Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Elftes Kapitel

Seit dem Abend, an welchem Schottenbauers Stück zum erstenmal in Berlin aufgeführt worden war, herrschte in dem Theater, in dem es seitdem ohne Unterbrechung wiederkehrte, eine ganz eigentümliche, gehobene, beinahe andächtige Stimmung.

Der Direktor, von dem eine Sage behauptete, daß er vor vierzehn Tagen noch ein ganz magerer Mann gewesen wäre, ging allabendlich, sobald die Kasse eröffnet war, wie ein Vollmond in sanftem Silberlicht in den Räumen seines Kunsttempels auf. Nie anders als im Frack, in weißer Krawatte und weißer Weste. »Denn wenn die Geschichte so weitergeht, haben wir nächstens den Hof hier – und dann muß man angezogen sein.«

Er trat in die Kasse, er stand hinter dem Kassierer und sah, wie der Strom der Besucher am Schalter vorüberzog, sich in Tropfen niederschlagend, die als Ein-, Zwei- und Dreimarkstücke in der Kasse liegenblieben. Man wollte bemerkt haben, wie er in stiller Rührung die Hände über der weißen Weste faltete und etwas bemerkte, als ob er betete. Ein Gebet war es aber nicht, sondern nur ein staunendes, beinahe ungläubiges Flüstern: »Und dabei ein Trauerspiel in Versen!«

Von der Kasse wandelte er sodann mit kurzen, raschen Schritten durch die Flure, an den Garderoben vorüber, wo die Mäntel und Hüte sich häuften, zwischen den Logenschließern hindurch, die ihn mit ehrfurchtsvoll-vertraulichem Lächeln begrüßten. Auf allen Gesichtern war dieses heimliche Schmunzeln, dieses unausgesprochene Staunen, dieser »Silberblick« des Daseins.

Und endlich erschien er dann auf der Bühne, wo sich die Darsteller, in Kettenpanzern und mit Schwertern, rasselnd versammelten, vorläufig noch vielfach mit Kneifern auf der Nase, die erst nachher, wenn der Vorhang sich erhob, dem brillenlosen Mittelalter wichen.

Mit sanftem Gruße trat er in ihre Mitte, und mit dem leisen Ton eines Mannes, der aus Erfahrung weiß, daß man das Glück nicht »beschreien« darf, sprach er das bedeutungsvolle Wort: »Wir haben ein ausverkauftes Haus.«

Wie ein elektrischer Strom ging das Wort von der Bühne bis in die entfernteste Garderobe, und mit Feuereifer schritt man ans Werk.

Es war aber auch wirklich eine Freude, mit dem Stück zu arbeiten. Das Publikum, das alle Räume des Theaters füllte, saß fast wie in der Kirche, in lautloser Andacht lauschend, solange der Akt dauerte, um dann, wenn der Vorhang niedergegangen war, in einen Sturm des Beifalls auszubrechen, der die Schauspieler wieder, wieder und immer wieder hinter dem Vorhang hervor an die Rampe trug.

An dem heutigen Abend war die große Orchesterloge nahe der Bühne ebenfalls voll besetzt. Sechs Personen hatten darin Platz genommen, die, wie es schien, zueinander gehörten, drei Damen und drei Herren.

Die Damen saßen in der vorderen Reihe; eine ältere, kleine, in ihren grauen, hängenden Locken etwas altmodisch aussehende in der Mitte; eine sehr junge, sehr niedliche, mit neugierigen Augen in das Parkett blickende links, und eine schlanke, blasse, ernst dreinschauende Dame rechts von ihr. Diese letztere, deren fein behandschuhte Hand auf der Brüstung ruhte, saß in die Logenecke gedrückt, keinen Blick auf das Publikum wendend, sondern die Augen, beinahe starren Blicks, auf den Vorhang gerichtet.

Der alte Mann, der hinter ihr saß, verhielt sich ebenso schweigsam wie sie, und jedenfalls schweigsamer als der joviale Alte in weißem Schnurr- und Knebelbart, der links von ihm und zwischen ihm und einem hübschen, jungen, eleganten Mann saß, welcher sich fortwährend zu der niedlichen Kleinen vor ihm hinüberbeugte und ihr alle möglichen Tollheiten ins Ohr flüsterte. Tollheiten wenigstens schienen es zu sein, da die Angeredete in beständigem Kichern blieb und von Zeit zu Zeit mit dem Fächer nach hinten langte, um dem Sprecher einen zärtlich verweisenden Klaps zu verabfolgen. Übermäßig schienen diese beiden nicht gerade bei der Sache zu sein.

