Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Fünftes Kapitel

Am nächsten Vormittag war es etwas weniger heiß. Nun also machte man sich auf, um Bordighera doch endlich kennenzulernen.

Als sie einige Schritte weit auf der Straße gekommen waren, begegnete ihnen der junge Mann, der seinen Morgenspaziergang, wie es schien, bereits hinter sich hatte.

Jetzt war er wieder hellgrau von oben bis unten; die Beinkleider waren, der Mode gemäß, über den gelben Lederschuhen aufgeschlagen.

Indem er bei den beiden vorüberkam, zog er den Hut vom Kopf und grüßte.

Einigermaßen überrascht dankte Papa Nöhring.

»Wer ist denn das?« wandte er sich an seine Tochter.

Freda lachte.

»Keine Ahnung – es ist ja unser Visavis bei Tische – erinnerst du dich denn nicht?«

»Ja, ja« – es fiel dem Regierungsrat ein, und zugleich, daß er ihm schon gestern abend seine Verbeugung gemacht hatte.

»Wie kommt er denn darauf, daß er uns immerfort grüßt?«

Freda drückte den Arm des Vaters.

»Aber Papachen – immerfort – gestern zum ersten- und heute zum zweitenmal. Ist doch kein Unrecht, wenn jemand höflich ist?«

Sie lachte unausgesetzt.

Schweigend setzte Papa Nöhring seinen Weg mit ihr fort, am Ufer des Meeres entlang.

Sie gingen ziemlich weit, auf der Straße nach San Remo zu. Freda machte sich vom Arm des Vaters los, und während dieser gemächlich auf der Chaussee weiterwanderte, schlüpfte sie an den Strand hinunter und watete mit aufgerafftem Kleidersaum durch den Uferkies.

Der Regierungsrat sah ihr von oben zu, wie sie dahinschritt, mit der einen Hand das Kleid emporziehend, mit der andern das Sonnenschirmchen über dem Kopfe schwenkend, wie sie mit erschrecktem Lachen zur Seite wich, wenn eine Welle sich brandend überschlug und mit weißem Gischt bis an ihre Füße heranleckte – er sah ihr zu und dachte eines Menschen – wenn der sie hier gesehen hätte!

Die Sonne stieg zur Mittagshöhe; es wurde heiß; Papa Nöhring wollte umkehren und rief es seiner Tochter zu.

Freda zeigte ein etwas mauliges Gesicht.

»Schon umkehren?« Es war ja so wundervoll kühl hier unten am Wasser.

Aber der Papa bestand auf seinem Willen.

Als sie zum Gasthause zurückkehrten und den Weg einschlugen, der hinter dem Hause am Bergabhange unter den Ölbäumen entlang führte, kamen sie an dem zum Hotel gehörigen Lawn-tennis-Platz vorüber.

Eine Anzahl von Damen und Herren war beim Spiel; unter den Herren befand sich der »englische Lord«, jetzt natürlich im vorschriftsmäßigen Lawn-tennis-Anzug.

Nöhrings blieben stehen, um dem Spiel zuzuschauen. Der junge Mann, der eben seinen Ball geschlagen hatte, wandte sich um, und als er Freda erkannte, richtete er aus der Entfernung einen langen, festen Blick auf sie.

Papa Nöhring ergriff den Arm der Tochter und ging weiter.

»Er gefällt mir eigentlich nicht recht«, sagte er nach einiger Zeit.

»Wer?« erwiderte Freda kurz.

»Na – der – unser Visavis – du weißt ja.«

Freda sagte nichts.

»Er hat so etwas von einem Dandy,« fuhr der Regierungsrat fort, »beinahe, wie man heutzutage sagt, von einem Gigerl.«

»Kann ich aber wirklich nicht finden,« entgegnete sie, »wir sind's eben bei uns zulande nur nicht gewöhnt, daß junge Männer sich ein bißchen elegant anziehen; scheint mir aber eine ganz gute Mode.«

Ihre Worte kamen hastig, beinahe empfindlich heraus. »Außerdem ist er doch wirklich sehr aufmerksam und höflich«, begann sie nach einer Pause von neuem.

Jetzt schwieg der Regierungsrat, wie er meistens zu tun pflegte, wenn sich eine Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen beiden ergab.

Schweigend traten sie in das Haus ein, und schweigend fuhren sie im Fahrstuhl empor.

Indem sie sich zum Lunch zurechtmachte, überlegte Freda, wie schade es war, daß sie bei sich zu Hause keine Gelegenheit gehabt hatte, Lawn-tennis zu lernen.

Man erfuhr da oben doch auch nichts von der großen Welt! Rein gar nichts!

Beim Lunch wiederholte sich der Vorgang von gestern: gemessene Verbeugung des jungen Mannes, diesmal aber nicht erst zu Ende der Tafel, sondern schon als er Platz nahm, errötende Verneigung von seiten Fredas, ziemlich kurzer Dank des Regierungsrats.

Bei der Mahlzeit am Abend desgleichen.

