin. »Nun werden Sie sehen, wie die Laternen in Zickzacks am Felsen hinaufklettern.«

Freda hob den Operngucker vor die Augen.

»Aber das ist ja ein Märchen!« rief sie. »Vollständig ein Märchen!«

Sie sah einen Felsen, der steil aus dem Wasser emporstieg, so daß er darauf zu schwimmen schien, und dieser Fels war vom Fuß bis zur Spitze von Flammenlinien umgürtet und umrankt, so daß das Ganze, indem es über dem Wasser leuchtete und flimmerte und in dem Wasser sich spiegelte, ganz phantastisch, ganz fabelhaft, beinahe wie ein gläserner, von innen leuchtender Berg aussah, von denen man im Märchen von Tausendundeiner Nacht liest.

»Monako also ist das?«

Sie ließ die Hand von den Augen sinken. »Aber das scheint ja wundervoll zu sein?«

Er lachte mit geschlossenen Zähnen, leise, höhnisch und wie aus unterdrückter Leidenschaft heraus.

»Ob das schön ist? Das ist überhaupt der einzige Ort, wo man leben kann! Wo sich 's noch lohnt! Daneben ist alles andre langweiliger Plunder.«

Er hatte leise, beinahe flüsternd gesprochen. Sein Gesicht hatte sich dem ihrigen genähert. Ob es das weiße Mondlicht war – sein Gesicht sah marmorweiß aus und die Augen darin ganz groß und schwarz. Es war, als wenn eine unbekannte Macht Gewalt über ihn gewonnen hätte.

»Sie haben ja überhaupt gar keine Ahnung,« fuhr er fort, »von all den Wundern, in deren nächster Nähe Sie hier leben – aber das ist erklärlich; wenn man so eingezogen lebt, wie Sie es tun.«

Seine Worte überhasteten sich; seine Stimme klang, als würde sie sich im nächsten Augenblick überschlagen.

Freda fühlte sich einigermaßen unheimlich.

»Ich glaube allerdings,« sagte sie, »daß wir noch recht viel zu sehen haben.«

Sie strengte sich an, einen möglichst gesellschaftsmäßigen Ton zu finden. Dann gab sie ihm das Opernglas zurück.

»Ich denke, wir kehren um? Es wird spät.«

»Wie Sie befehlen«, stieß er hervor. Und ohne ihre Erlaubnis abzuwarten, ergriff er ihren Arm und schlang ihn unter den seinen. Sie fühlte, wie er ihren Arm an sich preßte, daß dieser wie in einer eisernen Zwinge lag.

Eine Zeitlang schritten sie schweigend fürbaß.

»Das ist mir so unbegreiflich,« fing er dann wieder an, »wenn man so von der Natur geradezu auserlesen ist, um in der Welt zu herrschen, und wenn man dahin kommt, wo man die Herrschaft ausüben kann, wie nirgends sonst in der Welt – und wenn man dann dem allem so entsagt und aus dem Wege geht und andern, die daneben gar nicht zu nennen und anzusehen sind, das Feld frei läßt – aber das ist eben die deutsche Bescheidenheit!«

Fredas Brust hob und senkte sich. »Von wem – sprechen Sie denn?« fragte sie gepreßt.

Er hatte vor sich hin gesprochen; jetzt wandte er das Gesicht zu ihr hin.

»Von wem –?«

Er lachte, wie er vorhin gelacht hatte, mit geschlossenen Zähnen.

Freda gab keinen Laut von sich. Sie beschleunigte den Schritt. Er mochte fühlen, daß er sie erschreckt hatte. Jählings verwandelte sich sein Wesen; der Druck seines Armes lockerte sich, und seine Stimme wurde wieder gleichmütig höflich, wie gewöhnlich.

»Das alles habe ich mir nur zu sagen erlaubt, weil ich glaubte. Sie hätten mir heute früh die Erlaubnis erteilt, Ihnen die Umgegend von Bordighera zu zeigen. Und da man nun einmal wirklich diese Gegend nicht kennt, wenn man Monako nicht gesehen hat, so würden Sie mich glücklich machen, wenn ich Sie an einem der nächsten Tage dahin führen dürfte.

