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18

Sie durchschritten zwei Zimmer, wo Motten und Rost und die fressende Zeit wenig verschont haben. Prunkräume waren das einst, als noch der Name Albizzi den Namen Medici überstrahlte, als noch die Adelspartei sich ihre Führer unter den allmächtigen Albizzi wählte. Jeder Gegenstand – ob Möbelstück, ob Vase, ob Bilderrahmen, ob Teppich – trägt eine heimlich blutende Wunde, zeugt von früherem Glanz und armseligem Verfall.

Die Tür zum dritten Zimmer ist geschlossen. Der alte Diener pocht, öffnet zaghaft, will seinen Herrn – wenn er schon den Namen des Gastes nicht nennen darf – wenigstens durch ein Zeichen warnen. Die Absicht des Greises erratend, schiebt ihn Cosmo zur Seite und tritt ohne ihn ein. Betäubender Moschusduft legt sich ihm schwer auf die Lunge. Vor den Fenstern sind zerschlissene Gardinen herabgelassen, obgleich das Tageslicht draußen noch nicht erlosch. Nur die Mitte des schwarzdunklen Raumes ist durch zwei auf einem Tisch stehende Leuchter erhellt.

Albizzi, der Eigner des morschen Palastes, sitzt am Tisch vor einem Haufen alter venezianischer, Brabanter und Valencienner Spitzen, die er von seinen Ahnfrauen ererbt hat. Zärtlich und müde wühlen seine Finger – seine femininen, schneeigen, adligen Finger – im vergilbten Tand, den, seien es lachende, seien es weinende Mütter und Bräute, Nonnen und Buhlerinnen geklöppelt haben.

Hochfahrend wendet er sein wunderschönes spitzbärtiges Gesicht dem unangemeldet Eintretenden zu. Beginnende Paralyse kündigt sich in seinem leeren Blicke an.

»Was wollt Ihr hier? Wer seid Ihr?«

»Ihr könnt mich ›Guter Mann‹ anreden. Ich bin einer der guten Leute von San Martino«

»Meint Ihr, ich sei blind? ... Ihr bildet Euch wohl ein, ich hätte Euch erwartet?«

»Schwerlich.«

»Ich habe von euch schwarzen Raben gehört, die ihr Verschmachtende in der Wüste labt. Aber laßt Euch sagen, guter Mann, –: ich bin ein Weißer!«

»Ein weißer Rabe?«

»Nein, – ein Weißer, ein Guelfe! Was habe ich mit Euch zu schaffen? ... Man erzählt sich: ihr guten Leute unterstützt Arme mit Dukaten, die euch Cosmo schenkt.«

»Ja, so reden die Unterstützten.«

»Bin ich einer? Wie wagt Ihr, zu mir zu kommen? Bin ich ein verschämter Armer?«

»Bei Gott, verschämt seid Ihr nicht!«

»Das will ich hoffen! Weshalb sollte ich mich schämen? An der Welt ist es, sich zu schämen, daß ein Albizzi sich eine Marmorstatue nicht erstehen kann, wenn er den Drang dazu hat!«

»Den Drang habe ich nicht.«

»Ihr seid eben kein Albizzi, guter Mann! ... Und wißt Ihr, wer schuld am Verfall unseres glorreichen Hauses ist? Die Medici! ... Liebt Ihr die Medici, guter Mann?«

»Nein. Es ist eine schlimme Gesellschaft.«

»Das gefällt mir, daß Ihr das sagt. Wir können Freunde werden! ... Oh, es gibt viele, die so denken wie Ihr und ich – nur wagen die wenigsten es auszusprechen, weil jeder jeden für einen Spion der Medici hält ... Kennt Ihr das Märchen von der Milch aus den Brüsten des Adlers? Alle Medici wurden so teuflisch gesäugt. Der schlimmste aber ist Cosmo. Er hat es darauf angelegt, mich zugrundezurichten, und es ist ihm gelungen.«

»Warum denn?«

»Weil er mich fürchtet und vor mir zittert. Er haßt mich wie die Pest.«

»Das kann doch kaum sein. Hattet Ihr einen Streit mit ihm?«

»Mit Cosmo? Nein, ich habe, Gott sei Dank, noch nie ein Wort mit ihm gesprochen und werde mich auch schön hüten, es zu tun.«

»Fürchtet Ihr ihn? Ihr sagtet doch eben, er fürchte Euch und zittere vor Euch.«

»Ha! und ob er vor mir zittert! ... Meinerseits ist es nicht Angst, wenn ich ihm nicht begegnen möchte – (denkt das ja nicht, guter Mann!) –, aber ich könnte mich hinreißen lassen und es könnte geschehn – – –«

