Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Neunzehntes Kapitel

Es war wirklich ein famoses Diner; ein Völkerfest, wie Percival es angekündigt hatte.

Daß Tante Löckchen da war und Herr Major a. D. Bennecke, verstand sich von selbst. Mutter Wallnow und Fräulein Nanettchen rechneten ebenfalls zum Hausrat. Außerdem aber waren noch andre da, noch viele.

Beinahe das ganze Regierungskollegium war eingeladen. Die kleine Wohnung reichte für die Menge von Gästen kaum aus; man hatte im Salon anrichten müssen, und auch der Salon war halb ausgeräumt worden, um Raum zu schaffen.

Aber das störte die Gemütlichkeit nicht; im Gegenteil.

Gastereien, die man sich gegenseitig gab, bildeten ja den Hauptbestandteil der winterlichen Vergnügungen in der Stadt; mit Percival und seinem netten jungen Frauchen wuchs eine schätzbare Kraft hinzu; der gesellige Kreis erweiterte sich. Als Papa Nöhring mit seiner Tochter erschien, waren die übrigen Geladenen schon ziemlich vollzählig versammelt; ein Stimmengewirr erfüllte die engen Zimmer; allen Gesichtern sah man an, daß es heut abend gemütlich werden sollte, sehr gemütlich.

Therese hatte die Ankömmlinge begrüßt und war sofort beim Anblick Fredas in laute Bewunderung ausgebrochen.

»Percival! komm bloß und sieh die Pracht!«

Freda hatte Schottenbauers Halsschmuck angelegt.

Sie hatte lange mit sich gekämpft und anfänglich nicht gewollt; dann aber hatte eine andre Überlegung gesiegt.

Nein, nein – sie mochten es nur erfahren, diese Menschen, daß sie es von ihm hatte, sollten es sogar. Sie sollten erkennen lernen, was er mit seines Geistes Kraft zustande zu bringen vermochte, der kleine abgegangene Referendar, und sollten wissen, daß sie stolz auf ihn war.

Sorgfältig hatte sie Toilette gemacht. Das ausgeschnittene weiße Seidenkleid hatte sie angelegt und sein Halsgeschmeide; ganz so, wie sie neulich vor ihm gestanden hatte, wollte sie heut aussehen. Wenn er auch nicht zugegen sein würde, um sie zu sehen – sie schmückte sich dennoch für ihn. Das süße, heimliche Gefühl des Weibes war in ihr, das sich geliebt weiß und dem die eigene Persönlichkeit nicht mehr als ausschließliches Eigentum, sondern halb und halb schon als das Besitztum des andern erscheint.

Kein Wunder daher, daß, sobald sie eingetreten war, sich ein staunender Kreis um sie gebildet hatte; und während die andern ihren Beifall in diskreten Tönen zu erkennen gaben, schwang sich Nanettchens Stimme bis an die Zimmerdecke empor.

»Nein, aber sag' mir, einzigstes Kind, das hast du wirklich von ihm?!«

Dann wandte sie sich zu den übrigen.

»Kinder Gottes, man soll nicht sagen, was aus dem Menschen werden kann! Wer dem Mann das zugetraut hätte, als er hier noch umherlief!« »Und heute abend,« mischte sich Percival jetzt ein, »wird schon wieder ein Stück von ihm in Berlin aufgeführt, am Königlichen Schauspielhaus.«

»Ein Lope de Vega an Produktivität,« erklärte der literarisch gebildete Oberregierungsrat, der Lenker des Amts- und Kreisblattes, »hoffen wir nur, daß er nicht der Überproduktion anheimfällt und ein Vielschreiber wird.«

Freda sah den Mann an, dem dieser Gemeinplatz so salbungsvoll über die Lippen ging. Sein ausrasiertes Kinn, von zwei Bartkoteletten eingefaßt, sah in der Tat wie eine Landstraße aus, auf welcher Trivialitäten einherstolzieren.

Herr Major a. D. Bennecke war es, der ihr die Mühe abnahm, dem Oberregierungsrat zu antworten.

Er klopfte dem besorgten Mann lachend auf die Schulter.

»Mein wertester Herr Oberregierungsrat, den Schottenbauer, den kenn' ich; den lassen Sie nur gehen, wie der sogenannte Spiritus ihn treibt; der ist klüger, kann ich Ihnen sagen, als Sie und ich zusammen.«

Alles lachte, der Oberregierungsrat lächelte. Herr Major a. D. Bennecke genoß nun einmal das Vorrecht in der Gesellschaft, Wahrheiten zu sagen.

»Er wird doch telegraphieren?« wandte er sich an Papa Nöhring.

