Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Siebzehntes Kapitel

Am nächsten Tage, als Freda Nöhring vor ihrem Nähtischchen am Fenster saß, hörte sie, wie die Tür des Nebenzimmers klappend zugeworfen wurde, und dann einen lauten Schritt im Salon. Auf der Schwelle ihres Gemachs stand Percival.

»Mo'jen, Freda.«

Sie stand auf.

»Guten Morgen, Junge; kommst du von der Regierung?«

Er kam von der Regierung.

»Was gibt's denn?«

Lachend wandte er sich in den Salon zurück.

»Was soll's denn geben?«

Freda war ihm gefolgt. Die Hände in den Hosentaschen, ging er im Salon auf und ab.

Bildete sie es sich ein, oder war eine gewisse Verlegenheit in ihm? Eine Gedrücktheit? Er sah sie nicht an; von der Seite mußte sie den Ausdruck seines Gesichts erhaschen; sie kannte ja die Regungen in diesem Gesicht.

»So sage doch, was ist denn los?«

»Herrgott, was soll denn los sein?«

Wie immer, wenn er aufgeregt war, polterte er los, und um seine Unruhe zu verbergen, griff er zu seinem üblichen Mittel und zündete sich mit scheinbarer Gleichgültigkeit eine Zigarre an.

»Sage mal,« begann er, indem er paffend anrauchte, »hat eure Reise euch eigentlich auch so viel gekostet?«

Freda erblaßte; sie wußte plötzlich, was ihn hergeführt hatte.

»Ob sie – uns auch?« versetzte sie zögernd. »Hat deine Reise mit Therese dir so viel gekostet?«

»Aber schmählich,« entgegnete er, »ich hab's mir gar nicht vorgestellt, daß eine Frau solch ein kostspieliger Luxus ist.«

Er lachte etwas gezwungen.

»Wir sind ja schließlich gar nicht einmal weit fort gewesen; bloß in ein paar Städten –«

Freda lächelte.

»Na, weißt du, Junge, ob wirklich die arme Therese daran schuld ist? Und nicht vielleicht –«

»Was?«

»Na, was? Du kommst ja in letzter Zeit gar nicht mehr aus der Champagnerflasche heraus.«

Percival zuckte die Achseln.

»Die paar Tropfen«, murmelte er. »Liegt nun einmal nicht in meiner Natur, jeden Groschen nachzuzählen.«

»Wenn man sich aber einmal verheiratet,« fuhr sie heraus, »dann muß man sich eben klar darüber sein, daß man nicht mehr wirtschaften kann wie als Junggeselle! Sonst –«

»Sonst? Was?«

»Sonst – muß man sich's eben vorher überlegen.«

»Ob man heiraten soll?«

Sie gab keine Antwort. Sie hatte sich hinter den großen runden Tisch gesetzt, hinter dem sie früher zu sitzen pflegte, wenn sie dem Heißsporn die Beichte abnahm und ihm in seinen Nöten Rat erteilte. Auf der Tischdecke strich sie mit der Hand entlang.

Percival setzte seine Wanderung durch das Zimmer fort. Die Geschwister sahen sich nicht an; seine Lippen preßten sich aufeinander, so daß sein Gesicht einen verkniffenen Ausdruck annahm. »Ist ja aber alles ganz natürlich,« fuhr er fort, »wenn man so zum erstenmal Gehalt in die Hände kriegt, bildet man sich ein, es wäre wunder wieviel, bis man dahinterkommt, daß es so viel eigentlich gar nicht ist.«

»Und daß man damit fertig ist«, warf sie beinahe höhnisch ein.

Er schleuderte ihr einen Blick zu.

»Kann ja sein – Erfahrungen sind dazu da, daß sie gemacht werden. Wenn man erst weiß, wie man sich einzurichten hat, passiert einem so etwas nicht zum zweitenmal.«

Langsam stand Freda auf.

»Also bist du – jetzt schon so weit?«

Percival blieb stehen.

»Tu mir den einzigen Gefallen und mach nicht gleich dein Oberlehrergesicht! Die Sache ist wahrhaftig nicht der Rede wert.«

Sie ließ sich aber durch sein Gepolter nicht abschrecken. Wie in alter Zeit legte sie die Hände auf seine Schultern und hielt ihn fest.

