Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Zwölftes Kapitel

Sie war bereit – ja. Aber nicht so, wie man bereitwillig zu fröhlichem Tagewerk aufsteht.

War es denn freier Wille, diese Bereitschaft? Kam sie aus eigenem Antrieb?

Nur eins war ihr klar: es hatte nicht anders sein können. So wie es gekommen war, hatte es kommen müssen; auch daß sie selbst mit ihren Worten die Pforte aufstieß, durch welche das Schicksal nun eintreten würde – ja, ja – sie fühlte es deutlich, es war wie eine fremde Macht gewesen, unter deren Zwang sie handelte und sprach – es hatte sein müssen.

Es mußte sein, und darum sollte es sein – ihre starke Seele stand auf und biß die Zähne aufeinander. Es sollte sein – wie eine stählerne Klinge stieß sie sich das Wort ins Herz, durch das zuckende Fleisch hindurch.

Äußerlich verliefen ihre Tage jetzt sehr ruhig.

Percival trieb sich mit seiner jungen Frau in der Welt umher. Von Berlin, wo sie noch ein paar Tage Station gemacht hatten, waren sie nach Dresden gegangen, von da wollten sie nach Leipzig und dann »im Bogen« nach Hause zurück. Wie weit der Bogen gespannt werden sollte, war nicht gesagt. Freda hauste also mit dem Vater allein.

Der Regierungsrat war jetzt ein eifriger Zeitungsleser geworden. Die Politik allerdings ließ ihn kalt; Theater, Kunst und Literatur, das war sein Jagdgebiet, und jeder Tag beinahe brachte ihm gute Beute.

Wie man den Gang eines neu entdeckten Kometen registriert, so verfolgten die Zeitungen den Lauf von Schottenbauers Stück. Es war ein Siegeslauf. Eine große Stadt nach der andern, ein Theater nach dem andern tat sich vor ihm auf; wie mit Siebenmeilenstiefeln sprang es durch Deutschland, und wohin es sprang, da schlug es Funken und Feuer aus dem Boden. Daran reihten sich Berichte von einem zweiten, dritten und sogar vierten Stück, das bereits an dieser, jener und wieder jener Bühne angenommen war. Man konnte sie kaum aufzählen, man wurde schwindelig, wenn man es las.

Papa Nöhring aber las alles; und wenn er fertig geworden war, nahm Freda das Blatt auf und las es gleichfalls, und weil der Vater dicht an ihrer Seite saß und sie die Freude sah, die auf seinem Gesicht nachglühte, und weil sie – vernünftig sein wollte, so las sie mit ruhiger Aufmerksamkeit und freundlichem Lächeln – bis daß der Vater aufgestanden und sie allein mit sich war, und nun der Kampf wieder ausbrach, der Streit zwischen ihrem Verstand, ihrer Vernunft und den dunklen, unvernünftigen Gewalten, die in ihr gewesen waren, die jetzt wieder heraufbegehrten, die nicht herauf sollten und trotz allem sich aufbäumten, trotz allem, trotz allem!

In solchen Augenblicken ging sie stöhnend umher, ein Kampf auf Leben und Tod zerriß ihr Inneres.

So viel ernster war alles jetzt als früher, so furchtbar ernst. Lachen konnte man jetzt freilich nicht mehr über den Mann; ihn mit einer schnippischen Redensart abtun – damit war es vorbei. Und es war kein schaumgebackener Erfolg; besser vielleicht als alle andern hatte sie vom ersten Tage an gewußt, welch eine Kraft in dem Stücke da auf die Füße sprang. Das alles wußte sie ja, das alles sagte sie sich ja – aber liebte sie ihn darum? Liebte sie ihn darum?

Nein, nein, nein! All das böse, gehässige Gefühl, das sich gegen ihn aufgelehnt hatte, als der Nöhringsche Salon ihm Bravo rief, alles das zuckte wieder in ihr auf, alles das war wieder da, jetzt, da ganz Deutschland ihm Beifall jauchzte. Er übermannte, überwältigte sie, er drückte und erstickte sie mit seinen Triumphen und mit seinem Ruhm. Ohnmächtig ihr Widerstand; nicht ihre Seele nur, ihr Körper zerbrach; Tränen stürzten aus ihren Augen, und wie eine Verzweifelnde fiel sie in die Knie. Daß das alles Torheit, Tollheit, Wahnsinn war, das fühlte sie ja! Daß sie dagegen ankämpfen mußte, das sagte sie sich ja!