»O – ich denke – es würde meinen Vater ja wohl auch interessieren«, gab sie zur Antwort.

Sie hatte das »meinen Vater« betont; sie fühlte die Notwendigkeit, dem da neben ihr die Schranke bemerkbar zu machen, an der er anzuhalten hatte.

»Ganz so hatte ich es mir gedacht«, erwiderte er, indem er sich verbeugte. »Vielleicht nehmen Sie Gelegenheit, mit Ihrem Herrn Vater davon zu sprechen? Es ist eine kleine Eisenbahnfahrt dazu nötig; ich würde mir dann erlauben, den Reiseplan zu entwerfen.«

Er war jetzt wieder die Verbindlichkeit und Artigkeit selbst. Indem sie in die Nähe des Hotels kamen, fühlte er, wie sie ihm den Arm zu entziehen wünschte. Sogleich ließ er sie frei und ging ehrerbietig neben ihr her.

Im Flur des Gasthauses angelangt, verneigte er sich noch einmal, indem er in gemessener Entfernung stehenblieb, mit respektvollem Gruß, mit der gleichgültig unzerstörbaren Höflichkeit, die er bei der Tafel zur Schau trug.

Sein Auge traf noch einmal in das ihrige. »Wirst du mit deinem Vater sprechen?«

»Ich – werde es meinem Vater sagen«, lispelte sie. Dann stieg sie in den Fahrstuhl, und mit wirbelndem Kopfe fuhr sie empor.

Papa Nöhring saß noch immer über seinen Manuskripten, als sie bei ihm eintrat. Sie beugte sich über seine Schulter und küßte ihn leise auf die Stirn.

Ihr war nicht gut zumute; ungefähr wie jemand, der aus einem wüsten Traum zu sich kommt.

Als der alte Mann ihre zärtliche Berührung und ihren Hauch an seiner Wange spürte, richtete er sich auf, warf beide Arme um sie und drückte sie an sich.

»Ach mein Kind – mein Kind – mein Kind.«

Er hatte das Haupt an ihre Brust gelehnt, und seine Worte gingen wie ein Seufzer über sie dahin.

Offenbar, indem er Schottenbauers Stücke las, war die ganze Vergangenheit mit all ihren Hoffnungen und Enttäuschungen wieder in ihm aufgewacht; sein Herz war hungrig geworden und suchte Nahrung.

Eine Zeitlang hielt er Freda schweigend umfangen, dann gab er sie frei.

»Na – hast du dir unten Bilder angesehen?«

»Weißt du, Papachen,« entgegnete sie, »es ist mir eingefallen – wir sollten uns doch einmal Monako ansehen?«

»Monako?«

»Ja, es liegt ja ganz nah von hier und soll ja geradezu märchenhaft schön sein. Man kann eigentlich gar nicht sagen, daß man an der Riviera gewesen ist, wenn man Monako nicht gesehen hat.«

Der Regierungsrat blickte vor sich hin.

»Hm – warum schließlich nicht? Weißt du, wie man hinkommt?«

Eine Flamme zuckte über ihr Gesicht.

»Der – Herr – du weißt ja – hat sich erboten, uns hinzuführen und es uns zu zeigen.«

»Ach so –.« Papa Nöhring versank in Gedanken. »Wir haben ihm heute früh doch eigentlich die Erlaubnis gegeben,« fuhr sie fort, »uns noch weiter in der Gegend umherzuführen. Weil er seine Sache so gut gemacht hatte.«

Sie hatte möglichst leichthin gesprochen. Papa Nöhring hielt das Haupt gesenkt und verharrte noch immer in Schweigen. Plötzlich fuhr er auf.

»Sag' mir bloß einmal – gefällt dieser Kerl dir denn eigentlich?«

Der Ton war so heftig, der Ausdruck so gehässig, daß Freda ganz erschreckt zurückwich.

»Aber mein Gott – was ist denn plötzlich los?«

Der Regierungsrat schlug mit der Faust auf das Papier.