»So denk' ich«, entgegnete dieser.

Und nun endlich erschien Mutter Wallnow und flüsterte ihrer Tochter zu, daß sie ihre Gäste auffordern könne, sich in Bewegung zu setzen; alles war fertig. Sie spielte dem jungen Haushalt gewissermaßen die Haushofmeisterin. Also schritt man zu Tisch. Es war halb sieben vorüber, als man zum Sitzen kam.

Und nun begann eine Mahlzeit, von der Freda vom ersten Augenblick an empfand, daß sie dauerhaft sein würde. Sie kannte ja aus Erfahrung diese Feste ihrer Heimatstadt, wo man stundenlang bei der Tafel saß, eine Unzahl von Gerichten verzehrte, eine endlose Reihenfolge verschiedener Weinsorten angeboten erhielt und endlich, nach Aufhebung der Tafel, stundenlang bei Bier und Selterwasser zusammensaß, um spät in der Nacht mit vollem Magen und leerem Herzen nach Hause zu gehen.

Sie kam sich wie im Gefängnis vor. Noch nie war es ihr so fürchterlich schwer geworden, sich an der kleinstädtischen Vergnügtheit zu beteiligen, die nach jedem Gange lärmender wurde. Dabei wollte der Gedanke an die »besondere Einnahmequelle« sie nicht verlassen, welche zu all dieser Freigebigkeit die Möglichkeit gewährte.

Hätte sie es früher für möglich gehalten, daß sie einmal am Tisch ihres Bruders sitzen und sich wie durch eine Kluft von ihm getrennt fühlen würde?

Als man in der Gegend des Bratens angelangt war und alles so durcheinander sprach, daß kaum einer mehr den andern verstand, sah sie, wie der Oberregierungsrat das Glas erhob und zu Percival hinüberblickte.

»Kollege Nöhring!« schrie er; und als Percival sich nach ihm umwandte, fügte er etwas gedämpfteren Tones hinzu: »Bruno Waldenberg soll leben!«

Er trank ihm zu, und mit einem laut lachenden »Prosit!« tat Percival ihm Bescheid.

Freda hatte ein Gefühl, als wenn sie einen Schlag ins Gesicht bekommen hätte. Sie senkte die Augen auf den Teller, um den Bruder nicht ansehen zu müssen. Ein letzter Blick hatte ihr verraten, daß er nach ihr hingesehen hatte und feuerrot geworden war.

Er hatte allen Grund, zu erröten – wahrhaftig.

Um halb sieben Uhr hatte man sich gesetzt – jetzt war es halb elf, als die letzten Schüsseln mit dem Dessert herumgereicht wurden.

In diesem Augenblick klingelte es draußen, und gleich darauf brachte der Lohndiener zwei telegraphische Depeschen herein, eine für den Regierungsrat Nöhring, die andre für Freda.

Ein allgemeines »Hallo« erhob sich. Mit beinahe zitternder Hand öffnete Papa Nöhring sein Telegramm.

»Stück soeben beendet,« las er leise vor, während alles verstummte, »großer, herrlicher Erfolg.« »Die Batterie soll abprotzen, um Viktoria zu schießen! Sekt! Sekt! Sekt!« brüllte Percival dem Lohndiener zu.

»Sekt! Sekt!« donnerte Herr Major a. D. Bennecke.

Alles wiederholte lachend und jauchzend das Kommando. Während des Spektakels, der sich erhob, nahm Freda ihre Depesche und brach sie still für sich auf. Sie hielt das Papier im Schoße, unter der Tischkante, als wollte sie verhindern, daß irgendein andres Auge läse, was nur für sie bestimmt war.

»Komme heut abend mit dem Kurierzuge«, las sie, »um mit dir und dem Papa allein zu sein. Glückselig. Schottenbauer.«

»Aber jetzt mal vorlesen, was er dir telegraphiert hat, Freda!« zeterte Fräulein Nanettchen über den Tisch.

Mit einem leichten, blassen Lächeln schüttelte Freda das Haupt.

»Ist für mich«, erklärte sie, und damit ließ sie das Telegramm in der Tasche ihres Kleides verschwinden.

»Aber Nanettchen,« rief Percival, »teuerste Karyatide, Gespräche zwischen Brautleuten belauscht man doch nicht!«

»Sehr wahr! Sehr wahr!« ertönte es von allen Seiten, und unter allgemeiner Heiterkeit erhob man sich.

Sobald man aufgestanden war, trat Freda zum Vater heran.

»Er kommt heute abend«, vertraute sie ihm heimlich an, »und will allein mit dir und mir sein.«

Papa Nöhring preßte ihr schweigend mit heißem Druck die Hand.