Freda kam es vor, als ob der Papa eigentlich immer kürzer dankte, je respektvoller jener sich verneigte. Sie begriff den Papa gar nicht recht – was hatte er denn nur?

Nach dem Essen, als sie auf der Terrasse an ihrem kleinen Tisch saßen, wo Papa Nöhring jetzt ganz gehorsam seinen schwarzen Kaffee trank, begab sich wieder etwas.

Nöhrings hörten sich plötzlich auf deutsch angesprochen; als sie aufblickten, stand der elegante Fremde vor ihnen. Er hielt eine Zeitung in der Hand.

»Interessiert es Sie vielleicht?« wandte er sich mit artiger Verbeugung an den Regierungsrat, indem er ihm das Blatt anbot.

»Wir haben ein Lesezimmer im Hotel,« fuhr er fort, »aber keine deutschen Zeitungen, das heißt, keine aus Deutschland. Der ›Berner Bund‹ wird gehalten und die ›Neue Züricher Zeitung‹, beides Schweizer Zeitungen in deutscher Sprache, sehr lesbar beide, und bringen vielfache Nachrichten aus Deutschland.«

Papa Nöhring war ganz verblüfft von dem Überfall. »Sie – sind sehr liebenswürdig«, sagte er, indem er das Zeitungsblatt in Empfang nahm.

An dem Tisch stand ein dritter Stuhl.

Papa Nöhring sah den Stuhl an, ohne etwas zu sagen.

Zwanglos nahm der Fremde Platz.

Er saß zwischen Vater und Tochter, und seine ruhige Sicherheit stach bemerkbar von der Verlegenheit der beiden ab. Denn sie waren sehr verlegen, Freda nicht minder als der Papa.

Da war er also in ihrer unmittelbaren Nähe, dieser Mensch, der Eindruck auf sie machte, sie wußte selbst kaum, warum. Sie wußte es nicht, und doch war die Erklärung so einfach – sie war eine Deutsche, noch dazu aus einer kleinen Stadt – und er war ein Fremder.

Wäre er ihr da oben, zu Hause, als »gewöhnlicher« Deutscher begegnet, er hätte wahrscheinlich nicht die geringste Wirkung auf sie geübt – jetzt war sie in der Fremde, und in der Fremde ist der Deutsche ein andrer Mensch als bei sich zu Hause.

Nicht, daß ihm der Fremde immer sympathisch wäre – im Gegenteil, manchmal ist er ihm durchaus unangenehm und gegen den Strich – aber das ändert nichts an der Sache, er imponiert ihm unbedingt.

Wieviel ist über diese Erscheinung bereits gesagt worden, wie verschieden hat man sie zu erklären versucht!

Selbstbeschönigend bezeichnet man es als eine Tugend des Deutschen, der das Fremde willig in sich aufnimmt und die eigene Art in der fremden aufgehen läßt.

Aber das ist Heuchelei; denn wir nehmen den Fremden nicht auf wie ein Hausherr, der einen Gast empfängt, sondern wie Dienstboten, die einen neuen Herrn bekommen.

Man tut dem deutschen Volke einen schlechten Dienst, wenn man ihm als Tugend auslegt, was eine Schwäche ist, wenn man ihm vorspiegelt, daß es in dieser Beziehung andern Nationen voranstehe, während es darin allen nachsteht, wenn man diesen Mangel an Stolz fälschlicherweise mit dem stolzen Begriffe der »Herzenshöflichkeit« umkleidet. Wir sind schüchtern von Natur – darum erscheint uns der Fremde, der uns prüfend ansieht, ohne weiteres als der berufene Richter. Wir sind im Grunde unsrer Natur Phantasiemenschen – darum erscheint uns das Fremde mit poetischem Nimbus verklärt. Denn alles, was anders aussieht als die tägliche Umgebung, ist ein neues Weltbild, und jedes neue Weltbild ist ein Stück Poesie; es erlöst uns von dem, was wir täglich gesehen haben und dessen wir überdrüssig geworden sind.

Eine neue Sitte, die wir dem Fremden zuliebe annehmen, eine neue Tracht, die wir anlegen, um ihm ähnlich zu werden, verwandelt uns gewissermaßen, macht uns zu andern Menschen, als wir bisher gewesen sind. Darin liegt ein poetischer Reiz, denn es befreit uns von unsrer eigenen Persönlichkeit.

So wirken die Ursachen zusammen, die es uns zum Bedürfnis machen, im Fremden aufzugehen, und dieses Zusammenwirken mochte es sein, was unbewußt die Seele des deutschen Mädchens dort erfüllte, als sie jetzt neben diesem unbefangenen fremden Mann so befangen dasaß, so ihrer gewöhnten Sicherheit beraubt, daß sie auf die paar höflich gleichgültigen Worte, die er an sie richtete, kaum zu antworten vermochte.

Allzulange dauerte die gespannte Lage indessen nicht. Mit artigem Lächeln stand er auf.