»Nu kann's aber losgehn«, sagte Herr Major a. D. Bennecke laut, indem er sich mit beiden Händen auf die Knie schlug.

»Ob denn Schiller da sein mag? Hat jemand ihn gesehen?«

Tante Löckchen drehte sich um.

»Alter Mann,« eiferte sie, »sprich doch hier nicht so laut per ›Schiller‹ von ihm; das gehört sich hier doch nicht.«

»Na, mein Gott,« brummte der Gescholtene, »ist doch schließlich keine Schande.«

Weitere Erörterungen wurden abgeschnitten, denn das Klingelzeichen erscholl, das den Beginn der Vorstellung verkündete.

Über das Gesicht des schweigsamen alten Mannes ging ein Rucken und Zucken, seine Augen brannten auf; der Vorhang schwebte empor.

Und nun waren zwei Menschen in dem weiten Hause, die jählings vergaßen, daß sie mitten unter Menschen, als Zuschauer in einem Theater saßen, die sich plötzlich einsam fühlten, wie jemand sich fühlen würde, der von der Erde auf einen andern Planeten versetzt wird, die mit stummen, staunenden Augen in der Welt umhergingen, die der zauberkundige Mann, der Dichter, da vor ihnen aufgebaut hatte.

Der erste Akt war vorüber, und ein Orkan brauste aus dem Hause gegen den niedergelassenen Vorhang an.

Herr Major a. D. Bennecke, Tante Löckchen, Percival und Therese klatschten wie besessen; alle Hände in der Orchesterloge schlugen ineinander, alle, mit Ausnahme derer, welche dem schweigsamen alten Mann und seiner Tochter gehörten. Diese beiden klatschten nicht, diese beiden saßen wie erstarrt; in den Augen des alten Mannes aber glitzerte es wie von Tränen.

Nach kurzer Unterbrechung ging es weiter.

»Ganz so wie damals,« dachte Papa Nöhring für sich, »als er sein Stück auch beinahe ohne Pausen vorlas.«

Und die Erinnerung kam ihm, wie er bei ihm gesessen hatte, an seinem runden Tisch, wie er ihm ein Kissen hatte unterlegen müssen, weil er ja kaum viel länger war als seine lange Manuskriptrolle, und wie die blaue Blume sich vor ihm aufgeschlossen und er ein Wunder erlebt hatte mitten im wunderlosen neunzehnten Jahrhundert.

Und so wie bei ihm, so klopfte auch bei seiner Tochter, bei Freda Nöhring, die Erinnerung wieder an; aber eine andere, die Erinnerung an die Nacht nach jener Vorlesung, als sie mit geschlossenen Augen im Bett gelegen hatte und vor ihren geschlossenen Augen das Stück emporgestiegen war, dunkel leuchtend wie der rote Mond in der Sommernacht, als sie sich dagegen gesträubt und gewehrt hatte und schließlich davor erlegen war in knirschender Ohnmacht.

Nach dem zweiten Akt war große Pause.

Percival schoß hinaus, um den Damen Erfrischungen zu holen, und nun griff Papa Nöhring zum Operngucker und richtete den Blick in das Publikum. Er fing an zu suchen.

War er denn nicht im Theater? Nicht bei seinem Werk? Würde nicht plötzlich die Logentür aufgehen und – einer hereintreten – der –

Aber er fand nichts; niemand kam; und als die Logentür sich auftat, waren es nur Percival, der mit zwei Gläsern Limonade erschien, und Herr Major a. D. Bennecke, der draußen »ein Seidel« gemacht hatte.

»Nichts zu sehen von dem Schiller,« erklärte er, indem er sich den Schnurrbart wischte, »scheint wirklich nicht vorhanden zu sein.« Das Publikum suchte seine Plätze wieder auf; die Vorstellung ging weiter; das Stück rollte zu Ende.