»Was?«

»Das, wovon jeder Republikaner träumt ... Ihr versteht?«

»Ja, ich verstehe ... Welch ein Glück für Cosmo, daß Ihr ihm nie begegnet seid!«

»Übrigens – ich hätte heute mit ihm reden können.«

»Mit dem Duca?«

»Ja, stellt Euch vor! Heute früh, als ich noch schlief, war er hier ... Eigentlich tut es mir nachträglich leid, daß ich es verschlief. Ich hätte ihm zumindest eine Wahrheit ins Gesicht schleudern sollen – eine Wahrheit, die kein Mensch ihm zu sagen wagt.«

»Und das ist?«

»Daß sein Sohn Don Pietro schuldlos in der Torre di Nona schmachtet, – denn genau zur selben Stunde, als die Kurtisane mit zwanzig Dolchstichen ermordet wurde, befand sich Don Pietro im Schlafgemach der Freundin und Geliebten des Duca, der Signora Donna Faustina de' Medici, und malte ihr einen azurblauen Schmetterling auf einen Körperteil, den zu nennen ich zu vornehm erzogen bin.«

»Seid froh, Messer Luigi, daß Ihr das dem Duca nicht gesagt habt! – Er hätte es Euch nie verziehn! ... Nennt den Körperteil.«

»Das kann ich nur flüsternd tun, guter Mann, –: eine verschneite Landschaft mit zwei sanften Hügeln ...«

»Von wem habt Ihr es?«

»Von meinem Töchterchen; und die hat es von einem Zechbruder des Prinzen.«

»Ruft Semiramide her! – Ich muß es aus ihrem Munde hören!«

»Unmöglich, guter Mann! Wo denkt Ihr hin? Meine Tochter ist unpäßlich und liegt zu Bett!«

»Corpo del diavolo! Führt mich sofort zu Semiramide oder ruft sie her!«

»In welchem Ton erlaubt Ihr Euch mit mir zu reden, guter Mann? In meinem Hause herrscht der modus florum, der Blumenton. Ich habe zarte Ohren.«

»Wollt Ihr sie herrufen oder nicht?«

»Ich will meinen Haushofmeister rufen, damit er Euch an die Luft setzt, guter Mann!«

Nach diesen Worten Albizzis zieht sich Cosmo die Kapuze vom Kopf und knöpft sich sein schwarzes Gewand auf. Die Kutte gleitet von ihm ab, – in dunkelblau schimmernder Stahlrüstung steht er vor dem zu Tode erschrockenen Blumenhirten.

Dieser fällt auf die Knie wie einer, der des Henkerschwertes sausenden Hieb erwartet. Er winselt:

»Erbarmen! ... Erbarmen, Eccellenza Serenissima!«

Verachtungsvoll, beinahe mitleidig ob solchem Jammeranblick, betrachtet Cosmo den Republikaner.

»Steh auf, Messer Luigi, spiele mir keine Affenkomödie vor. Geh, hole deine Tochter!«

Albizzi eilt hinaus. Bald genug kehrt er wieder. Auf dem kurzen Wege – hinauf in das obere Stockwerk und von dort zurück – ist ihm sein Guelfentum verloren gegangen. Der Republikaner hat sich in einen Kuppler verwandelt. In tiefster Ehrfurcht bietet er sein Kind dem Minotaurus an.

»Sie kann nicht das Bett verlassen, Eccellenza, sie ist krank – krank wie ein Blümchen, das in zu heißem Sonnenlicht stand. Vertraulich gesagt: Ihr wart das heiße Sonnenlicht, Eccellenza Illustrissima.«

»Ich? ... Was faselst du, Mensch?«

»Sie hat eine wundersame Neigung zu Euch gefaßt, Eccellenza. Das ist ihre Krankheit. Geht hinauf an ihr Bett, Eccellenza: tröstet mein Töchterchen, das Maienblümchen. Oh, sie ist ein Wundergewächs und ist so überladen mit Liebe ...«

19

Vierundzwanzig Stunden später sitzt Giuliano, der Kerkerhaft ledig, mit Cosmo, Faustina, Gracia, Agostino Selmi, Traiano Bobba und Sforza Almeni im Boboli-Garten, wo am Eingang zur Grotte ein von Windlichtern erhellter Palisandertisch mit goldenen Obstschalen, goldenen Tellern, emaillierten Weinkannen und ausgegrabenen etruskischen Weingläsern gedeckt ist.

Auf höheren Wunsch soll Giuliano sein abenteuerliches Leben erzählen. Seine vom Duca sorgsam auserwählte Zuhörerschaft hat sich zur angesagten Abendstunde eingefunden – alle bis auf Don Gracia. Verstimmt über die Unpünktlichkeit seines Sohnes, schickt Cosmo Sforza Almeni und dann Agostino Selmi in den Palast, den Saumseligen herbeizuholen.

