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Viertes Buch

Homo homini lupus

1

Ein Viertel Jahrhundert ist vergangen.

Mit andern Worten: fünfundzwanzigmal endete Fastnachtstollheit mit Aschermittwochtrübsal; fünfundzwanzigmal blühten und verblühten an Mädchenfenstern die Maien; und der elliptische Umflug der Erdkugel jährte sich fünfundzwanzigmal.

Das ist nicht allzuviel –: kaum etwas mehr als neuntausend Tage und neuntausend Nächte ... Immerhin der Tage und Nächte genug, den Menschen und der Erdoberfläche ein anderes Antlitz zu verleihen. Herculaneum starb in einer einzigen Nacht.

Der türkischen Ländergier war seit der Seeschlacht von Lepanto das Rückgrat gebrochen. »Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter!« hatte der Todesengel dem Sultan vor Zrinyis Festung zugerufen, – jenem unersättlichen Völkerfresser Suleiman dem Großen, der die mit Stroh ausgestopfte Haut des cyprischen Generals Bragadino sich als Geschenk zuschicken ließ. Seine schwächlichen Nachfolger erhielten so grausige Trophäen nicht mehr. Sultan Murad ermordete, um auf den Thron zu gelangen, fünf seiner leiblichen Brüder, – seinen Christenfeinden jedoch in offener Feldschlacht den Garaus zu machen, fehlte es ihm an Geschick und an Geld. Ausgesogen hatten die Eroberungskriege die Osmanen. So beschloß denn die Hohe Pforte, den Handelsverkehr mit den Christenhunden zu begünstigen, in der Hoffnung, durch Abgaben und Zölle den Staatssäckel wiederauffüllen zu können. Den Seeräubern – (den sonst so gern geduldeten Schakalen und Mitfressern am Mahl des osmanischen Tigers) – wurde eine Zeitlang in den levantinischen Gewässern das Handwerk gelegt.

An einem Septembernachmittag ging ein Frenk – d. h. ein Europäer – durch den Basar von Aleppo und suchte die Stände der Seidenhändler auf, bei denen er Einkäufe machte für sein Handelshaus in Florenz. Zwar war die Seidenzucht seit einem Jahrtausend in Europa heimisch – (seitdem nämlich ein griechischer Mönch die Seidenraupe in seinem hohlen Wanderstabe aus Ceylon heimgebracht hatte) –; doch von der italienischen, aus den Kokons des Maulbeerspinners gewonnen Seide sehr unterschieden – schwerer, knistriger und kostbarer – waren die asiatischen »wilden« Seiden, gesponnen aus der Puppenumhüllung eines japanischen Falters oder auch eines indischen Nachtpfauenauges. Wer solche Ware nach Florenz brachte, durfte auf guten Absatz rechnen.

Der italienische Händler hatte den pomphaften Namen Cavaliere Traiano Bobba da Casale de'signori di Rosignano nel Monferrato. Einst war er der Sekretär Cosmos gewesen, der den schreibgewandten, vorurteilslosen, vor keinerlei Folgerung zurückschreckenden Jüngling »seinen kleinen Macchiavelli« zu nennen pflegte. Das war freilich schon lange her. Der Jüngling von damals hatte jetzt silberdurchblinkte Haarsträhnen, hatte schon seine sechzig Jahre auf dem Rücken. Ein zweiter Macchiavelli zu werden, war seine Ambition längst nicht mehr: gleich nach dem Tode Cosmos hatte er den Hofdienst aufgegeben, war der Schwiegersohn und dann der Geschäftsteilhaber des bedeutendsten Florentiner Seidenhändlers Cornelio Buondelmonti geworden. Alljährlich reiste er im Spätsommer nach Aleppo, sein Warenlager zu ergänzen.