»Nicht der Rede wert?«

»Nein, allerdings. Ein paar hundert Mark – was ist denn dabei?«

Freda wurde bis in die Lippen blaß.

»Also richtig – Schulden.«

»Schulden!« Er schüttelte wie in sittlicher Entrüstung den Kopf und machte sich von ihr los. »Was das gleich für ein Ausdruck ist! Ein paar Rechnungen, die man zu bezahlen hat –«

»Und nicht bezahlen kann!« sagte sie, indem sie ihm grell in die Augen sah, »was ist denn das anders als Schulden?«

Nachdenklich blickte sie zum Fenster hinaus. Percival stand an dem andern. Eine Pause trat ein.

Dann wandte sie den Kopf herum.

»Ist's sehr viel? Kann ich's vielleicht aus meinem Wirtschaftsgeld bezahlen?«

Er lachte kurz auf. »Ach – ist ja Unsinn.«

»Wieso denn, Unsinn? Ich begreife dich gar nicht. Dazu bist du doch hergekommen?«

»Dazu? Zu was?«

»Zu was? Zu was?« Sie stampfte unwillkürlich mit dem Fuß auf. »Damit du das Geld bekommst. Willst du also den Papa anborgen?«

»Anborgen!« Er fuhr wie gestochen auf. »Ich weiß gar nicht – ihr Frauen habt doch von solchen Sachen wahrhaftig keine Ahnung! Anborgen – was das immer gleich für Ausdrücke sind –«

Unwirsch schüttelte Freda den Nacken auf.

»Die Ausdrücke – so versteck' dich doch nicht hinter deiner moralischen Entrüstung, zu der du gar kein Recht hast! Es ist doch nicht anders; du kommst doch her, um den Papa zu bitten, daß er dir heraushelfen soll.«

»Gar nicht komme ich dazu her!«

Er war flammend rot geworden.

»Wenn ich jemand anpumpen wollte, dann – dann hätte ich mich an jemand anders gewandt als an dich! Aber du kannst dich beruhigen; ihr könnt euer Geld behalten; ich will weder dich anpumpen noch den Papa.« Gesenkten Hauptes ging er auf und ab; er sah wirklich gekränkt aus.

»Aber – was willst du denn also?«

»Mir selbst helfen; das will ich.«

Sie sah ihn voller Überraschung von der Seite an.

»Dir – selbst?«

»Ja, allerdings! Und darum kam ich her, weil ich dachte, du – du würdest mir vielleicht einen Rat – aber jetzt mag ich's gar nicht mehr sagen.«

Er griff wirklich zum Hut.

Mit einem Schritt war sie wieder bei ihm.

»Percy – so sag's mir doch.«

Er sah an ihr vorbei; sein hübsches Gesicht war ganz finster geworden, von einem Ausdruck der Sorge überschattet, der früher nie darin gewesen war. »Nein, nein – laß nur – ich hatte gedacht, du würdest mir – aber ich weiß nicht – du bist gar nicht mehr wie sonst – gleich so heftig, so verletzend –«

Mit einem Griff hatte sie ihn wieder an den Schultern gefaßt.

»Percy, um Gottes willen, was redest du denn?«

Der Anblick seines Kummers zerriß ihr das Herz. Unglücklich war er, und statt ihn zu trösten, hatte sie mit scharfen Worten in sein Herz gegriffen. So bissig und spitz hatte sie ja nie zu ihm gesprochen wie eben jetzt.

»Percy – sei mir doch nicht böse; sage mir doch, was du vorhast? Ob ich dir helfen kann?«

Sie suchte seine Augen. Tränen standen hinter ihren Augen; Tränen zitterten in ihrer Stimme.

Leise klopfte er sie in den Rücken. Ja, ja – das war ja die Freda wieder, die da sprach; zu der er, als er schon groß und erwachsen war, all seine Sorgen hingetragen hatte, wie ein kleiner Junge zu der Mutter.

Er legte den Hut wieder beiseite und löste sich mit sanftem Druck von ihren Händen.