»Der Zug kommt bald nach zwölf«, fügte sie leise hinzu. »Wir gehen bald? Nicht wahr?«

»Sobald wir können«, erwiderte er, und beide mischten sich noch einmal unter die Gesellschaft.

Wie die Barbarei kam ihr diese Gesellschaft jetzt vor, und indem sie nach Hause dachte, wo sie nun bald zu dreien zusammensitzen würden, ging ihr ein Schauer über das Herz. Zum erstenmal würde sie ihn wiedersehen, nachdem sie ihm geistig in so ganz wunderbarer Weise nähergekommen war – zum erstenmal aber auch, nachdem der Frevel an ihm und seinem Werke begangen worden, zu dem sie mitgeholfen hatte.

Ob er schon davon wußte? Ob nicht? Bange Frage.

So leicht war es indessen nicht, davonzukommen. Die kleine Frau Therese war eine eifersüchtige Wirtin, die einen zu frühen Aufbruch als persönliche Kränkung nahm.

Freda wollte nicht verraten, daß sie heute abend noch Schottenbauer bei sich zu Hause erwarteten; sie fand daher keinen triftigen Grund, der ihr verfrühtes Scheiden gerechtfertigt hätte, und die Folge davon war, daß sie länger festgehalten wurde, als sie ursprünglich gewollt hatte.

Endlich schlug es zwölf, und nun erhob sie sich.

»Papachen – in zwanzig Minuten kommt der Zug.«

»Dann nur fort also«, erwiderte er; und nun ließen sie sich nicht länger halten.

Mit dem Abschiednehmen und dem Anziehen der Mäntel und Überschuhe verging auch noch einige Zeit; dann setzten sie sich gemächlichen Schrittes in Bewegung, und als sie die Anlagen erreicht hatten, in denen ihr Haus lag, waren die zwanzig Minuten herum.

»Was ist denn nur los?« fragte Papa Nöhring, als sie nur wenige Schritte noch von der Haustür waren, »es sind ja heute noch soviel Menschen auf den Beinen.«

Für gewöhnlich war die Stadt um diese Zeit schon ganz ausgestorben, namentlich die Gegend, wo Nöhrings wohnten, völlig menschenleer. Heute war es anders. Gruppen von zweien und dreien kamen an ihnen vorüber, hastig schreitend, aufgeregt untereinander flüsternd.

»Das sieht ja wirklich aus,« sagte Papa Nöhring, »als ginge das alles nach dem Bahnhof hinaus?«

Er blieb mit Freda stehen. In dem Augenblick wurden sie von einer größeren Schar von Männern überholt, und nun vernahmen sie, daß in der Tat vom Bahnhof die Rede war. »Verzeihen Sie,« fragte der Regierungsrat, indem er den Davonschreitenden nachging, »gehen Sie nach dem Bahnhof? Ist da was los?«

»Es soll ein Unfall geschehen sein,« erwiderte der Gefragte, »der Kurierzug, heißt es, ist auf einen Güterzug gestoßen.«

»Der Kurierzug – aus Berlin?«

»Ja, ja«, und der Mann lief hinter den andern drein.

Freda kam heran; der Vater war stehengeblieben, ohne ihr entgegenzugehen; beim Schein der Laternen gewahrte sie, daß sein Gesicht leichenblaß geworden war.

»Geh' nach Hause,« sagte er, »ich – muß gleich – auf den Bahnhof hinaus.«

»Um Gottes willen, was ist denn geschehen?«

»Der Kurierzug – mit dem er kommt – hat auf dem Bahnhof einen – Zusammenstoß gehabt.«

Freda fuhr mit beiden Händen an den Mund.

»Herrgott im Himmel – Papa, laß mich mit!«

»Nein, nein, nein,« entschied er, »in deinem Kleid – ist ja ganz unmöglich – vielleicht – ist es ja auch gar nicht nötig – ach, gewiß ist es nötig – o Mein Gott, mein Gott, mein Gott –«

Er wandte sich.

»Geh' nach Hause,« sagte er noch einmal, »zünde Licht an – ich komme gleich wieder.«

Damit setzte er sich in Gang, und nach einigen Schritten fing er an zu laufen, so rasch die alten Beine ihn tragen wollten.

Freda ging über den Straßendamm; ihre Glieder waren schwer wie Blei. Der Vater hatte den Hausschlüssel mitgenommen; sie mußte klingeln. Das Mädchen öffnete.