»Ich kann mir absolut nicht denken, daß solch ein Mensch dir gefällt!«

Freda war auf die andre Seite des Tisches getreten; ihre Augen ruhten auf dem Manuskript von Schottenbauers Drama. Hier lag die Erklärung.

Weil sie von ihm nichts hatte wissen wollen, sollte ihr nun auch der andre nicht gefallen dürfen.

Ihre Lippen preßten sich zusammen.

In bußfertiger Stimmung war sie gekommen – jetzt wachte der Trotz wieder in ihr auf. Der Mensch war ihr vorhin selbst unheimlich geworden – jetzt empfand sie ihn als Gegengewicht gegen den andern, und es war ihr, als müßte sie sich an ihn klammern, um jenem zu entgehn.

»Ob er mir gefällt –« sagte sie mit kühlem, beinahe wegwerfendem Ton – »begreife wirklich nicht, wieso es darauf ankommt. Er macht den Eindruck eines anständigen Menschen, ist höflich gegen uns, zuvorkommend, hat uns absolut nichts getan, im Gegenteil, hat uns eine wunderhübsche Partie gezeigt, während wir sonst hier sitzen und vom hellen lichten Tage nichts sehen; was soll man denn schließlich mehr verlangen? Wenn man auf Reisen geht, scheint mir, muß man ein bißchen vorliebnehmen.«

Papa Nöhring sprang auf und ging im Zimmer auf und ab; weil das Zimmer aber zu eng war, gab er das wieder auf und fiel auf seinen Stuhl zurück, stöhnend. Er sah zu seiner Tochter nicht auf; er konnte nicht; ihre kalten Worte waren wie ein greulicher Mißklang in seinem Herzen, in seinem weichen, reichen, warmen Herzen, das in diesem Augenblick nach Menschlichkeit dürstete und sich darum voller Abscheu gegen alles verschloß, was alltäglich, gewöhnlich, konventionell war.

Er schüttelte, wie in dumpfem Staunen, den Kopf. Solche Worte von seiner Tochter, von seinem Fleisch und Blut! Sie erschien ihm plötzlich ganz fremd; zum erstenmal begriff und verstand er sie nicht.

Da oben in der Heimat dieser herrliche Mensch, der ihr die ganze Fülle seines Geistes und seines Herzens wie ein Verschwender zu Füßen legte – und an dem ging sie vorüber, vor dem stand sie da wie ein totes, stummes Götzenbild, das auf seinen Anbeter herniederglotzt, während es, der Gerechtigkeit der Dinge nach, heruntersteigen müßte von seinem Postament und zu ihm sagen: »Steige du hinauf, daß ich dich anbete, denn du bist tausend- und zehntausendmal mehr wert als ich!« Und jetzt hier unten dieser Mensch, dieser Kerl, dieser geschniegelte und gestriegelte Patron, mit dem aufgewichsten Schnurrbart, mit dem Armband und den Ringen an den Fingern, dieser ekelhafte Geck! Und von dem ließ sie sich imponieren, der konnte mit ihr machen, was er wollte, dem lief sie womöglich gar nach – ein Orkan tobte durch seine Seele, eine Erschütterung wie ein Erdbeben. Aber, wie es nun einmal in seiner Natur lag – er konnte nicht sprechen. Der Ausruf vorhin war beinahe unbewußt aus ihm hervorgebrochen – wenn ihr der nicht genug sagte, was sollte er dann noch sagen?

Also verrauschte und verbrauste die ganze Sturmflut der Empfindungen lautlos nach innen, und alles, was erfolgte, war wieder ein langes, drückendes Schweigen, das zwischen Vater und Tochter eintrat.

Und dann siegte wieder die Güte seines Herzens. Er stand auf, nahm ihren Kopf zwischen seine Hände, drückte sie an sich und küßte sie. In der Öde, in der er hier lebte – was blieb ihm denn noch, wenn er sein Kind nicht mehr liebte? Leise klopfte er sie in den Rücken, in seiner alten, gutmütigen Art.