Aber nur einen Fußbreit Boden, um Fuß fassen, nur einen Anhalt, um sich daran klammern zu können!

Alle ihre Erlebnisse stürmten durch ihre Seele; alle Erinnerungen wühlte sie wieder herauf. Wie hatte der Vater damals gesagt, in der schrecklichen Nacht? »Wenn die Sonne hineinscheinen will in dein Herz, dann schließ es nicht zu.«

Aber war denn das die Sonne, was da vor ihrem Herzen stand? Das Feuer war es, das brennende, lodernde Feuer, das nach ihr züngelte und verlangte, nach ihrer Seele und ihrem Leibe, ihrem unentweihten Leibe.

Und indem sie dieses dachte, versiegten plötzlich ihre Tränen, als wenn sie zu Eis geworden wären in ihren Augen –

Ihr – unentweihter Leib –?

Ein furchtbarer Schauer rann wie der Todesfrost durch ihre Glieder – starr und schwer richtete sie sich vom Boden auf – Törin, wahnwitzige, elendes Weib – hatte sie den Arm vergessen, der sich damals um diesen Leib geschlungen hatte wie um den Leib einer Dirne? Und die Hände, die ihre Hände gefesselt gehalten, und die wüsten, gierigen Äugen – und – und sie wagte es, sich aufzulehnen gegen den Mann, der monatelang ihr Bild in seinem Herzen getragen hatte wie ein keusches Heiligtum? Gegen den reinen Mann, der an der beifalltobenden Welt vorüberging und aus Siegen und Triumphen zurückkehrte zu ihr, um ihr wiederzubringen, was sie verloren hatte, die heilige Reinheit?

Und an einem solchen Tage, am Nachmittag – der Vater war droben in seinem Zimmer und sie allein im Salon unten, Dämmerung erfüllte bereits das Gemach, und es war noch kein Licht entzündet – an solch einem Nachmittag war es, als sie den Klingelschlag an der Haustür draußen vernahm und ein Flüstern darauf, wie wenn jemand dem Dienstmädchen bedeutete, daß Anmeldung nicht nötig sei – und einen Schritt – und die Tür tat sich auf –

Mitten im Raum, schneeweiß aufragend im grauen Zwielicht, wie ein steinernes Bild, stand Freda Nöhring – auf der Schwelle war er – und als er leise die Tür hinter sich schloß, wußten die beiden, daß die große Stunde des Lebens für sie gekommen war.

»Fräulein Nöhring,« sagte Schottenbauer mit schwankender Stimme, »ich finde Sie allein – wollten Sie mir erlauben – ich hätte – ein Wort mit Ihnen –«

So regungslos stand sie da, das Antlitz so entgeistert nach dem Fenster gerichtet, daß man kaum hätte sagen können, ob sie ihn vernommen hatte.

Von der Türschwelle blickte er zu ihr hinüber. Er wagte sich nicht heran. Jetzt, da keine Schranke und kein Dritter mehr zwischen ihm und dem ersehnten Weibe war, da Traum und Phantasie zur Wirklichkeit zu werden und ihm körperlich in die Arme zu geben versprachen, was er in Gedanken tausendmal umschlungen und umarmt hatte, jetzt packte ihn die Scheu, die er stets in ihrer Nähe empfunden hatte, mit doppelter und dreifacher Gewalt. Ob es das schwindende Tageslicht war, das wie ein grauer Nebel auf ihrem marmorweißen Antlitz lag und wie eine eisig rieselnde Flut an ihrer Gestalt herniederfloß – es bedünkte ihn, als ginge ein kalter Hauch von ihr aus, bis zu ihm hinüber und in sein Herz.

Alles, was ihm Mut und Kraft zu verleihen vermochte, raffte er in seinem Bewußtsein zusammen. Wie die Menschen ihm zugejubelt hatten – wie ihre Blicke in staunender Bewunderung an ihm gehangen hatten – das alles suchte er sich wieder zu vergegenwärtigen, damit es ihm hinaushelfen sollte aus seiner schüchternen Persönlichkeit und darüber hinweg – und er fühlte, daß alles das zu nichts ihm half. Wäre er eitel gewesen, so würde ihm dies alles geholfen haben, so würde er, da er jetzt der »berühmte Mann« war, ein andrer in seinem Bewußtsein geworden sein, als da er noch der Unbekannte, Ungenannte gewesen war – weil er es nicht war, half es ihm nichts. Der Flitterrock, den er sich hatte anziehen wollen, um seine Gestalt imposanter erscheinen zu lassen, sank herab, und es blieb nichts übrig als der Mensch, als der Mann gegenüber dem Weibe, der Mann, den die Liebe hergetrieben hatte wie mit feuriger Geißel und dem sie jetzt die Kehle würgte wie mit eisiger Faust.