Nachdem der Vorhang zum letztenmal gesunken war, brach der Enthusiasmus noch einmal und jetzt beinahe wütend aus. Die Leute blieben in den Sitzreihen stehen; drei-, vier- und fünfmal mußten die Darsteller an der Rampe erscheinen, dann kamen vereinzelte Rufe »Schottenbauer!« Sobald der Name einmal genannt war, sprang er, wie im Widerhall, aus allen Ecken des Theaters auf, und plötzlich ging ein einziger donnernder Schrei durch das Haus: »Schottenbauer!«

Es war ja eigentlich etwas ganz Ungewöhnliches, da man den Dichter nur am ersten Abend herauszurufen pflegt, aber für die Menschen, die heute im Theater waren, wurde das Stück zum erstenmal aufgeführt, und das Stück selbst und alles, was damit zusammenhing, war ja etwas ganz vom Herkömmlichen Abweichendes, ganz Ungewöhnliches, also wollten sie den Dichter des Werkes sehen, das sie so merkwürdig bewegt hatte.

Die Insassen der Orchesterloge hatten sich erhoben. An der Logenbrüstung stand Freda und sah in das Parkett, wo die Menschen sich abarbeiteten und klatschten und tobten. Es war ihr, als erlebte sie ein Märchen.

Noch kein Jahr war es her, seitdem sie zum erstenmal den Namen gehört hatte; so absonderlich war er ihr erschienen, beinahe lächerlich – und nun war er ein Gemeingut der Welt; wie etwas Selbstverständliches erschien es, daß jeder ihn kannte und wußte, wer »Schottenbauer« war.

Es war ja derselbe Name wie früher, und doch, wie so ganz anders ertönte er, da er jetzt wie ein Kriegs- und Triumphschrei aus dem Munde der Masse kam; der Erzklang des Ruhmes war darin.

Immer länger und beharrlicher rief das Publikum nach dem Dichter. Eine zarte Röte stieg in Fredas Wangen auf, die Röte der Erwartung – würde er kommen?

Endlich rauschte der Vorhang noch einmal auf – eine plötzliche gespannte Lautlosigkeit trat an die Stelle des bisherigen Lärms – an der Rampe stand ein wohlbeleibter Mann in schwarzem Frack, weißer Krawatte und weißer Weste. Eine allgemeine Enttäuschung summte durch das Haus – nicht der Dichter, sondern der Theaterdirektor war das.

Nach allen Seiten verneigte er sich, »einem hochverehrten Publikum dankend, dankend, dankend für diese großartige Kundgebung des Beifalls, von welcher er dem Dichter, der leider, leider, leider nicht anwesend sei, Mitteilung machen würde«.

Wieder senkte sich der Vorhang, und mit murrendem Brausen entleerte sich nun das Haus.

Nöhrings und Benneckes harrten in ihrer Loge aus, bis der Strom sich einigermaßen verlaufen haben würde. In Gedanken versunken stand Freda.

Er war also wirklich nicht gekommen. Obschon eine tausendköpfige Menge ihn rief. Ja, ja – wie hatte doch Percival von ihm gesagt, als er zuerst von ihm sprach? Daß er noch nie einen Menschen gesehen hätte, der so wenig eitel gewesen wäre.

Merkwürdig, wie alles sich wiederholte: damals, als er bei ihnen sein Stück vorgelesen hatte, war ja auch die ganze Zuhörerschaft voller Begeisterung auf ihn eingedrungen, alle, mit Ausnahme einer einzigen. An allen war er vorbeigegangen, und zu dieser einen, die ihm kein Wort gesagt hatte, war er herangetreten und hatte sie leise gefragt, ob ihr sein Werk gefallen habe. Und was hatte sie erwidert? Ein schnippisches Wort, über das sie sich nachher noch gefreut hatte, weil sie fühlte, daß es ihm weh tat.

Mein Gott, mein Gott – wie kindisch war sie doch bisher durch das Leben gegangen!

Der eiserne Vorhang, der rasselnd niederging, mahnte die kleine Gesellschaft, daß es nun auch für sie Zeit würde, das Haus zu verlassen. Man machte sich auf; jeder Herr nahm seine Dame an den Arm; Papa Nöhring seine Tochter.

Als sie an die Ausgangspforte des Theaters gelangt waren, machte Papa Nöhring, der mit Freda vorausging, mit einem Ruck halt.

Neben der Tür, halb in die Ecke gedrückt, wie jemand, der den andern sehen und nicht selbst gesehen sein will, stand ein Mann – und dieser Mann war Schottenbauer.

