Ernst von Wildenbruch
Schwester-Seele
Ernst von Wildenbruch

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Siebzehntes Kapitel

Seit dieser Stunde, da sie so mit dem Schicksal gehadert und sich dann gewissermaßen mit ihm abgefunden hatte, war eine Art von Resignation über Freda Nöhring gekommen, eine dumpfe Gespanntheit, ein Erwarten der Dinge, die nun eintreten würden. Der Boden, auf dem ihr Dasein und das Leben der Ihrigen bis dahin in so friedlicher Beharrlichkeit gestanden hatte, war ins Treiben gekommen; unsichtbare Mächte, die stärker waren als der sich selbst regierende freie Wille, griffen herein und rückten und schoben. Percival sah sie schon dahingleiten, natürlich dem Unglück zu, das er durch eine so törichte Verbindung über sich heraufbeschwor; ein dunkles Gefühl sagte ihr, daß unter ihren eigenen Füßen der Boden auch nicht mehr fest sei.

In der Ferne stand etwas, etwas Unbekanntes, Dunkles; dem wurde sie entgegengeschoben.

Bis heute war Percivals Schicksal ihr Schicksal gewesen; daß sie daneben ein eigenes haben könnte, daran hatte sie eigentlich niemals gedacht. Jetzt wurde das anders, jetzt, da die andere gekommen war und an ihre Stelle trat.

Gleich nach dem Frühstück war Percival heute aufgesprungen. Noch bevor er auf die Regierung, an seine Akten ging, wollte er hinüberlaufen zu Wallnows, um seiner Braut guten Morgen zu sagen. Er hatte Freda mit dem Vater sitzenlassen. So würde das nun weitergehen; immer öfter würde sie für sich sitzenbleiben, immer länger, stiller und verlassener – da bekommt der Mensch Zeit, über sich nachzudenken.

Kein Wort hatte sie gesagt, als sie Percival aufspringen und hinauseilen sah; nur hinter ihm drein hatte sie gelächelt, bitter und verächtlich. Was war's denn nur, was ihn so mit Fiebergewalt zu der da drüben trieb? Die Liebe? Ja natürlich – so also sah das in der Nähe aus, was man so nennt, diese sogenannte Liebe.

Kläglich, dumm und widerwärtig! Pah!

Zu denken, daß solch ein Geschöpf Macht gewann über einen Mann, ihm Sinn und Verstand unterjochte – wodurch? Durch ihren Geist etwa? Therese Wallnow und Geist! Lächerlich! Also nur, weil der unbestimmbare Hauch über ihr lag, den die Männer, wenn sie Bücher schreiben, »Weiblichkeit« nennen, der sogenannte »Duft«, der aber in Wirklichkeit nichts weiter ist als ein Dunst, als ein Rausch, der die Männerköpfe betäubt. – Pfui! –

Nun wuchs der Tag; der Vormittag schritt weiter, und wie an allen Vormittagen saß sie auch heute an ihrem Fenster vor ihrem Nähtisch.

Indem sie dort saß und von Zeit zu Zeit auf die Straße hinausblickte, kam ihr die Erinnerung an den Winternachmittag, als dort drüben unter den Bäumen einer entlang gekommen war und zu ihr hineingeschaut hatte mit einem Blick – und plötzlich sanken ihr die Hände in den Schoß. Warum setzte sie sich denn so hochmütig über Therese Wallnow zu Gericht? Ging nicht von ihr dieselbe Macht aus, die sie an jener so verachtete, der »Dunst«, der die Männerköpfe betäubt? Hatte sie denn nicht erfahren, daß auch zu ihren Füßen ein Mann lag, unterjocht an Sinnen und Verstand? Unwillkürlich, wie sie an jenem Nachmittage getan hatte, stand sie auf und ging vom Fenster hinweg ins Zimmer hinein.

Sie hatte ein Gefühl von Erniedrigung, als müßte sie sich schämen.

So erbärmlich erschienen ihr diese Männer, so widerwärtig die Weiber mit ihrer betörenden Gewalt – und nun erlebte sie, daß auch ihr Bruder, ihr Percy, zu jenen Männern gehörte, daß auch sie ein Weib wie andere Weiber war. Was für Erfahrungen! Was für Erfahrungen!