»Gnädiges Fräulein,« rief sie, als sie Freda erblickte, »aber wie sehen gnädiges Fräulein denn aus? Was ist denn passiert?«

»Auf dem Bahnhof«, sagte Freda mit lallender Zunge, »ist ein Unglück geschehen.«

Sie mußte sich an die Wand lehnen. »Zünde Licht im Salon an,« gebot sie, »die große Hängelampe; dann mach' auch Licht – auf der Treppe – und oben – überall.«

Das Mädchen wollte ihr den Mantel abnehmen.

Ungeduldig wehrte Freda ab.

»Tu, wie ich dir gesagt habe – mach' Licht – mach' Licht.«

Es war ein Bedürfnis in ihr nach Helligkeit und Licht; vielleicht um dem finsteren Grauen entgegenzuwirken, das in ihr aufstieg, vielleicht auch, weil ein Vorgefühl ihr sagte, daß man im nächsten Augenblick Licht brauchen würde, um – genau sehen zu können.

Ein Schüttelfrost ging ihr vom Nacken bis in die Füße. Was würde sie zu sehen bekommen?!

Schweren Schrittes trat sie in den Salon, wo das Mädchen unterdessen die Hängelampe angezündet hatte. Unter der Hängelampe, am großen runden Tisch, setzte sie sich nieder. Sie vergaß, daß sie noch das Tuch um den Kopf, daß sie noch den Mantel anhatte; vorgebeugten Leibes, die Hände im Schoß gefaltet, saß sie da, ihre Brust ächzte. Dann stand sie auf, um umherzugehen, an das Fenster zu gehen, weil sie meinte, daß sie das Stillsitzen nicht mehr ertrüge. Aber sie konnte nicht gehen und nicht stehen; die Füße trugen sie nicht. Sie fiel auf den Stuhl zurück und sah sich mit weit geöffneten Augen um. –

Wie leer das Zimmer war, wie totenstill – war das derselbe Raum, in dem sie früher – in dem sie zuletzt mit ihm – ? Das Licht der Lampe – hatte das früher auch so fahl geleuchtet wie jetzt?

Wo war sie denn nur? Was begab sich denn nur?

Sie riß die Handschuhe ab und preßte sich die Fingernägel in die Hände, weil sie fühlte, wie die Ohnmacht, einer bleiernen Spinne gleich, ihr aus den Eingeweiden zum Hirn hinaufzukriechen begann.

Jetzt lauschte sie auf – in der Ferne rasselte ein Wagen – der Wagen kam die Straße entlang – auf ihr Haus zu. Ohnmacht und Lähmung waren verschwunden – sie stand auf den Füßen – im nächsten Augenblick war sie draußen vor der Haustür.

Aus der Richtung, in welcher der Bahnhof lag, kam eine Droschke heran; die Laternen zu beiden Seiten des Kutscherbocks leuchteten matt durch die Nacht; so langsam bewegte sich das Gefährt – so langsam – gewissermaßen vorsichtig – wie Wagen fahren, in denen – jemand sitzt – oder liegt – der –

Sie biß mit den Zähnen in die Lippe – sie krallte mit den Nägeln in die hölzerne Tür – schreien wollte sie ja nicht, wollte sie ja nicht. –

Jetzt hielt die Droschke an, vor ihrem Hause hielt sie an; einen Augenblick noch, dann wurde der Schlag von innen geöffnet; aus dem Innern stieg jemand heraus, ein Mann, ein fremder Mann, der leise in den Wagen hineinsprach, zu dem oder zu denen, die sich im Wagen befanden. Er wandte sich um und kam herüber, auf Freda zu; an der Mütze, die der Mann auf dem Kopf trug, sah sie ein messingenes Schild, es war ein Gepäckträger vom Bahnhof.

Er hatte Freda stehen sehen.

»Haben Sie ein Bett,« fragte er leise, »wo wir ihn hinlegen können?«

Freda wollte etwas erwidern, aber der Atem schlug ihr in die Kehle zurück.

Ohne zu wissen, was sie tat, packte sie den unbekannten Mann am Arm.

»Ist er – tot?«

»Nein, nein – tot ist er nicht. Haben Sie ein Bett?«

Tot war er nicht – sie schüttelte sich, als wollte sie das Blei aus den Gliedern schütteln, das Blei – Percivals Zimmer war ja leer – seine Bettstelle stand in dem Zimmer, und eine Matratze war darin. Sie wandte sich zu dem Mädchen, das zähneklappernd hinter ihr stand.

»Lauf hinauf – nimm die Schlüssel aus meinem Korb – geh' an den Wäscheschrank – tu Bettwäsche heraus – überzieh das Bett von meinem Bruder – lauf rasch –« Das Mädchen schoß die Treppe hinauf.