»Ich darf Sie in Ihrer Lektüre nicht stören«, wandte er sich an den Regierungsrat. Dann verneigte er sich gegen Freda. Indem er es tat, sah er ihr mit einem festen Blick in die Augen.

Er zog sich zurück. Gleich darauf sah Freda ihn im Kreise der jungen Damen, mit denen er heute vormittag Lawn-tennis gespielt hatte.

Er sprach mit ihnen jetzt ebenso geläufig Englisch, wie er vorhin mit ihr und dem Papa Deutsch gesprochen hatte.

Was war er denn nun eigentlich? Ein Engländer? Ein Deutscher? Ihre Gedanken beschäftigten sich notgedrungen immer mehr mit ihm, immerfort. Mit welcher Leichtigkeit er sich überall bewegte. Der Verkehr mit der großen Welt bot für ihn absolut keine Schwierigkeit. Und sie stand vor dieser großen Welt wie vor einer verrammelten Pforte.

Dabei sprach er Deutsch wie ein Deutscher. Wenn er ein solcher war – nun, dann war es mit dem »englischen Lord« freilich nichts, aber andrerseits brachte ihn das ihr mit einem Schlage um so viel näher. Landsleute, die man im Auslande trifft, erscheinen einem ja halb und halb wie Bekannte.

Empfand sie es nicht jetzt schon wie eine Art von Zwang und Bann, daß sie nur mit dem Vater sprechen konnte und immer nur mit ihm? Jetzt war noch einer da, mit dem man sich unter Umständen unterhalten konnte – und was für einer. Sie sagte es sich im stillen, indem sie ihn unmerklich mit den Augen verfolgte und wahrnahm, wie er plaudernd und scherzend die Gesellschaft da drüben beherrschte.

Schweigend saßen beide Nöhrings an ihrem Tischchen, der Regierungsrat in seine Zeitung versenkt, Freda in Gedanken verloren.

Endlich erhob sich der Regierungsrat.

»Ich muß die Zeitung ins Lesezimmer zurückbringen.«

Die Tochter begleitete ihn. Als sie vor dem großen Tisch standen, auf welchem die Journale lagen, ließ Papa Nöhring einen öden Blick darüber hingehen. Freda stöberte in den illustrierten Blättern.

»Siehst du, Papachen, eine Menge Stoff für Stunden, wo du nichts Besseres vorzunehmen weißt.«

Er nickte etwas mürrisch, als wollte er sagen: »Dazu reist man auch Hunderte von Meilen von Hause fort.«

»Es war doch aber wirklich sehr liebenswürdig von dem Herrn,« nahm sie das Gespräch wieder auf, als sie mit dem Papa im Fahrstuhl saß, »daß er dir die Zeitung brachte, das mußt du doch zugestehen?«

Papa Nöhring gestand nichts zu. Er blickte stumm auf den Teppich, der den Fußboden des Fahrstuhls bedeckte. Es war, als wenn sich ein unausgesprochener Kampf zwischen beiden entwickelte; sie wollte durchaus das Gespräch auf den Fremden bringen, er wollte nicht darauf eingehen.

Als sie ihm heute gute Nacht sagte, vermißte sie das gewohnte freundliche Lächeln an ihm.

So gingen die Tage hin, und im Laufe der Tage lernte man nun allmählich Bordighera und seine nächsten Umgebungen kennen. Über die nächsten kam man vorläufig nicht hinaus, weil die Wärme von Tag zu Tag stieg und weitere Ausflüge unratsam erscheinen ließ.

Ganze Stunden des Tages hindurch war Papa Nöhring gezwungen, in seinem Zimmer zu sitzen oder auf der Terrasse des Hotels, unter dem Schutze ausgespannter Leinenzelte. Am liebsten aber saß er still für sich da oben.

Das Verhältnis mit dem Unbekannten machte keine Fortschritte. Er begrüßte Nöhrings, wo er ihnen begegnete, an der Tafel und auf Spaziergängen draußen; dabei aber hatte es sein Bewenden; näher trat er ihnen nicht; eine Annäherung hatte er seit jener ersten nicht wieder versucht.

Allmählich fing es Freda an zu wurmen, daß er nicht näher kam.

Sie war allein mit dem Papa – jener war mit der ganzen Hotelgesellschaft bekannt.

Das war der Unterschied. Für ihn gab es keine Langeweile; er hatte Menschen zur Verfügung, soviel er wollte.

Es regte sich etwas wie eine Art von Eifersucht in ihr.

Wenn sie bei Tische ihm gegenüber Platz nahmen, wenn sie ihm auf Spaziergängen begegneten, so wartete sie auf seinen Gruß. Sie lauerte beinahe darauf. Seine Aufmerksamkeit war ihr schon zum Bedürfnis geworden; sie hätte sie nicht mehr entbehren können. Jedesmal, wenn er sie begrüßte, sah er ihr in die Augen, immer länger, immer tiefer, immer bohrender. Und sie senkte schon nicht mehr die Augen, sie erwiderte seinen Blick.