Kaum daß er wußte, wie es gekommen, war er jetzt herangetreten, so daß er einen halben Schritt von ihr entfernt stand.

»Fräulein Nöhring –«

Sie stand noch immer, wie sie gestanden hatte.

»Fräulein Nöhring – ich – glaube beinahe – Sie wissen, warum ich komme.«

War es ein Seufzer, was er da vernahm? Ein Seufzer aus allen Tiefen heraus – oder hatte er nur so zu hören geglaubt?

Das steinerne Bild fing an zu leben; sie sah ihn nicht an, aber nach der Richtung, wo er stand, drehte sich ihr Haupt in halber Wendung.

»Fräulein Nöhring« – mit zagender Hand langte er nach ihrer herabhängenden Linken – sie ließ ihm die Hand; kalt und weich lag sie in seinen heißen beiden Händen; er wußte nicht weiter mit dem Wort; er hob ihre Hand an seinen Mund; sie fühlte seine Lippen, die sich mit inbrünstigem Kuß in ihre Hand wühlten.

Dann kam ein heißer Atem in ihr Ohr, ein Stammeln und Flüstern: »Fräulein Nöhring – ich glaube – Sie wissen nicht – ahnen nicht – wie ich Sie liebe?«

Jetzt ging ein Zucken und Zittern durch ihre Gestalt; jetzt war es, als hätte sein stammelndes Wort sich wie eine Meereswoge in sie ergossen, wie eine Woge, die nicht Raum in dem Leibe des Weibes fand, so daß der Leib sie nicht zu fassen vermochte, daß die Brust des Weibes zu steigen und zu sinken begann, daß ihre Lippen sich öffneten, als haschten sie nach Luft – ein Stöhnen ging von ihren Lippen – ein Schwanken, Sinken und Zusammensinken kam – und plötzlich war das Ungeheure geschehen; die Gestalt, nach der er ausgeblickt hatte durch die Welt, die Glieder, die seine Sehnsucht umspielt hatte – Freda Nöhring lag in seinen Armen.

Nicht an ihn geschmiegt in erwidernder Liebe – rücklings übergesunken, wie zerbrochen lag sie an seiner Brust – aber er fühlte nur, daß sie an seiner Brust lag. Nicht die Augen hatte sie zu seinen Augen erhoben – aber er sah nur, daß ihre Augen, ihre Lippen und ihr Gesicht hingegeben im Bereiche seiner Lippen waren.

Und nun kam es, nun schwoll es empor, nun brach es aus ihm hervor, alles, was sich da drinnen in ihm aufgesammelt hatte, wochen- und monatelang, all die Glut, all die Liebe und die allmächtige Gewalt.

»Freda!«

Wie ein wilder Naturlaut klang sein Schrei. Er drückte die Lippen auf ihre Stirn, auf ihre geschlossenen Augen, auf ihre Wangen; unter seinen glühenden Lippen fühlte er die weiße, kühle Haut – das war ihre Haut, das war ihr Leib, das war sie, die er küßte, Freda, Freda Nöhring – und nun fiel er mit lechzenden Küssen über ihren Mund her, über den stolzen, spöttischen, jetzt so bebenden, zitternden Mund.!

»Freda – Geliebte – Ersehnte – Traum meiner Tage und Nächte –«

Ein dumpfes, rasendes Murmeln war es, mit dem diese Worte einzeln, sinnlos und zerstückt zu ihren Ohren drangen. So wie er das Weib unter seinen Küssen erstickte, so erstickte er an den eigenen Küssen selbst.

Krampfhaft sich aufbäumend – denn sie fühlte sich wirklich halb erstickt – riß Freda sich empor. Er ließ von ihr ab.