»Es ist mir nämlich ein Vorschlag gemacht worden, ein eigentümlicher, der mir aber sehr gefällt. Wenn's mir gelingt, bin ich mit einem Schlag aus – aus aller Verlegenheit heraus und kann mir sogar für die Zukunft vielleicht eine dauernde Einnahmequelle verschaffen.«

Freda hatte sich niedergesetzt und sah mit staunenden Augen zu ihm auf.

»Aber das klingt ja ganz wundervoll.«

»Der Oberregierungsrat – du weißt ja, der die Herausgabe von dem Amts- und Kreisblatt zu besorgen hat, ist nämlich heute zu mir gekommen. In dem Amts- und Kreisblatt sollen nämlich von jetzt an kleine Erzählungen veröffentlicht werden, Novellen, verstehst du, und derartiges, damit die Leute mehr Geschmack daran finden und es mehr lesen.«

Freda drückte die Hände im Schoß zusammen.

»Und da ist er zu dir gekommen?« »Die Sachen werden nämlich sehr gut bezahlt,« fuhr Percival fort, »ausgezeichnet sogar; der Oberregierungsrat hat mir die Summe genannt.«

»Ja, ja, aber – zu dir ist er damit gekommen?«

»Na ja –« Percival sah sie flüchtig an. »Was ist denn dabei?«

Er errötete und blickte nach dem Fenster.

»Hast du denn den Prolog vergessen? Von damals? Bei Tante Löckchens Zauberfest?«

»Ach – so. Na ja; er hat gemeint, so etwas müßte ich ja nur so aus dem Ärmel schütteln können.«

Er verstummte. Freda war auch ganz kleinlaut geworden.

»Was – hast du ihm denn nun darauf gesagt?« fragte sie endlich.

»Was soll ich ihm gesagt haben? Ich konnte doch jetzt nicht die alte Geschichte wieder aufwärmen?«

»Nun nein – aber ich meine – auf sein Anerbieten, daß du ihm eine Erzählung schreiben solltest?«

»Na, mein Gott,« erwiderte er, »Zeit dazu habe ich ja vollauf; mit dem, was ich an der Regierung zu tun habe, werde ich bequem fertig; da habe ich des Abends immer noch ein paar Stunden für mich übrig.«

»Also hast du–«

»Na ja – ich – habe ihm so gut wie zugesagt.«

Er errötete noch stärker als vorher; in Wahrheit hatte er ganz fest zugesagt, und zwar für die nächste Zeit schon.

Freda stand auf und ging auf ihn zu. In ihrem Gesicht war eine Mischung von Lächeln und Angst.

»Aber einziger Junge – traust du dir denn zu, daß du das können wirst?«

Percival warf den Kopf auf.

»So eine lumpige Novelle! Das wird man doch wohl noch fertigkriegen.«

»Ja, aber weißt du denn schon, was du schreiben willst?«

Ein peinliches Schweigen erfolgte. Das war es ja eben gewesen, was ihn hergeführt hatte. Die kluge Freda würde vielleicht irgendeinen Einfall haben. Er wartete, ob sie nicht anfangen würde. Aber sie schien nichts zu wissen; sie schwieg.

Er räusperte sich verlegen.

»Erinnerst du dich nicht mehr – wie war doch die Geschichte gewesen, von der ich dir mal erzählt habe, daß sie hier in der Nähe auf einem Dorf passiert war – du sagtest damals, das wäre eigentlich ein famoser Stoff für eine Novelle.«

Freda strengte ihr Gedächtnis an.

»Ja, ja – mir ist so – es war eine Kriminalgeschichte gewesen.«

»Ganz recht.«

»Ein alter Bauer hatte einen andern – war's nicht sein Schwiegersohn – zum Meineid verleitet?«

»Da haben wir's ja!« rief Percival, indem er sich auf die Lende schlug. »Natürlich, so war's auch. Aber nu mal weiter; denn damit allein kann man noch keine Novelle schreiben. Wie war denn der Zusammenhang?«

Er sah die Schwester an – Freda sah ihn an.

»Weißt du's nicht mehr?« fragte sie leise.