Die stolze Freda Nöhring, die Amazone, die Walküre. – Es war, als wenn seine Blicke einen weichen Fleck in ihrer Natur entdeckt hätten, und da drangen sie ein, langsam, unaufhaltsam, zielbewußt, wie Meißel, und der weiche Fleck breitete sich aus, wuchs immer weiter; der Stolz dieser Natur fing an zu bröckeln, langsam, Stück für Stück, wie ein Eisberg abbröckelt, der in ungewohntes südliches Wasser gerät.

Und alles das hinter dem Rücken des Vaters.

Dieses schweigende Wechselspiel ihrer Augen ging an ihm vorbei, und er merkte nichts davon – wenigstens schien es so. Er sagte kein Wort. Nur sein Gesicht verlor mehr und mehr den gewohnten freundlichen Ausdruck; mißmutig schaute er drein, und es war ein passiver Widerstand, den er den Annäherungsversuchen des Fremden entgegensetzte.

Dieser merkte es wohl. Freda merkte es auch, und allmählich wuchs etwas in ihrer Seele, was sie nicht gekannt hatte bisher, was sie nicht für möglich gehalten haben würde bisher, ein Gefühl des Grolls gegen den Vater.

Warum widersetzte er sich dem Menschen? Was hatte er gegen ihn? Warum verwehrte er ihr, mit ihm zusammenzukommen? Er mußte doch fühlen, wie einsam sie war, wie sehr sie sich langweilte. War sie nicht Fleisch und Blut wie andre?

Alle ihre Versuche, das Gespräch auf ihn zu bringen, prallten an dem Stillschweigen des Vaters ab. Papa Nöhring hatte es in der Art, daß, wenn ihm etwas unangenehm war, er sich in sich selbst zurückzog und schwieg, beharrlich schwieg.

Sie kannte diese Art an ihm; jetzt empfand sie dieselbe beinahe mit Verzweiflung.

So entstand zwischen Vater und Tochter eine Art von dumpfer Spannung; einsilbig gingen sie nebeneinander her; die Spaziergänge, die sie machten, wiederholten sich, immer am Strande hinauf und den Strand herab – wie lange sollte das so weitergehen?

An einem Nachmittag war es, als sie von solchem Gang zurückkehrten, beide mißmutig, der Regierungsrat beinahe übellaunig. »Es ist eben,« murrte er, indem er in die Hotelpforte trat, »nirgends und nirgends ein wirkliches, echtes Grün in der ganzen Gegend!«

»Oh, wenn Sie danach suchen,« hörten sie in dem Augenblick eine Stimme hinter sich, »dann müssen Sie einmal nach dem Tale von Dolceacqua einen Ausflug machen. Sind die Herrschaften da schon gewesen?«

Nöhrings blickten auf. Der Fremde stand vor ihnen. Unwillkürlich hellten Fredas Züge sich auf. Seine Stimme hatte ihr geradezu belebend geklungen.

Der Regierungsrat war gefangen.

»Dolceacqua? Kann man das zu Fuß erreichen?«

»Nein, es ist eine Wagenfahrt.«

»So, so« – aber der Regierungsrat hatte bemerkt, daß das Hotel nur eine Kutsche besaß, und die war alle Tage schon in Beschlag genommen.

»Natürlich«, lachte der junge Mann. Es wäre auch ein schlechtes Vergnügen, in dem schweren Rumpelkasten auf der sonnigen Chaussee entlang zu fahren. Wenn die Herrschaften erlaubten, würde er ihnen morgen früh einen leichten Wagen aus dem Orte besorgen, mit einem echten italienischen Leinendach darüber, in dem man vortrefflich säße und gegen die Sonne geschützt wäre.

Fredas Augen leuchteten. Lächelnd schaute er sie an.

Und wenn die Herrschaften erlaubten, so böte er sich ihnen als Führer an; im Tal von Dolceacqua stände die Ruine der alten Stammburg der Dorias.

Richtig – davon hatte Freda ja im Baedeker gelesen!

Wie ein Kind hatte sie aufgeschrien; es war wie eine Annahme des Anerbietens, eine sofortige, unbedingte Annahme.

Papa Nöhring ließ den Kopf hängen. Konnte er hiernach noch ablehnen? Er fühlte sich überrumpelt.

»Also – morgen früh – soll es losgehen?«

Morgen, nach dem ersten Frühstück, würde der Wagen an der Hotelpforte bereitstehen; sie würden sich bloß hineinzusetzen brauchen – alles weitere würde besorgt werden.

Seine Blicke kreuzten sich wieder mit Fredas Blicken. »Du wirst alles schon so besorgen, daß es dir gefällt«, sagten ihre Augen.

»Ich werde alles schon so besorgen, daß es dir gefällt«, erwiderten die seinigen.

Den ganzen Rest des Tages über war Freda in heiterster Stimmung. Das Blut ging wieder rascher durch ihre Adern.

Endlich einmal etwas Neues! Endlich einmal hinaus! Und der Löwe des Hotels würde ihr Reisemarschall sein!