Ihr jungfräulicher Stolz stand zürnend in ihr auf.

Sie wollte nicht!

Wenn diese schlanken Glieder, diese Augen, dieses Gesicht, wenn dieses alles ihm gefiel – hatte sie je einen Schritt getan, jemals auch nur den Wunsch gehabt, daß es ihm gefallen sollte? Wahrhaftig – nein! Mit welchem Recht also kam die Natur, diese dumpfe, tierische Macht, und machte dies alles, was ihr gehörte, und machte sie selbst zum Gegenstand seines Verlangens?

Er sollte nicht nach ihr verlangen! Niemand sollte es! Sie wollte nicht.

Schlimm genug, daß die Rose, wenn sie einmal aufgebrochen ist, nicht mehr die Fähigkeit besitzt, ihre Blätter wieder zusammenzuschließen und ihren Duft dem zu versagen, dem sie nicht duften will – aber sie war kein willenloses Gewächs; sie war ein Mensch, ein Geschöpf mit freiem Willen und selbstbewußtem Verstand.

Und mitten in all diesem großen Zorn war ein ganz kleines Gefühl, ganz klein, ganz fein, wie eine Nadelspitze so fein, bei dessen Stich sie in Empörung aufzuckte, das war das Bewußtsein, daß sie sich trotz allem darüber freute, daß auch sie die betörende Macht des Weibes besaß, daß auch zu ihren Füßen ein Mann dahingeworfen lag.

Der Zorn loderte ihr im Gesicht auf – nein, nein, nein!

Aber im tiefsten Winkel ihres Innersten saß ein Kobold und kicherte: »Ja, ja, ja!« Sie ging im Zimmer auf und ab, sie schüttelte das Haupt, als wollte sie den fluchwürdigen Gedanken hinauswerfen; dann setzte sie sich und nahm ihre Arbeit wieder vor. Und nachdem sie ein Weilchen gestichelt hatte, sanken ihr die Hände wieder herab; die Augen gingen darüber hin, auf die Straße hinaus – und vor ihren träumenden Augen weitete sich der enge Rahmen der kleinen Stadt; die Welt tat sich auf.

Ihr war, als vernähme sie aus der Ferne das Brausen unzähliger Stimmen; und jetzt sah sie einen daherkommen, den, welchem der tausendstimmige Zuruf galt. – Sie sah, wie er daherkam aus der Ferne der Welt, mit Schätzen beladen, mit Lorbeeren bedeckt, wie er daherkam, nicht rechts blickend noch links, die starrenden Augen auf ein Ziel gerichtet, auf ein Haus, auf ein Fenster in dem Hause, auf ein Weib an dem Fenster – mit Entsetzen beinahe fuhr sie auf – war es denn möglich und erhört –

Sie dachte an – ihn?!

Wieder sprang sie auf und verließ ihren Platz. Sie wollte an ihn nicht denken! Er war für sie nicht da!

An irgend etwas denken muß der Mensch aber doch. Also, an was denn nur?

An die Besorgung des Hauses? Das Haus war ihr so gleichgültig heute.

Oder an Percival vielleicht und seine Therese?

Gott – Gott – Gott –

Also wollte sie einen Gang durch den Garten machen. Vielleicht würde das ihr zur Ruhe verhelfen.

Sie raffte das Tuch um die Schultern und ging hinaus. Im Augenblick, als sie auf den Flur trat, klingelte es; der Telegraphenbote stand vor der Tür, eine Depesche in der Hand.

Sie nahm sie ihm ab und las die Adresse.

»Nöhring« stand darauf und die Angabe des Orts. Einen Augenblick hielt sie das verschlossene Papier in der Hand. Sie ahnte, von wo die Depesche kam. Wahrscheinlich war sie für den Vater bestimmt. Aber »Nöhring« war allgemein; unter dem Namen ging sie ja auch.

Mit einem Schritt war sie ins Zimmer zurück, und im nächsten Augenblick hatte sie die Depesche aufgerissen.

Aus Meiningen – natürlich!