»Hol's der Teufel, nein! Ich habe die Geschichte total vergessen. Ich dachte, du würdest dich vielleicht dran erinnern.«

Freda bohrte die Augen in den Fußboden; sie drückte die Hände an den Kopf und strengte alle Fasern ihres Gehirns an – es half nichts.

»Hast du dir damals nichts aufgeschrieben?« forschte sie.

»Hab' ich dummerweise versäumt«, murrte er. »Wer konnte denn damals denken –«

Ärgerlich sah er zu ihr hinüber.

»Fällt es dir denn wirklich gar nicht wieder ein?«

»Nein, nein,« versicherte sie, »ich muß wohl damals nicht sehr aufgepaßt haben; und es ist schon zu lange her.«

Mißmutig nahm er seine Wanderung durch den Salon wieder auf.

»Dann bleibt wahrhaftig nichts übrig, als daß man sich das übrige selbst hinzudenkt.« Er blieb wieder stehen.

»Wie würdest du dir denn, zum Beispiel, die Geschichte weiter denken?«

Freda lachte unwillkürlich laut auf. Die Naivität, mit der er ihre Mitarbeiterschaft herausforderte, hatte wirklich etwas Drolliges.

»Aber Junge, wie soll ich denn dazu kommen?«

»So denk doch ein bißchen nach – das ist doch nicht zuviel verlangt.«

Er maulte und trotzte wie ein kleiner Junge.

»Na ja, laß mir nur ein paar Tage Zeit; hier vom Fleck aus kann ich's dir doch nicht sagen.«

»Ein paar Tage Zeit habe ich aber nicht,« platzte er heraus, »das ist ja eben der Kuckuck, daß die Geschichte so rasch gemacht sein muß.«

Freda erschrak.

»Um Gottes willen – was hast du denn für Zusagen gemacht?«

»Ich hab' dir ja alles gesagt. Daß ich die Geschichte in acht Tagen fix und fertig liefern will.«

Er hatte nichts davon gesagt; darum vermied er es, die Schwester bei diesen Worten anzusehen.

Freda senkte das Haupt. Der ganze Vorgang war ja im Grunde so abgeschmackt und lächerlich; durch die Aufregung aber, unter welcher der Bruder litt, und durch den Hintergedanken an seine Geldnot bekam er etwas Tragisches für sie. Im Vertrauen auf ihre Hilfe hatte er sich in törichte Versprechungen verfilzt – und nun konnte sie ihm nicht helfen. Er tat ihr so leid; sie kam sich vor, als beginge sie ein Unrecht an ihm.

»Fällt dir denn nicht vielleicht etwas anderes ein?« fragte sie nach einer Pause.

»Mein Gott, wie oft soll ich's dir denn sagen,« versetzte er aufbrausend, »daß ich keine Zeit habe! Wenn ich Zeit hätte, dann wär's wahrhaftig keine große Sache, sich etwas anderes auszudenken – aber wenn einem das Feuer auf den Nägeln brennt, dann – dann hat man keine Ruhe dazu.«

»Aber Percy,« wandte sie bittend ein, »dann wäre es doch wirklich vernünftiger, du gingst noch einmal zu dem Oberregierungsrat hin –«

»Und sagte ihm, daß ich ein impotenter Schwachmatikus bin?« unterbrach er sie wütend. »Und daß ich damals den Prolog gar nicht gemacht habe? Nicht wahr? Hol' der Teufel den verdammten Prolog! Der ist an allem schuld, und du hast mir zugeredet damals!«

In echter Schwächlingsweise griff er begierig nach der Gelegenheit, sich vor sich selbst zu rechtfertigen, indem er Vorwürfe auf einen andern häufte.

Mit traurigen Augen blickte Freda ihn an. Immer wütender redete er sich in die Hitze hinein.

»Jawohl – und nun hab' ich die Bescherung! Aber eh' ich jetzt zu ihm hingehe und mich so miserabel blamiere, wie du mir vorschlägst – eher tu ich, ich weiß nicht was – eher – eher schieß' ich mir wahrhaftig eine Kugel vor den Kopf!«

»Versündige dich doch nicht so«, wollte Freda ihm zurufen. Aber er hörte nicht auf sie hin. Mit weiten Schritten durchmaß er den Salon, und dann, als wenn ihm der Salon zu eng würde, auch noch Fredas anstoßendes Gemach.