Mochte der Papa brummen; mochte er zwischen den Zähnen »von einem Menschen, der sich einem mit Gewalt aufdrängt«, murmeln, sie ließ ihn brummen, sie hörte nicht darauf hin.

Ihr Sinnen und Trachten war jetzt einzig darauf gerichtet, sich eine Toilette auszudenken, in der sie morgen früh »mit Anstand« erscheinen könnte, in der sie »seiner würdig« sein würde.

Ihre Bemühungen waren mit Erfolg gekrönt. Als sie am nächsten Morgen erschien, sah sie reizend aus.

Ein Kleid von weißem, türkischem Baumwollenstoff umschloß ihre schlanken Glieder; ein kleiner, mit natürlichen Blumen geschmückter Strohhut bedeckte das Haupt, ohne das reiche, schöne Haar zu verbergen; in der ganzen schlanken Gestalt, die sich auf zwei feingeformten, in gelbe Schuhe gekleideten Füßen einherbewegte, war etwas Lebenatmendes, Duftiges, Freudiges, daß, als sie auf die Terrasse des Hotels in die Sonne hinaustrat, sie aussah wie der deutsche Frühling, der bei dem italienischen Sommer zum Besuch kam.

Papa Nöhrings Gesicht wurde hell beim Anblick dieser Lieblichkeit an seiner Seite, und der »Reisemarschall«, der schon am Wagen bereitstand, empfing sie mit strahlendem Blick.

Man setzte sich ein. Freda hatte noch nie einen solchen italienischen Landwagen mit seiner Vorrichtung gegen die Sonnenglut gesehen. Sie amüsierte sich über das luftige Leinendach, das, von vier schlanken Eisenstäben getragen, über ihren Köpfen schwankte. Man plauderte, man lachte, in bester Laune fuhr man davon.

Der »Reisemarschall« bewährte sich in seiner Eigenschaft. Er schien die Gegend aus- und inwendig zu kennen; Weg und Steg war ihm vertraut, jeder Felsvorsprung in der Nähe, jeder Berg in der Ferne; er wußte ihre Namen und nannte sie. Jedes Dorf war ihm bekannt, durch das sie hindurch, jede Villa, an der sie vorbei kamen; er wußte, wem sie gehörte, und ob der Besitzer anwesend war oder nicht.

Man hätte meinen können, daß er hier in der Gegend ansässig und zu Hause, nicht daß er nur ein Fremder und nur Gast wie andere sei.

Nöhrings hörten seinen Erklärungen zu, Freda beinahe mit Andacht, der Papa mit Staunen. Es war ihnen, als lernten sie das Land, wo sie sich befanden, zum erstenmal sehen und kennen, als hatten sie vor einem verschlossenen Buch gestanden. Dieser da löste ihnen heute das Siegel.

»Dieser merkwürdige, bedeutende Mensch«, dachte Freda.

»Dieser hellgrau eingebundene Baedeker auf zwei Beinen«, dachte Papa Nöhring für sich.

Der Weg, den sie dahinfuhren, war wunderschön. Bald ging er am Meer entlang, dann wieder, vom Strand abbiegend, durch Ölbaumwaldungen und zwischen engen, sonnendurchglühten Mauern hin, über welche die Agaven ihre dicken, stacheligen Blätter herabhängen ließen, während die Wurzeln von Feigenbäumen sich in das Mauergestein einkrallten und es hier und dort aufrissen und durchbrachen.

Vor ihnen erhoben sich die blauschillernden, runden Bergkuppen, die hinter Ventimiglia aufragen, und hinter diesen, wie ein kolossaler Theaterprospekt, türmten sich schneebedeckt die Seealpen empor.

Freda war ganz in den herrlichen Anblick versunken. Die frische Meeresluft umspielte ihre Wangen. Unwillkürlich, als wollte sie den erquickenden Hauch tiefer einsaugen, hatten sich ihre Lippen halb geöffnet, so daß man die weißen Zähne dahinter schimmern sah. Indem ihre Augen jetzt aus der Weite zurückkehrten und den jungen Mann trafen, der ihr gegenüber auf dem Rücksitz des Wagens saß, schloß sie jählings den Mund. Etwas Unerklärliches hatte sie überlaufen; sie hatte die Augen des Mannes auf sich und auf ihren Mund gerichtet gesehen – mit einem Blick – was war es nur gewesen? Etwas Gieriges, Wüstes, beinahe Entsetzliches.

Unwillkürlich senkte sie die Augenlider, wie man tut, wenn man in zu grelles Licht gesehen hat. Als sie die Augen wieder öffnete, saß er ihr gegenüber, wie er ihr bei Tisch gegenüberzusitzen pflegte, gleichmütig lächelnd, ohne eine Spur von Verlegenheit, ohne daß ihm eine Wimper zuckte, völlig unverändert.

War das eine Sinnentäuschung gewesen? Eine Halluzination?