Er hatte den Mantel umgehängt, einen weichen Filzhut tief in die Stirn gedrückt; unter dem Hutrande flimmerten die heißen Augen, die er auf den Regierungsrat, und dessen Tochter gerichtet hielt.

»Schottenbauer«, stammelte Papa Nöhring. Der Name kam tonlos von seinen Lippen. Er ließ den Arm sinken, an dem er seine Tochter führte. Gesenkten Hauptes, ganz erblaßt, stand Freda neben ihm.

Ein Sichverstecken war nicht mehr möglich. Mit einer zögernden Bewegung trat Schottenbauer heran, dann, als überkäme ihn jählings eine übermächtige Gewalt, schoß er auf den alten Mann zu und packte seine Hand mit beiden Händen.

»Herr Regierungsrat – sind Sie – glücklich heimgekehrt?«

Seine Stimme bebte; mit einem Griff zog er Papa Nöhring einen Schritt weiter, auf die nachtdunkle Straße hinaus, als wollte er dem Lichte und den neugierigen Blicken der Menschen entfliehen.

»Herr Regierungsrat« – er hielt den alten Mann an beiden Ellenbogen gefaßt – »Herr Regierungsrat« – es sah aus, als wollte er ihn auf offener Straße umarmen, aber er hielt an sich. Der Hut hatte sich ihm in den Nacken geschoben – ob es das weiße elektrische Licht war, das über der Theaterpforte leuchtete –, sein Gesicht sah blässer aus als früher, und magerer.

Papa Nöhring war nicht weniger benommen als er.

»Schottenbauer,« flüsterte er hastig, »wir bleiben die Nacht in Berlin, im ›Kaiserhof‹, sind heute abend noch zusammen, kommen Sie mit uns, kommen Sie!«

Schottenbauer trat zurück. Freda war hinzugekommen; er schien zu zögern. »Wenn es – Ihnen nicht unangenehm ist«, sagte er schweren Tones, indem er sich gegen sie verneigte. Sein Blick war an ihrer Gestalt hinuntergefahren, ohne an ihrem Gesicht zu haften.

Sie war so befangen, daß sie kaum wußte, was sie tat, als sie ihm zögernd die Hand hinstreckte.

»Es würde mich sehr freuen,« sagte sie leise, »wenn Sie kämen.«

Er hob das Haupt zu ihr auf, er ergriff ihre Hand. Freda hatte die Handschuhe angezogen – durch das Leder des Handschuhes hindurch fühlte sie die glühende Wärme seiner Hand – und in diesem Augenblick wußte sie alles; wußte, warum er nach der Wohnung am Wasser zurückgekommen war, warum er dort gesessen hatte, den ganzen Sommer hindurch, vom Morgen bis zum Abend, und wußte, daß die Flamme in ihm nicht erloschen war, sondern brennender loderte denn je. Einen Augenblick noch hielt er ihre Hand; dann kamen Benneckes mit Percival und Therese. Er ließ sie los und trat rasch zu dem Regierungsrat.

»Gehen Sie voraus, bitte – ich komme nach.«

Es war ihm unmöglich, jetzt die andern zu begrüßen; er wandte sich ab und verschwand im Dunkel.

Eine halbe Stunde später war man im »Kaiserhof«, wo Percival einen abgesonderten, kleinen Salon besorgt hatte.

Unterwegs hatten er und Benneckes von dem Zusammentreffen mit Schottenbauer erfahren. Tante Löckchen war wütend.

»Solch ein Mensch – so vor seinen Freunden davonzulaufen!« – Aber er sollte es zu hören bekommen, wenn er heute abend käme – er käme doch auch sicher?

»Ja, ja,« beruhigte Papa Nöhring, »er hat's versprochen.«

»Na, ist gut,« erklärte sie, »er soll's schon merken. Wie Eis werde ich sein! Wie Eis!«

»Bin neugierig, wie du das anstellen wirst«, meinte Herr Major a. D. Bennecke. »Wie ich das anstellen werde – ?«

Aber im Augenblick, als sie es erklären wollte, wurde die Tür von außen aufgetan und mit einem »Hurra, da ist er!« stürzte Percival hinzu und riß ihn an beiden Händen herein.

Mit einem verlegenen und doch glückseligen Lächeln stand er mitten im Salon, von einem zum andern blickend mit den alten schalkhaft schüchternen Augen des einstigen kleinen Referendars Schottenbauer.