Als er dort hinein verschwunden war, hörte Freda, wie er plötzlich seinen Gang unterbrach, und als sie um die Ecke der Tür verstohlen nach ihm ausschaute, sah sie ihn am Tisch stehen – und in dem Augenblick griff ihr etwas, wie eine Kralle, ans Herz – auf dem Tisch lag vom gestrigen Abend her Schottenbauers Kuvert, und dieses hatte er entdeckt.

Bevor sie noch etwas sagen oder tun konnte, war er schon wieder zu ihr zurück, die Blätter in den Händen.

»Was ist denn das?«

Freda war totenblaß geworden. In der Aufregung der Auseinandersetzung hatte sie vollständig vergessen, daß das Kuvert dort lag, hatte sie an dessen Vorhandensein überhaupt nicht mehr gedacht. Sie war so fassungslos, daß sie zunächst gar keine Antwort gab.

Percivals Augen wühlten förmlich in den krausen Schriftzeichen.

»Das ist ja dem Schottenbauer seine Handschrift?«

»Nun – ja,« erwiderte sie mit schwacher Stimme, »er hat es mir ja auch gegeben.«

Percival warf sich auf einen Stuhl, legte das Kuvert auf den Tisch vor sich hin und fing an, wie ein Fanatiker zu lesen.

»Donnerwetter,« murmelte er halblaut dazwischen, »Donnerwetter.«

Freda stand mitten im Zimmer und sah ihm zu. Sie fühlte sich ganz ratlos. Es zuckte ihr in den Händen, als sollte sie hinzutreten und ihm die Papiere fortnehmen – aber sein Aussehen deutete an, daß er sie nicht gutwillig hergeben würde. Außerdem – wenn sie gewollt hätte, sie hätte es nicht vermocht. So blieb sie in qualvoller Entschlußlosigkeit stehen und konnte nichts anderes, als ihn ansehen und immerfort ihn ansehen.

Und indem sie ihn so anblickte und sah, wie er vor den Papieren saß und mit einem gierigen Ausdruck den Inhalt derselben verschlang, kam ihr ein Gefühl – beinahe wie ein Bettler erschien er ihr.

Sie sträubte sich gegen die abscheuliche, nie dagewesene Empfindung, die ihr den Bruder plötzlich verwandelte und verzerrte, aber sie wurde sie nicht los.

Mit einem jähen Ruck stand Percival jetzt auf.

»Ist er zu Haus, der Schottenbauer?«

Er war hochrot im Gesicht, er griff zum Hut.

»Nein,« entgegnete Freda leise, »er ist in Berlin und kommt in den nächsten Tagen nicht zurück.«

»Dumm –« sagte Percival, indem er den Hut fortwarf. Dann blieb er vor dem Fenster stehen, und an der Lippe nagend, blickte er hinaus.

»Warum fragst du denn?« fuhr sie zögernd fort. Er zuckte die Achseln und ließ ein kurzes Lachen hören, das so viel heißen mochte wie »einfältige Frage«.

Freda, die hinter ihm gestanden hatte, trat leise zu ihm heran. Er hielt die Papiere noch in der Hand – mit einem begütigenden Kopfnicken, als wollte sie sagen: »Nicht wahr, so ist es recht?« nahm sie dieselben aus seiner Hand.

Percival sah die Schwester an.

»Na – nu?«

Dann ließ er wieder ein Lachen hören, und dieses Lachen klang eigentlich nicht hübsch.

»Also, wenn er nicht hier ist, werde ich ihm schreiben«, erklärte er mit einem kurzen Entschluß.

Freda hielt ihn an den Schultern fest.

»Was willst du ihm schreiben? Was hast du vor?«

Mit angstvollen Augen, beinahe flehend, sah sie ihm in die Augen.

»Herrgott,« sagte er polternd, »wieder mal ganz die alte Freda! Immer gleich aus jeder Mücke einen Elefanten machen! Das da – hat er dir doch gegeben, du hast es ja selbst gesagt?«

»Nun – ja.«

»Also gehört's dir doch.«

Er hatte ihr noch einmal das Kuvert entrissen und hineingeblickt.