Im Vergleich zur syrischen Sommerhitze zwischen den graubraunen fensterlosen Hausmauern Aleppos ist die Temperatur in den gedeckten Hallen des Basars, wo kein Sonnenstrahl sich hin verirrt, beinahe kühl zu nennen. Aus Düften von Rosenessenz, Nargilehrauch, Hammelfettgestank, eisigem Scherbet-Aroma und menschlichem Schweißgeruch ist der kältliche Dunst zusammengebraut, der durch die engen Basargassen flutet. Und zwei Menschenströme begegnen sich zwischen den Verkaufsständen, gleiten reibungslos aneinander vorbei. Überaus bunt und bizarr ist dies Gewoge, grellfarbig durch das Gemisch von Rassen und Volkstrachten, von Mohammedanern, Juden, Feueranbetern und Heiden, etlichen christlichen Mönchen und zahllosen tiefverschleierten Frauen.

In solcher Umgebung fällt ein vornehmer Italiener nicht sonderlich auf. Die Seidenhändler grüßen den Cavaliere Traiano Bobba als alten Bekannten, als jährlichen Messebesucher: sie würden ihn vermissen, wäre er dieses Mal daheim geblieben. Wenn auch radebrechend, vermag er sich türkisch zu unterhalten und ohne Hilfe eines Dolmetschers Preise herabzuhandeln, Kaufverträge abzuschließen.

Nachdem er einem Araber einen beträchtlichen Posten chinesischer Flockseide abgekauft hat, erwähnt er, sich verabschiedend, daß er vorhabe, einen Abstecher an den Euphrat zu machen; noch unbekannt sei ihm die vielgerühmte Stadt Urfa, wo Erzvater Abraham seinen Sohn Isaak an Armen und Beinen gefesselt auf die Holzscheite legte, um ihn wie ein Lamm zu schlachten und als Brandopfer darzubringen. Und er erkundigt sich, ob es richtig sei, daß man Urfa in vier Tagesritten erreichen könne.

»Sogar in drei, wenn man ein geschwindes Pferd hat«, antwortet der Araber »Doch du kommst nicht hin, Herr! Noch erfuhren es nur wenige – (sonst wäre der Basar leer wie ein Grabgewölbe) –, ich aber weiß es aus bester Quelle: in Urfa sind einige Pestfälle vorgekommen. Statt nach Osten wirst du bald – vielleicht morgen schon – nach Westen, zur Hafenstadt Skenderun reiten. Denn falls nicht der Allerbarmer dem Euphrat befiehlt, der wandernden Seuche den Weg zu verlegen, wird die Pest vielleicht schon morgen vor Aleppos Stadttor stehn, das zu schließen vergeblich wäre ...«

Sorgenbleich kehrt Traiana Bobba in sein Absteigequartier heim. Den griechischen Wirt der Locanda trifft er vor der Haustür und fragt ihn, ob auch er meine, daß Aleppo von Pestgefahr bedroht sei. Dem Wirt ist diese Fragestellung äußerst peinlich. Mehr als die Pest, an die er nicht glauben will, fürchtet er die Panik, wie sie schon des öfteren, infolge von falschen Gerüchten, dem Basar und der Stadt geschadet hat; – ihm das Geschäft verderben könnte eine Panik, die reichen Gäste aus seiner Locanda vertreiben ... Darum spottet er über die Unglückskunde des allzuängstlichen Arabers und will sie nicht wahr haben. Aber Traiano Bobba läßt es sich nicht ausreden. Müde der Kontroverse zeigt schließlich der Wirt auf einen vorüberschreitenden alten Kurden und sagt:

»Fragt den Teufelsanbeter dort; – kein Mensch vermag wie er Auskunft zu geben über die Pest.«

»Wieso? Was hat der Mann mit der Pest zu schaffen?«

»Genau so viel, wie ein Ichneumon mit einer Giftschlange zu schaffen hat, oder ein Leopardenjäger mit einem Leoparden. Die schwarze Pest hat keinen ebenbürtigen Gegner außer ihm. Er ist ein Arzt, ein englischer Arzt.«