»Mitten in der Probe« – so las sie – »der Herzog von Anfang an dabei; das Stück schlägt seine Augen auf. Tausend Grüße! Brief folgt. Schottenbauer.«

Mit hastigen Blicken hatte sie gelesen; jetzt wandte sie sich zur Tür, um dem Vater die Depesche zu bringen; an der Tür blieb sie stehen und las noch einmal. Das Telegramm war so allgemein gehalten – es war offenbar an das ganze Haus Nöhring gerichtet. Von den tausend Grüßen würde einer doch auch wohl für sie bestimmt sein – ihr Mund verzog sich spöttisch.

Und nachdem sie zum zweitenmal und langsamer als das erstemal gelesen hatte, ging sie auch jetzt noch nicht, vielmehr setzte sie sich am Tische im Salon nieder und versank in brütende Gedanken.

»Das Stück schlägt seine Augen auf« – was für ein merkwürdiger Ausdruck das war! Was für ein Jubel aus der Depesche klang!

Offenbar ging alles herrlich vorwärts, so herrlich, daß er sich nicht hatte halten können, sondern mitten in der Probe, wahrscheinlich während eines Zwischenakts, hinausgelaufen war aufs Telegraphenbureau, um denen, die er liebte, seine Glückseligkeit mitzuteilen.

Denen, die er liebte – sie warf das Blatt, das sie noch immer in Händen hielt, auf den Tisch.

Was ging das alles sie an?

Wenn unter den Worten, die sie da las, ein anderer Name, wenn Percival darunter gestanden hätte – die Wonne! – aber so –

Es trieb sie vom Sitz auf; stöhnend, mit großen Schritten, ging sie im Zimmer auf und nieder; alle Resignation war dahin; die ganze Qual der vergangenen Nacht brach wie ein Sturm wieder in ihr los und fegte alle Ruhe, Vernunft und Ergebung fort. Verzweiflung um den Bruder, Haß gegen das Weib, das ihn verdarb, Ingrimm und Neid gegen ihn, dem alles glückte und alles – das alles tobte und wütete in ihrer Seele, daß es wie Fieber durch ihre Glieder jagte, und daß sie fühlte, wie das Gesicht sich ihr verzerrte.

Es dauerte lange, bis sie sich so weit gefaßt hatte, daß sie zum Vater hinaufgehen konnte. In einem Gewölk von Pfeifenqualm saß der Regierungsrat vor seinem Schreibtisch, als Freda, die offene Depesche in der Hand, bei ihm eintrat. »Aus Meiningen«, sagte sie gleichgültig, indem sie das Blatt vor ihn hinlegte; »ich hab' es aufgemacht; es scheint mir so gewissermaßen an uns alle zusammen gerichtet.«

Papa Nöhring riß die Depesche an sich und las.

»Sieh mal an,« sagte er, »das scheint ja famos zu gehen! Der Herzog von Anfang an dabei« – er schlug mit der flachen Hand auf das Papier – »siehst du, was wir den Abend damals gesagt haben – der Meininger! der Meininger!«

So seelenvergnügt war er – Freda schaute ihn gedankenvoll von der Seite an; solch ein selbstloser Mann – wie viel mehr war Percival doch sein Kind als sie. Unwillkürlich trat sie heran, strich ihm das spärliche weiße Haar aus der Stirn und küßte ihn auf die liebe, von so edlen Gedanken erfüllte Stirn.

Lächelnd blickte er auf.

»Na – du?« sagte er, »freust du dich auch?«

Hastig wandte sie sich ab; in seinen Augen war schon wieder das schalkhafte Blinzeln, das sie ja so gut verstand und so gar nicht ertrug.

Der Regierungsrat lachte hinter ihr drein, dann riß er ein Schubfach am Schreibtisch auf.

»Da kommt's hinein,« erklärte er, »in das Archiv«, dann besann er sich. »Vorher müssen wir's aber dem Jungen zeigen; der wird sich bärenmäßig freuen, wenn er's liest.«

Freda nickte schweigend. Wie würde er sich nicht freuen, der selbstlose Sohn dieses selbstlosen Vaters? Dann ging sie rasch hinaus, denn plötzlich traten ihr die Tränen in die Augen.

Solch ein Mensch! So edel, so rein und schön – und dieses ungerechte, nichtswürdige Schicksal.


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