»Blendet Sie das Licht?« fragte er mit seiner hellen, angenehmen Stimme. »Die Sonne meint es etwas zu gut.«

Er deutete zur Seite, wo das Meer wie ein ungeheurer Brennspiegel die Sonnenstrahlen auffing.

»Aber es dauert nicht mehr lange«, fuhr er fort. »Wir biegen gleich vom Strande ab, und dann wird es besser; da haben Sie die Sonne im Rücken.«

Seine unerschütterliche Ruhe, die verbindliche Art, in der er sprach – Freda schalt sich im stillen wegen ihrer kindischen Anwandlung. Was mußte er von ihr gedacht haben!

In diesem Augenblick vollzog sich, was er prophezeit hatte, der Wagen bog rechts ins Land hinein, und gleich darauf fuhr der Regierungsrat wie elektrisiert empor.

»Freda,« rief er, »Bäume, Bäume!«

Eine Allee von mächtigen Platanen tat sich vor ihnen auf, in deren Schatten sie jetzt dahinrollten.

Der alte Mann wurde ganz ausgelassen vor Vergnügen. Er schwenkte den Hut vom Kopf.

»Endlich kann man doch wieder einmal Atem holen!«

Er war ausgesöhnt mit der Fahrt. Das Tal erinnerte ihn an die Heimat, und je weiter sie hineinkamen, um so üppiger wurde das Grün, um so mannigfaltiger der Baumwuchs, um so lauschiger die grüne Bergwildnis ringsumher. Sie fuhren jetzt an einem fließenden Wasser hinauf, das hoch aus den Bergen droben kam und rasch, rasch, rasch, als könnte es sein junges Leben gar nicht rasch genug beenden, zum Meer hinuntertrippelte. Dann ging es über eine kühn geschwungene Bogenbrücke in ein kleines, aus finsteren, steinernen Häusern zusammengewürfeltes italienisches Städtchen hinein – und hier, vor einer Osteria, hielt der Wagen an. Sie waren am Ziel. Über dem Städtchen, malerisch sich abhebend von einem Bergvorsprung, stand die Ruine der alten Doriaburg.

Sobald man anhielt, war der »Reisemarschall« aus dem Wagen hinaus und in der Osteria verschwunden.

»Ich schlage vor,« sagte er, als er zurückkam, »daß wir zunächst zur Ruine hinaufgehen und dann hier unten frühstücken. Ich habe eine Kollation bestellt – echt italienisch – das müssen die Herrschaften doch auch einmal kennenlernen.«

Natürlich mußte man das kennenlernen. Nicht Freda allein, diesmal war auch der Regierungsrat der Ansicht.

Immer unter seiner Führung stieg man also durch die engen modrigen Gassen des Städtchens hinauf, bis daß man auf der Höhe und bei der Ruine angelangt war.

Hier wurde die Aussicht auf das ferne Meer genossen, in dem alten, vermorschten Mauerwerk ein wenig herumgeklettert, dann machte man sich auf den Rückweg, zur Kollation.

Das Frühstück war schon fertig, als sie ankamen. Im besten Zimmer der Kneipe war der Tisch gedeckt; zwei langhalsige, mit Stroh umflochtene Flaschen prangten auf der Tafel.

Durstig, wie er war, wollte sich Papa Nöhring von dem dunkelroten Wein, der in den Flaschen leuchtete, ein Glas einschenken. Der »Reisemarschall« aber bedeutete ihn lächelnd, daß er dann Öl statt Wein trinken würde. Er nahm die Flaschen und zeigte, wie man kunstgerecht die Ölschicht, womit in Italien der Flaschenhals geschlossen wird, abschnippt. Mit brummigem Lächeln sah Papa Nöhring, mit Staunen Freda ihm zu – er wußte alles, er kannte alles; alle Verhältnisse gehorchten ihm.

Mit einer großen, dampfenden Schüssel erschien jetzt die Wirtin.

»Vermicelli mit Tomaten!« erklärte der »Reisemarschall« mit launig feierlicher Betonung, »das nationalste aller Nationalgerichte dieses Landes.«

Und nun begann ein Essen mit Hindernissen.

Freda und deren Vater, denen das Gericht fremd war, wurden gar nicht fertig damit; die fetten, rundlichen Nudeln glitten ihnen von der Gabel, und wenn sie einen Bissen zum Mund führen wollten, war die Gabel leer.

Jedesmal gab es dann ein Aufschrei und Lachen, und unterdessen schob der Fremde große Portionen des Gerichts in den Mund.

»Wie bringen Sie denn das nur fertig?« meinte Papa Nöhring, »das ist ja eine ganz unmenschliche Esserei.«

»Übung macht den Meister«, entgegnete jener, indem er sich einen neuen Haufen auf den Teller füllte.

»Ja – sind Sie denn eigentlich von hier? Man sollte es wirklich glauben«, erkundigte sich Papa Nöhring weiter.

Der Fremde schien die Frage überhört zu haben. Sein Augenmerk war auf Freda gerichtet, die eben einen erneuerten Versuch machte und nach einem Bissen schnappte.