Der Gepäckträger ging zur Droschke zurück.

Der Kutscher war vom Bock gesprungen, um mit Hand anzulegen – sie griffen in den Wagen hinein, und nun kam es langsam, langsam aus dem Wagen hervor. Der Körper eines Menschen wurde sichtbar, lang ausgestreckt, regungslos, mit baumelnden Armen.

Hinter ihm erschien ein anderer, der den Kopf des Dahingestreckten in beiden Händen hielt, ein alter Mann, dem der Hut vom Kopf gefallen war, dem das weiße Haar in feuchten Strähnen an der Stirn klebte, der Regierungsrat Nöhring, ihr Vater.

Ihre Bürde in den Armen, mit tastenden Schritten, kamen die drei Männer über den Straßendamm, die flachen Stufen zur Haustür hinauf, sich gegenseitig mit flüsternder Stimme Weisungen erteilend. Freda wich in den Flur zurück.

Jetzt traten sie in den hell erleuchteten Flur; jetzt konnte sie sehen.

In Papa Nöhrings Händen lag ein wachsbleiches Haupt, mit geschlossenen Augen, mit einem weißen Verband umhüllt, den auf der einen Schläfenseite das rote Blut durchfeuchtete – Schottenbauer.

Der Regierungsrat deutete mit dem Kopf nach der Treppe.

»Alles fertig oben?«

»Ja!« – ein heiserer Ton war es, der ihm den Bescheid gab.

Als sie jedoch die Treppe zu ersteigen begonnen, reichte die Kraft des alten Mannes nicht mehr aus. Der Kutscher trat an seine Stelle und faßte den Ohnmächtigen unter den Achseln. Freda eilte voran, um ihnen den Weg zu zeigen. Langsam, langsam, langsam kamen sie hinter ihr drein. Neben ihnen ging Papa Nöhring, die Augen auf Schottenbauers Antlitz gerichtet – unablässig – unablässig.

In Percivals ehemaliges Zimmer traten sie ein, draußen an der geschlossenen Tür blieb Freda stehen, das Ohr an die Tür gepreßt. Würde sie keinen Laut hören? Kein Lebenszeichen, auch wenn es nur ein Ausdruck des Schmerzes war? Sie hörte nichts.

Nach einiger Zelt kamen die beiden fremden Männer wieder heraus. Die Tür blieb offen – sie sah hinein – regungslos wie vorhin, mit geschlossenen Augen, wachsbleich, in den schneeweißen Bettlinnen lag er da.

Papa Nöhring stand über ihn gebeugt an der anderen Seite des Bettes. Er richtete das Gesicht auf.

»Die Leute müssen etwas bekommen.«

Freda stürzte hinaus.

»Bitte, warten Sie.«

Sie eilte in ihr Schlafzimmer, riß den Schrank auf und griff blindlings in ihre Kassette. Dann drückte sie den Männern das Geld in die Hand.

»Is ja zuviel«, lehnten diese bescheiden ab.

Freda drückte ihnen die Hände über dem Gelde zusammen.

»Nehmen Sie! Nehmen Sie! Wir – wir danken Ihnen!«

Der Gepäckträger nahm das Wort.

»Sind Sie man nicht zu ängstlich, Fräulein; es is ein Arzt oben gewesen auf dem Bahnhof; kann alles wieder gut werden, hat er gesagt.«

»Kann wieder – gut werden?«

Ihre Augen waren trocken gewesen wie heißer Stahl; jetzt quollen ihr die Tränen hervor.

»Ach – warten Sie – ich – möchte Ihnen noch etwas –«

Sie machte Miene, noch einmal an ihre Kassette zu eilen.

»Nich doch, nich doch«, wehrte der Gepäckträger ab.

Mit dem Kutscher verließ er das Haus; die Tür fiel hinter ihnen zu.

Im nächsten Augenblick war Freda wieder im Zimmer oben. Papa Nöhring hatte sich einen Stuhl herangeschoben und saß neben dem Bett.

Sie beugte sich zu seinem Ohr. »Der Arzt – hat gesagt – es könne wieder gut werden.«

Papa Nöhring blickte auf wie ein Ertrinkender, der Boden unter den Füßen fühlt. Er drehte sich herum, als wollte er Schottenbauers Kopf zwischen beide Hände nehmen; aber er besann sich, und so blieben seine Hände über dem bleichen Haupte schweben, ausgebreitet, als wenn Segen von ihnen ausgehen sollte, Segen, Hilfe und Errettung.

Dann erhob er sich. Freda drängte sich an seine Brust.

Mit stummer Gewalt preßte er sie an sich. Ihre Tränen flossen lautlos ineinander.


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