»Meinetwegen,« sagte er leise, »also wollen wir nach deinem geliebten Monako fahren.«

Freda blickte auf. Ob sie ahnte, was in der Seele des alten Mannes vorgegangen war?

Sie legte den Arm um ihn.

»Tust du's aber auch wirklich gern, Papachen?«

Ja, ja – er tat es gern. Warum sollten sie denn schließlich nicht? Monako war ja gewiß sehr schön. Er hatte ja Abbildungen davon gesehen.

»Nun geh nur zu Bett und schlaf, schlaf gut.«

»Wirst du auch schlafen, Papachen?«

Ja, ja – er würde schon schlafen. – »Geh nur – gute Nacht.«

Sie ging und trug ihr Bewußtsein mit sich, daß sie ihm nichts von dem Spaziergang im Dunkeln gesagt hatte, und trug all die seltsame Unruhe mit sich, die seit der Stunde in ihr war, dieses dumpfe Pochen im Herzen, dieses Knistern im Blut, dieses ganze, an Fieber gemahnende Gefühl.

»Gefällt dieser Kerl dir denn eigentlich?« Es ging ihr immer wieder ein Schauder über den Rücken, wenn das Wort ihr zurückkam; solchen Ton hatte sie noch nie aus dem Munde des Vaters vernommen.

Nun und – gefiel er ihr denn?

Unbegreiflich, wenn der Mensch darauf nicht antworten kann – und dennoch Tatsache, daß sie es nicht vermochte.

Was war es denn nur, was von diesem Menschen ausging? Vielleicht das dunkle Bewußtsein, daß er einer ganz andern Welt anzugehören schien als sie, und daß er gerade darum der Rechte sei, um sie aus der Welt zu befreien, die sie bedrückte?

Aber welches war denn seine Welt?

Sie wußte noch immer nicht, wie er hieß, noch nicht einmal, was für ein Landsmann er eigentlich war; das Geheimnisvolle umgab ihn wie die angeborene Natur. Und das Geheimnis reizt, aber es ängstigt zugleich.

Ja, ja – konnte sie es sich verhehlen, daß sie im Grunde der Seele etwas wie Furcht, beinahe wie Grauen empfand? Und dann wieder der sinnbetörende, schmeichlerische Gedanke, daß unter all diesen eleganten, schönen Frauen der verschiedensten Länder sie es war, die ihm den größten Eindruck gemacht hatte – denn ihres Eindrucks war sie ja gewiß.

Diese Worte vorhin, mit dem seltsamen, gellenden Ton – wie hatte er gesagt? daß sie ausersehen sei von der Natur, um in der Welt zu herrschen – hatte sie je eine ähnliche Huldigung empfangen? Und solche Huldigung hier, wo sie gemeint hatte, zufrieden sein zu dürfen, wenn sie, die norddeutsche Kleinstädterin, nicht allzuweit hinter Französinnen, Engländerinnen und Italienerinnen zurückblieb. Und dazu das bleiche Gesicht des Mannes, in welchem die Augen ausgesehen hatten wie Schächte, die in dunkle Tiefe führen.

Ja – so war's – wie dunkle Schächte hatten sie ausgesehen, die Augen.

Dieser Gedanke ging mit ihr zu Bett, und als sie schlief, hatte sie einen Traum sonderbarer Art:

Sie befand sich in einem rabenschwarzen, finsteren Gelaß, zu dem sie auf einer langen Treppe hinuntergestiegen war; es mußte also tief unter der Erde sein, wo sie war. Plötzlich ging ein grelles Licht, ungefähr wie von einer Magnesiumflamme, auf, nun blickte sie umher und sah, daß sie in einem Keller stand, und ringsherum lagen und standen Gegenstände, die sie nie gesehen hatte, fremdartig, unbekannt und unheimlich. Und nun überkam sie, kaum wußte sie warum, ein Gefühl, als befände sie sich an einem gräßlichen Orte, eine Todesangst ergriff sie – fort von hier – hinaus! – und in Schweiß gebadet, wachte sie auf.


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