Sie sah ganz aufmerksam darein; ihr schöner Mund machte so niedliche Bewegungen –

»Bravo!« rief der »Reisemarschall«, »diesmal ist's geglückt.« Sie hatte eine Portion in den Mund balanziert.

»Schmecken Ihnen die Vermicelli?« fragte er weiter.

»Vortrefflich«, entgegnete sie. Dann sprang sie auf, spickte dem Papa eine Gabel voll und half ihm dieselbe zum Munde führen.

»Du fütterst mich ja wie ein Kind«, meinte der Regierungsrat.

Sie küßte ihn hastig auf den Kopf. Ihr war so frei, so leicht, so glücklich zumute. Und diese fröhliche Stimmung wurde allgemein. Man trank von dem roten Landwein, den die beiden strohumflochtenen Flaschen hergaben, und nachdem man mit den Vermicelli zustande gekommen war, tat man sich an weißem Ziegenkäse gütlich.

»Na – jetzt kann man doch endlich sagen, daß man in Italien gewesen ist«, sagte Freda, indem sie sich mit gesättigtem Behagen im Stuhle zurücklehnte.

»Gefällt es Ihnen in Italien?« fragte der Begleiter, indem er ihr über den Tisch in das vom Wein rosig angehauchte Gesicht blickte.

»Aber sehr«, versetzte sie. Rückhaltlos gab sie seinen Blick zurück; es überkam sie wie eine süße Auflösung.

»Wir müssen Ihnen wirklich dankbar sein«, hub sie wieder an. »Sie haben uns die Gegend gewissermaßen aufgeschlossen.«

»Sie machen mich stolz«, entgegnete er, »aber es gibt hier noch vieles und noch Schöneres zu sehen.«

Er füllte sein Glas.

»Vielleicht gestatten die Herrschaften mir, daß ich Ihnen auch fernerhin noch hie und da meine Dienste zur Verfügung stelle?«

Mit einer respektvollen Verbeugung näherte er sein Glas dem des Regierungsrats, und nachdem er mit ihm angestoßen hatte, wandte er sich zu gleichem Zweck an Freda.

Ihre Gläser begegneten sich über der Mitte des Tisches, und im Augenblick, als sie aneinanderklangen, erbebte Freda – der kleine Finger des Fremden hatte hinter dem Glase herumgegriffen und sich auf ihren kleinen Finger gelegt, ihn fest anpressend an das Glas; und während ihr das Herz in der Brust emporschlug, als wollte es sie übermannen, blieben seine Züge unverändert, wie aus Stein gemeißelt. Sie nippte an ihrem Glase, setzte es nieder und senkte die Augen auf das Tischtuch – es war, als wenn ein glühender Funke aus dem Finger des fremden Mannes zu ihr hinübergesprungen und in ihr tiefstes Innere gedrungen sei. Er näherte sich – er kam. – Nachdem die größte Hitze vorüber war, machte man sich auf den Heimweg, und spät am Nachmittag erst, als es schon zu dämmern begann, kehrte man in das Gasthaus zurück.

»Besten Dank, wirklich besten Dank«, sagte Papa Nöhring, indem er dem jungen Mann die Hand schüttelte. Ohne ein Wort zu sagen, legte auch Freda ihre Hand in die seine. Sie gedachte des Fingers, der sich verstohlen auf ihren Finger gedrückt hatte – die Verwirrung stieg ihr in die Wangen, wie eine schwere, glühende Rose sank ihr das Haupt auf die Brust.

Als Nöhrings ihre Zimmer erreichten, fanden sie eine Überraschung vor; ein Brief von Percival lag auf dem Tisch des Regierungsrats.

»Siehst du, was das heute für ein Tag ist!« rief Freda aus. Die Ankunft des Briefes erschien ihr wie ein gutes Omen. Mit stürmischer Zärtlichkeit fiel sie über den Vater her, umarmte und küßte ihn.

Percivals Brief war auch diesmal nicht übermäßig lang, aber doch etwas länger als der erste.

Zunächst kamen Mitteilungen über Berlin, wo er nun mitten in der Arbeit saß und wo alles gut ging. Dann erzählte er von Haus, wo er mittlerweile zum Besuche gewesen war.

Wallnows waren wohl und munter, ebenso Benneckes, und ließen vielmals grüßen –

Der Regierungsrat, der bis dahin laut vorgelesen hatte, wurde plötzlich still –

Freda, die ihm behaglich zuhörend gegenüber gesessen hatte, blickte auf. Sie sah, wie er den Brief stumm zu Ende las und ihn dann mit schwerer Hand auf den Tisch legte. Der heitere Ausdruck war von seinem Gesicht verschwunden; ein Schatten lagerte darauf.

Leise nahm sie das Schreiben auf. Die Stelle, wo der Vater abgebrochen hatte, war bald gefunden.