»Aber daß Sie heute abend nicht rausgekommen sind,« erklärte Herr Major a. D. Bennecke, »als das Publikum nach Ihnen schrie, das war nicht recht, wahrhaftig!«

Er hatte ihm beide Hände auf die Schultern gelegt.

»Meine Frau, von der kriegen Sie kein gutes Wort mehr zu hören, so wütend ist sie auf Sie.«

Schottenbauer trat auf sie zu.

»Sind Sie mir wirklich so böse?«

Tante Löckchen saß auf dem Sofa. Sie drehte das Batisttüchlein in den Händen, als wollte sie einen Zopf daraus winden.

»Sie – abscheulicher Mensch! Was hab' ich gesagt? Wenn Sie erst in Berlin sein werden, und in Ruhm waten werden, wollen Sie von Ihren alten Freunden nichts mehr wissen. Höchstens Nöhrings sind noch für Sie da! Nicht wahr? Aber Benneckes – was sind Benneckes?«

Statt aller Antwort ergriff er ihr weißes, gepolstertes Händchen und führte es stumm an die Lippen. Dabei wurde er feuerrot und sah sie mit einem Blick an –

Als Tante Löckchen den Blick sah, war sie wie umgewandelt, flog vom Sofa empor und mit ausgebreiteten Armen um seinen Hals.

»Kindchen, Kindchen – Sie sind ja ein gottbegnadeter Mensch!«

»Das Eis schmilzt!« rief Herr Major Bennecke, indem er auf die Gruppe zeigte.

Und er hatte recht; das Eis schmolz; man sah es sogar, denn zwei dicke Tränen liefen an Tante Löckchens runden Wangen herab. »Es schmilzt,« wiederholte Percival, »und damit es nicht wieder zum Stehen kommt, wollen wir uns jetzt setzen!«

Er gab ein Klingelzeichen; die aufwartenden Kellner stürmten herein; man ging zum Abendessen.

»Wie wollen wir sitzen?« fragte Herr Major a. D. Bennecke.

Eine kurze Pause entstand – Tante Löckchen überlegte.

»Der Schottenbauer«, erklärte sie dann, »soll entscheiden; zwischen wem wollen Sie sitzen?«

Er wollte eine Einwendung machen, aber sie ließ keine gelten.

Freda war einen Schritt zurückgetreten; es zuckte ihr am Herzen. Jetzt atmete sie auf – Schottenbauer reichte Tante Löckchen den Arm.

»Zum Zeichen, daß Sie mir nicht mehr böse sind«, sagte er.

Tante Löckchen strahlte über das ganze Gesicht.

»Aber wer kommt an die andere Seite?«

Schweigend richtete er sich auf, und seine Augen suchten den Regierungsrat Nöhring.

Dieser, der die ganze Zeit über mit still beglücktem Gesicht gestanden hatte, kam heran und faßte seinen Kopf zwischen beide Hände.

»Schottenbauer – Schottenbauer – dieser Abend – daß wir diesen Abend zusammen –«

Er konnte nicht weitersprechen – mit einem Räuspern, das ihm die ganze Kehle durchrasselte, setzte er sich an Schottenbauers Seite nieder. Gegenüber von diesem saß Freda.

Wenn Schottenbauer sie zu führen verlangt hätte, würde sie sich gefügt haben – daß er es nicht getan hatte, das empfand sie wie ein Zeichen des Zartgefühls von seiner Seite.

Und nun sah sie das Gesicht des alten Vaters, das beglückte Gesicht, und die Erinnerung kam ihr, wie sie mit ihm von Monte Carlo nach Bordighera zurückgefahren war, und wie gramvoll dieses selbe Gesicht in den Wagenkissen gelegen hatte. Mein Gott, mein Gott – dort neben dem Vater der Mensch, war er denn nicht die Quelle, aus der das geliebte, greise Leben sich Verjüngung trank? Mußte sie ihm nicht dankbar sein?

In diesem Augenblick war es, als Schottenbauer beinahe der Atem versagte. Freda Nöhring beugte sich über den Tisch zu ihm hinüber.

»Herr Schottenbauer« – es war das erstemal, daß sie ihn bei Namen anredete –, »ich bin Ihnen noch zu besonderem Dank verpflichtet. Der Papa hat Ihre beiden Dramenmanuskripte auf die Reise mitgenommen, und sie haben ihm da unten in der Fremde gute Stunden bereitet.«

Ihm war, als träumte er.