»Und geht in kurdischer Tracht?«

»Weil er seit mehr als zwei Jahrzehnten unter den Teufelsanbetern lebt; ja, es wird sogar von ihm erzählt, er sei selber ein Diener des Königs Pfauhahn geworden ... Doch das mag Verleumdung seiner türkischen Kollegen sein, weil ihnen, zu heilen wie er, das Wissen und die Gewandtheit fehlt. Man nennt ihn auch den Pestarzt: so unerschrocken sucht er pestverseuchte Städte und Dörfer auf und harrt bei den Kranken aus, wenn sie von jedermann verlassen wurden ...«

2

Traiano Bobba holt den Teufelsanbeter ein und redet ihn auf türkisch an. Staunend ist jener stehngeblieben. Und jetzt erst kommt es dem Cavaliere zum Bewußtsein, wie ärmlich der Mann ausschaut, wie zerschlissen sein Gewand ist. Aber auch die Greisenschönheit des Kurden fällt ihm auf, der aristokratische hagere Gliederbau, die langen weißen Hände, das runzelige gelbliche, wie zerknittertes Pergament durchsichtige Gesicht, und vor allem die großen leuchtenden Eulenaugen.

»Wo sah ich diese Eulenaugen einst?« überlegt sich Traiano Bobba, während er über die Pestgefahr höflich sich Auskunft erbittet, die ihm jener ruhig erteilt. Für Aleppo – erklärt der Greis – sei vorläufig nichts zu befürchten: verschont sei auch noch Urfa von der Seuche; – das Gerücht verwechselt Urfa mit dem weiter östlich gelegenen Diarbekr, wo allerdings die Pest schon mehrere Opfer forderte.

»Wo hörte ich diese Stimme einst?« fragt sich der Cavaliere ...

Obgleich die erhaltene Auskunft den Cavaliere beruhigen müßte, beunruhigt ihn jetzt das umherflackernde Suchen und Tasten des eignen Gedächtnisses, das, den Eulenaugen und der Stimme auf der Spur, im Dunkeln tappt. Wie ein Blitz durchfährt ihn plötzlich die Erkenntnis, daß es Messer Giuliano ist, der vor ihm steht, jener König von Cypern, Pastetenbäcker und Rex Seraphicus, mit welchem er vor einem Vierteljahrhundert im Palazzo Pitti manches Gespräch geführt hatte. Und er schämt sich geradezu, daß ihm der Gedanke nicht früher kam, – war er doch zugegen gewesen, als im Boboligarten Giuliano von seinem Aufenthalt bei den Teufelsanbetern erzählte.

»Seid Ihr es oder seid Ihr es nicht?« ruft Traiano Bobba auf italienisch aus. »Ihr gleicht einem Messer Giuliano, den ich vor langer Zeit bei Hofe sah in Florenz.«

»Der bin ich; und Ihr, Signor, seid der Cavaliere Traiano Bobba da Casale!« entgegnet Giuliano lächelnd. »Ihr müßt wohl geistersichtige Augen haben, Cavaliere, daß Ihr imstande wart, durch all meine Runzeln hindurch mein wahres Gesicht zu erblicken.«

»Leute in unserem Alter erblicken ihr eigenes Spiegelbild, wenn sie Altersgenossen nach langer Zeit wiedersehn. Doch gottlob sind wir beide noch nicht Gespenster. Und Ihr, Signore, erscheint mir jünger und rüstiger als ich.«

»Der Anschein trügt, Cavaliere. Ich bin mein eignes Gespenst, ich starb mir selber ab, seitdem ich freiwillig dem Leben den Rücken kehrte und in ein Schattenland entschwand, um dem Tode seine Beute streitig zu machen ... Nach Diarbekr rufen mich die Sterbenden, knapp bemessen ist meine Zeit ... Dennoch würde ich gern bei Euch verweilen, denn manch eine Frage hätte ich wohl an Euch zu richten, gedenkt, daß ich vor zwei Jahrzehnten zum letztenmal Nachricht aus Florenz erhielt.«

»Gern will ich Euch Red' und Antwort stehn, Messer Giuliano. Aber hier zwischen bellenden Kötern und Melonenverkäufern läßt sich's nicht ungestört reden. Kommt mit mir in meine Locanda.«


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