»Aber mein Gott, es – es ist doch eine Vertrauenssache!«

Aus gepreßter Brust stieß sie das Wort hervor.

Er drückte ihr das Kuvert wieder in die Hand.

»Da hast du's, da hast du's – was ist denn los? Was denkst du denn eigentlich? Wenn ich – wenn ich wirklich vielleicht eine Anregung – du tust ja geradezu – ist das ein Unrecht, wenn man eine Anregung – ist ja geradezu lächerlich!«

Er wandte sich und griff wieder nach dem Hut. Es sah aus, als brenne ihm der Boden unter den Füßen.

»Percival!« schrie sie unwillkürlich laut auf, als sie ihn auf die Tür zugehen sah. Er blieb stehen. Sie trat zwischen ihn und die Tür.

»Aber – aber du darfst nichts tun – ohne ihn gefragt zu haben!«

»Ich weiß gar nicht, was du willst,« erwiderte er murrend, »ich habe dir ja gesagt, daß ich es will.«

»Aber du mußt's auch wirklich tun!«

Ihre Stimme gellte, indem sie das sagte. Percival schüttelte den Kopf.

»Diese Aufregung, diese gänzlich unmotivierte Aufregung! Ein Glück nur, daß der Schottenbauer ein vernünftiger Mensch ist, mit dem man ein Wort reden kann. Zehntausendmal vernünftiger ist er als du – wahrhaftig –«

Damit ging er an ihr vorbei und hinaus.

In einem unbeschreiblichen Zustand blieb Freda zurück.

Sie hatte ein Gefühl, als hätte sie sich nicht energisch genug widersetzt, als hätte sie mehr tun sollen, als sie getan hatte. Aber was? Einer Schuld konnte sie sich ja eigentlich nicht zeihen – daß sie das Kuvert hatte liegenlassen – mein Gott, ja – aber wer konnte denn auch denken –

Und dennoch lag es auf ihr wie das Bewußtsein einer lastenden Schuld, eines schweren, abscheulichen Unrechts, das sie an dem vertrauenden Menschen begangen hatte.

Wenn der Mann, der da vorhin am Tische gesessen und die Aufzeichnungen gelesen hatte, nicht ihr Bruder gewesen wäre – würde sie dann auch unentschlossen geblieben sein? Elend und schwach? Nein, nein, nein! Mit einem Griff würde sie ihm die Papiere entrissen haben.

»Das ist nicht für dich!«

Aber eben – weil es ihr Bruder gewesen war – weil sie wußte, daß ihm das Messer an der Kehle stand –

In dumpfer Verzweiflung starrte sie auf das Kuvert und die Zettel, die sie immer noch, halb mechanisch, in Händen hielt.

Wie ein knospender Frühlingsgarten war ihr das alles gestern erschienen – jetzt kam es ihr vor, als wäre es entweiht. Immer wieder kam ihr das Bild vor die Seele, wie Percival gesessen und den Inhalt der Papiere mit heißhungrigen Augen verschlungen, geradezu gefressen hatte – so häßlich war das Bild. Sie drückte die Hände vor die Augen, als wollte sie es nicht sehen, und sie sah es doch. Sie sah das aufgeregte Gesicht, das ihr so fremd geworden war in dem Augenblick, als wäre es gar nicht das Gesicht ihres Bruders mehr – und daneben sah sie ein anderes, mildes, trauriges Gesicht, das kopfschüttelnd zu ihr herübersah –

»Habe ich dir dazu das Teuerste geschenkt, was ich zu schenken hatte?«

Sie warf die Hände in die Luft und rang sie ineinander.

»Nein – das weiß ich, daß du es mir dazu nicht geschenkt hast! Das weiß ich! Das weiß ich!«

Sie sprach es laut, als wäre er im Zimmer anwesend, mit schluchzender Stimme vor sich hin. Am Tisch setzte sie sich nieder, ein Strom von Tränen brach aus ihren Augen und benetzte die Worte, die er geschrieben hatte.


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