Dieser tiefe, klangvoll metallische Ton der Stimme, diese Worte voll ernster, gehaltvoller Anerkennung – wo kam das alles plötzlich her? Aus derselben Seele, die sich vor ihm verschlossen hatte wie eine kahle Wand? Aus demselben Munde, dessen stolz geschwungene Linie ihm gegenüber eine Bogensehne gewesen war, die Pfeile schoß?

Er vermochte kein Wort hervorzubringen und blickte ihr lautlos ins Gesicht. Das tiefe Leuchten aber, das in seinen Augen aufging, sagte ihr, was er empfand.

Woher diese Wandlung? Weil sie den heutigen Abend im Theater, und seinen Triumph erlebt hatte?

Allmächtiger Gott – dann war der Erfolg freilich ein wahrer, ein ungeheurer Erfolg gewesen! In seiner Seele stand das Wonnegefühl auf, dem kein anderes gleichkommt, das Gefühl des Mannes, der seine Kraft empfindet.

Und nicht anders als ihm erging es der übrigen Gesellschaft. Alle empfanden die Worte Fredas wie ein Ereignis, und ein unwillkürliches Schweigen trat ein.

Percival war es, der die Stille in seiner Weise unterbrach. Ein schmetterndes Klingelzeichen ertönte von seiner Hand, und unmittelbar darauf, wie auf ein Signal, das sie erwartet hatten, brachen die Kellner mit Champagnerflaschen und Eiskübeln herein.

»Was wird denn das?« hieß es, »was wird denn das?« »Was das wird?« Percival stand mit gebieterischer Gebärde am Tisch aufgerichtet. »Das ist der ehemalige unbesoldete Referendar, jetzt wohlbesoldete Assessor Nöhring, der die versammelte Gesellschaft auf ein Glas Sekt einladet und sie auffordert, mit ihm auf das Wohl des einstigen unbesoldeten Referendars, jetzt tantiemenüberschütteten Dichters Schottenbauer anzustoßen.«

»Ein famoser Bengel!« donnerte Herr Major a. D. Bennecke, »immer das richtige Wort zur richtigen Zeit!«

Alle Gläser stürmten an Schottenbauers Glas.

»Ich habe wirklich vergessen,« wandte sich dieser an Percival, »dir zum Examen und zur Verheiratung zu gratulieren.«

»Das hast du allerdings getan,« erwiderte Percival, indem er ihm auf die Schulter schlug, »aber darum keine Feindschaft nicht! Im übrigen habe ich Mittel, um mich an dir zu rächen: ich arbeite, damit du es weißt, in Steuersachen an unserer Regierung, und weil man in Erfahrung gebracht hat, daß du immer noch Hausbewohner in unserer löblichen Regierungsstadt bist, so bist du mir als Steuerschraubenzieher verfallen!«

»Ja, nun sagen Sie mal,« krähte Tante Löckchen dazwischen, »was das für Geschichten mit Ihnen sind, daß Sie da in Ihre alte Wohnung zurückkommen und darin sitzen und alle Abend Ihre Lampe anbrennen und von Ihren alten Freunden keinem Menschen ein Wort sagen? Ist das alles wahr?«

Schottenbauer erglühte in Verlegenheit.

»Es – ist schon wahr.«

»Und die ganze Zeit haben Sie gearbeitet?« fragte Papa Nöhring. »Da ist wohl wieder ein ganzes neues Stück fix und fertig geworden?«

Schottenbauer nickte.

»Das zweite Stück, das ich Ihnen damals vorgelesen habe, das hat nun das Königliche Schauspielhaus in Berlin angenommen.«

Papa Nöhring schlug auf den Tisch. »Hat es? Hat es wirklich? Hat es 'rangemußt? Sehen Sie, was Sie den Abend damals gesagt haben: sie würden doch einmal kommen müssen!«

Schottenbauer lächelte.

»Ja – und es hat gleich noch eins dazu angenommen.«

»Fiducit, prost!« rief Percival, indem er um den Tisch lief und alle Gläser bis zum Überschäumen füllte.

»Fiducit, prost! Das ist ja riesig! riesig!«

Wieder klirrten die Gläser zusammen, und alles blickte auf den Menschen, der wie ein Wundertier zwischen ihnen saß.