Beide Hände an die Schläfen gedrückt, stand sie da, als hätte sie die Besinnung verloren, und als müßte sie sie zurückrufen aus weiter Ferne. Dann wandte sie ihm das Gesicht zu, mit langsamer Bewegung, und mit schweigendem Blick sah sie ihn an, mit einem wunderbaren, schwer zu enträtselnden, staunenden, fragenden Blick.

»Kommen Sie« – es war ein Hauch, mit dem sie das sagte, und kaum so viel als ein Hauch.

Sie ging zu dem Sofa, das in dem Hintergrunde des Zimmers stand; dort saß sie nieder, das Haupt vornüber, die Hände im Schoß. Ihr zu Linken setzte sich Schottenbauer.

Nun war es, als überlegte sie, als suchte sie sich auf etwas zu besinnen – dann rückte sie auf dem Sofa, so daß Raum an ihrer andern Seite ward.

»Bitte – setzen Sie sich dahin.«

Er verstand sie nicht, aber er stand auf und tat, wie sie gebeten.

Dann, als er an ihrer rechten Seite Platz genommen hatte, ergriff sie, ohne ein Wort zu sprechen, seinen linken Arm und schlang ihn um ihren Leib, um ihre Hüfte; mit beiden Händen langte sie nach seinen Händen, als sollte er ihre Hände ergreifen – und als er nun ihre Hände ergriff und mit feurigem Druck hielt, als sein Arm, der sie umfaßte, ihren Leib mit leidenschaftlicher Gewalt an seine Brust und sein klopfendes Herz preßte, sank ihr Haupt plötzlich an seine Brust, und ein Tränenstrom brach von ihren Augen.

Sie schüttelte das Haupt, als wollte sie seiner Frage zuvorkommen, als sollte er nicht fragen; an seinem Halse spürte er ihre Tränen; Mund und Wangen umspielte ihm ihr kühles, blondes Haar.

»Ich – will dir – gehören,« sagte sie mit tiefer, vom Schluchzen durchbebter Stimme, »ich will dir gehören.« Droben im grün tapezierten Zimmer, bei der grün umsponnenen Lampe, die neben ihm auf dem Tisch stand, saß Papa Nöhring und las.

Jetzt richtete er das Haupt empor – auf dem Flur draußen näherten sich Schritte. War Percival zurückgekehrt?

Aber das war nicht Percivals Gang, dieser langsame, beinahe feierliche Schritt.

Die Tür seines Zimmers wurde aufgetan, der Vorhang schlug auseinander – vor ihm stand Freda, seine Tochter, und neben ihr, den linken Arm um sie geschlungen, ihre Hände in seine gedrückt, Schottenbauer.

Der alte Mann, der sich im Stuhle herumgedreht hatte, sank in die Stuhllehne zurück. Er wollte aufstehen, aber die Knie versagten ihm den Dienst. Bevor er jedoch einen zweiten Versuch machen konnte, waren beide heran und lagen kniend vor ihm, ihre Häupter in seinen Schoß gebeugt.

Nun warf er die Arme um sie her, aber seine Arme zitterten so schwer, daß er sich auf die jungen Schultern stützen mußte. Das klopfende Herz übermannte ihn beinahe; er schloß die Augen.

»Wie gut – daß das noch kommt,« murmelte er, »wie gut, daß das noch kommt.«

Ob es die Hinfälligkeit seiner greisen Glieder, ob es dieses Wort war, was sie erschreckte – Freda und Schottenbauer richteten gleichzeitig die Köpfe auf und sahen ihm ins Gesicht...

»Vater – ?«

Als er den angstvollen Blick der beiden gewahrte, als er den Strom von Liebe empfand, der wie ein lebendiger Quell aus den jungen Herzen aufstieg und sein altes Leben umwärmte und umfing, wurde er Herr über seine Schwäche, und in dem schönen, greisen Gesicht ging die Glückseligkeit auf wie ein tiefes, sanftes, erquickendes Licht.

»Keine Sorge, Kinder,« sagte er mit kräftiger Stimme, »an der Freude stirbt der Mensch nicht. Und das – ist eine Freude – eine Freude –« Er drückte die beiden jungen Häupter aneinander und legte die Wange darauf.

»Meine Tochter – mein Sohn – meine Tochter – mein Sohn.«

Von dem Scheitel des einen gingen seine Lippen zum Scheitel des andern; er streichelte, klopfte und küßte sie – und es wäre schwer zu entscheiden gewesen, welchem von beiden der inbrünstigere Kuß galt.


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