»Was Schottenbauer anbelangt,« schrieb Percival, »so kann ich von ihm nichts sagen. Ich habe ihn nicht wiedergesehen, ich weiß nicht, wo er steckt, überhaupt weiß es niemand recht. Er soll vom Gericht fort sein. Leider habe ich neulich, als ich drüben war, keine Zeit gehabt, bei seiner Wohnung heranzugehen. Ob er an ein anderes Gericht versetzt ist oder den Referendar überhaupt an den Nagel gehängt hat, ich kann's nicht sagen. Bei Benneckes ist er noch einmal gewesen. Tante Löckchen meinte, sie hätte ihn kaum wiedererkannt, so verändert wäre er gewesen. Eine halbe Stunde hätte er bei ihnen gesessen und kein Wort gesprochen und nach niemand gefragt. Es ist recht traurig. Wenn ich etwas über ihn erfahre, schreibe ich.«

Damit schloß der Brief. Eine Nachschrift folgte: »Im Garten bin ich neulich auch gewesen. Die Nachtigall ist wieder da, und der Flieder blüht, als wenn er's bezahlt kriegte. Schade beinahe, daß ihr das versäumt.«

Lautlos, wie sie ihn aufgenommen, legte sie den Brief wieder hin. Der Regierungsrat sprach kein Wort. Eine drückende Stille trat ein.

Freda stand auf und ging hinaus, in ihr Zimmer hinüber.

Schottenbauer – mein Gott – wie ein halbverwehter Klang drang der Name zu ihr heran, wie die Erinnerung an einen Traum, wie ein Wort aus einer Sprache, die man nicht mehr versteht.

Jetzt dieser Name – und hier – wie plump er eigentlich klang – es fiel ihr zum erstenmal auf, und sie mußte beinahe darüber lachen.

Daß er auch gerade jetzt an ihr Ohr dringen mußte, jetzt, wo seit heute nachmittag dieses dumpfe Rauschen in ihrer Brust war, dieses eigentümliche, das sich anhörte, als wenn in ihrem innersten Innern, in den tiefsten Kammern ihres Blutes ein Feuer angezündet worden wäre, das knisternd und prasselnd um sich griff –

Ihr war, als stände sie im brennenden Sonnenschein inmitten einer Wiese, von fremdartigen Blumen umringt, aus deren großen offenen Kelchen ein wundersamer, schwüler Duft strömte, und während sie dastand, zog ferne an den kahlen Hügeln dort oben ein Schatten vorbei, langsam, lautlos gleitend, zu ihr hinblickend, noch einmal, bevor er verschwand, und immer noch einmal zu ihr hinblickend, ob sie nicht Zeit finden würde, ein einziges Mal auf ihn zu schauen –

Sie warf das Haupt auf und lächelte mit zuckenden Lippen.

Nein, wahrhaftig – sie hatte keine Zeit für ihn! Und sie dachte daran, daß es Zeit war, sich zum Essen anzuziehen; sie legte das Kleid von Brussaseide an, von dem sie wußte, wie reizend es ihr stand, und trat vor den Spiegel und sah, wie ihr weißer Hals aus dem matten Gelb des zarten Stoffs hervorblühte – entzückend – und über der Brust, die unter dem Kleid wie die Erwartung auf und nieder wogte, nestelte sie eine purpurrote, volle Rose fest. Und nun war sie bereit – und die große Glocke des Hotels rief hinunter in den Speisesaal.

Sie wartete, daß sie drüben die Tür des Vaters klappen und ihn hinaustreten hören würde. Er kam nicht.

Endlich entschloß sie sich, selbst zu gehen und ihn zu rufen.

Als sie die Tür seines Zimmers öffnete, sah sie den Vater am Tisch sitzen. Er hatte beide Kerzen angezündet; Manuskripte lagen vor ihm ausgebreitet. Sie erkannte mit einem Blick, was für Manuskripte es waren. Aber sie tat, als bemerkte sie nichts.

»Es wird Zeit, Papachen«, sagte sie mit unbefangenem Ton.

Der Regierungsrat fuhr auf; er hatte das Läuten, so schien es, und ihr Eintreten gänzlich überhört. Jetzt richtete er das Gesicht zu ihr hin. In seinen Augen war ein dunkler, heißer Blick, wie sie ihn noch nie an ihm bemerkt hatte. Dann stand er auf. Freda trat hinein.

»Komm, Papachen«, sagte sie lachend, indem sie seinen schwarzen Gehrock aus dem Schrank nahm und mit beiden Händen vor ihn hinhielt, damit er ihn anziehen sollte. Er war noch in dem Vormittagsanzuge, in dem er den Ausflug nach Dolceacqua gemacht hatte. Papa Nöhring machte Miene, als wollte er dem Willen der Tochter willfahren. Dann nahm er ihr den schwarzen Rock ab und warf ihn über eine Stuhllehne.

»Ah – wozu!?« sagte er.

Und das Wort kam so unwirsch heraus, daß Freda keine Einwendung mehr zu machen wagte.

Ohne ein Wort zu erwidern, nahm sie seinen Arm und stieg mit ihm die Treppe hinunter.


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