Papa Nöhring lachte vor Vergnügen laut vor sich hin.

»Kommen Sie denn nun gleich wieder mit uns nach Hause?« fragte er.

»Noch nicht gleich«, versetzte Schottenbauer. »Das Stück, das Sie heute gesehen haben, wird jetzt an verschiedenen Bühnen vorbereitet; dazu will ich hinreisen, und das kann immerhin ein paar Wochen dauern.«

Er machte eine Pause.

»Aber nachher – hatte ich allerdings die Absicht – und – wenn Sie dann erlauben –«

Er hatte das Gesicht auf den Teller gesenkt; eine dunkle Glut überflammte seine Stirn; die letzten Worte waren kaum vernehmlich gewesen. Papa Nöhring aber hatte verstanden, Papa Nöhring und eine andere auch, Freda.

Percival war es wieder, der über das augenblickliche Herzstocken hinweghalf.

»Aber das bitte ich mir aus, Schottenbauer, wenn du herüberkommst, daß du dir die ›huschliche, muschliche‹ Wohnung ansiehst, wo der Regierungsassessor Nöhring mit seiner Gemahlin Therese, geborenen Wallnow, wohnt. He?«

»Das versteht sich«, erwiderte Schottenbauer.

Percival stieß mit ihm an, dann schlang er den Arm um seine junge Frau.

»Sie dürfen mir einen Kuß geben, Frau Therese Nöhring, geborene Wallnow.« »Du Laps«, erwiderte Therese, indem sie ihm lachend mit dem Fächer über die Wange strich.

Percival fuhr pathetisch empor.

»Ha, dieser Streich – wie er gerochen werden soll, dieser Streich – heißt es nicht so bei Franz Moor? – Kinder« – unterbrach er sich –, »wie wär's, ich bin gerade in der Stimmung, soll ich euch einmal den Franz Moor hinlegen? oder Richard den Dritten?«

Alles lachte. Man merkte, daß er allerdings sehr in der Stimmung war. Schon vor dem Theater, beim Mittagessen, hatte er tüchtig den Humpen geschwungen, und jetzt hatte er sich auch nicht dürsten lassen.

»Ein andermal, Junge«, meinte Papa Nöhring.

»Na ja, ist auch richtig«, erklärte Percival. »Hier wo jetzt der Schottenbauer dominiert, darf man mit andern Dichtern nicht kommen. Aber, Schottenbauer, das sage ich dir, wenn du zu uns kommst, veranstalten wir ein riesiges Zauberfest, ganz riesig, sage ich dir! Bis dahin habe ich deine Stücke auswendig gelernt, und dann sollst du deine Verse mal zu hören bekommen, anders als heute von diesen elenden Mimen, das kann ich dir sagen!«

Er war in eine Stimmung geraten, die nicht mehr weit vom Randalieren entfernt war, und fing an zu prahlen.

Daran erkannte man, daß es Zeit war, die Sitzung aufzuheben.

Man stand auf; man rüstete sich, auseinander zu gehen.

Von dem Regierungsrat verabschiedete sich Schottenbauer zuletzt; an der Tür standen sie beisammen; Papa Nöhring hielt seine Hand.

»Also – auf Wiedersehen?«

»Auf Wiedersehen.«

Der Atem ging ihm schwer. Jetzt endlich war er wieder mit den beiden allein, um derenwillen er eigentlich hergekommen war. Schweigend neben dem Vater stand Freda.

Je lauter der Bruder wurde, um so stiller war sie geworden. Der stolze Nacken war gesenkt, das einst so kecke Antlitz in Traum verloren; die Augen, die früher der Welt so übermütig ins Gesicht gesehen, blickten in Hilflosigkeit.

Schottenbauer sah sie an – welch einen neuen Ausdruck sie bekommen hatte! Wie dieser Ausdruck süßer Schwäche ihr stand! Wie ein Hammer schlug ihm das Herz. Er streckte ihr die Hand hin.

»Auf Wiedersehen?« fragte er leise.

Sie legte die Hand in die seinige; ihre Hand zuckte und zitterte.

»Auf Wiedersehen«, hauchte sie.

Dann zog sie die Hand zurück und drückte das Gesicht an die Schulter des Vaters. Eine Flamme loderte, um sie zu verschlingen – sie hatte zu der Flamme gesagt: »Fall über mich, ich bin bereit.«


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