Doch Don Gracia befindet sich nicht im Palast, hat sich vielmehr vor etwa einer Stunde in die quer Pitti gegenüberliegende Klosterkirche San Felice begeben, durch einige Zeilen Nina Sansedonis dorthin bestellt. In diesen zwei Tagen, die seit dem Maifest – (seit dem Bericht des Friseurs von der Strohpuppe an Donna Tollas Fenster) – vergangen sind, hat er sich schon dreimal hier mit Nannina heimlich getroffen. Die beste Freundin Tollas ist ja Nannina; und da Faustinas Vorwürfe – hätte er sich offenbart – seine Verzweiflung zum Irrsinn gesteigert hätten, war Nannina Sansedoni die einzige gewesen, an die er sich in seiner Not hatte wenden können; war sie doch auch die einzige, die um seine und Tollas Sünde wußte, und das schon seit längerer Zeit. Durch sie hatte er gehofft, auf dem laufenden gehalten zu werden über das, was im Hause Fiordespini vorging und in den nächsten Tagen vorgehn würde. Bei den bisherigen drei Zusammenkünften hatte sie die Aussagen Aliprandos zwar bestätigt, war aber bisher nicht in der Lage gewesen, neue Tatsachen mitzuteilen, außer daß Tollas Fieberzustand sich von Stunde zu Stunde verschlimmerte.

Inzwischen ist auch Gracia, ohne selbst es zu ahnen, und ohne daß es andern bisher auffiel, an Malaria erkrankt infolge der Nacht, die er bei Tolla verbrachte, angesteckt von ihren kranken Küssen. Fiebrig gehetzt schreitet er, Nannina erwartend, auf und ab in der schummrigen Kirche. Die Glasmalereien durchschimmert kein Sonnenstrahl mehr, wohl aber ein langsam erlöschendes Abendrot, bis allmählich Nachtdunkel durch die schwarz gewordenen Fenster hereinflutet und dem flackernden Lichtergeflimmer auf dem Altar zu mystischem Glanz verhilft.

Nannina kommt. Gracias Fieberaugen gewahren im Dämmer nicht, wie rotgeweint die Augenlider des sonst so heitern Mädchens sind, wie verschreckt und verstört sie dreinschaut, wie schwer sie die Furcht, ihm zu nahen, überwindet. Doch auch sie – erdrückt von der Hiobspost, die sie ihm überbringen soll – merkt nicht, daß ein Kranker vor ihr steht. Sähe sie's, würde sie ihn ja schonen ...

Sie faßt ihn am Ärmel und zieht ihn in eine Seitenkapelle hinein, wo sie vor Belauschung sicher zu sein glaubt. Und nachdem sie sich mehrmals scheu umgeblickt, flüstert sie ihm zu: Tolla sei tot.

Lautlos stürzt er zu Boden und liegt eine Weile, der Sinne beraubt, da. Sie kniet bei ihm, legt den Kopf des tief Schlummernden auf ihren Schoß, nimmt aus einem Täschchen eine Phiole mit Orangenblütenwasser und bespritzt sein Gesicht damit, bis er die Augen aufschlägt. Nicht geringer als ihre Besorgnis um ihn ist jetzt seine Verlegenheit vor ihr, sein Schamgefühl über die gezeigte Schwäche, über seine im Halbschlaf vergossenen Tränen. Rasch erhebt er sich und wischt sich scheu die Wangen trocken (auf denen das gespritzte Parfüm sich mit Tränen vermengt hatte). Sein gekränkter Stolz drängt den Seelenschmerz zurück. Mit beherrschten Worten besteht er darauf, daß Nannina ihm alles sage und nichts verschweige.

Weit weniger beherrscht als er, bricht sie in wildes Schluchzen aus und stammelt einen Bericht zusammen, so verwirrt und verwirrend, daß er Mühe hat, den Sinn ihrer überhasteten, von Weinen unterbrochenen, zusammenhangslosen Sätze zu erfassen. Erst nach und nach erfaßt er, daß ihre Trauerrede ihn nicht an einen Sarg, nicht an eine aufgebahrte Mädchenleiche heranführt, sondern an einen mit Rosen überwachsenen grauenvollen Schlund, einen Abyssos von Gemeinheit, den sein unerfahrenes Knabenherz nimmermehr fähig gewesen wäre unter so schöner Hülle zu vermuten.

20

Aus Nanninas chaotischem Gestammel hätte die kleine Semiramide degli Albizzi eine ihrer Novellen verfassen können und hätte – wozu Gracia nicht imstande war – als begabte Psychologin herausgespürt, daß das Gejammer der Erzählerin nicht frei von einer unbewußten Genugtuung sei. Denn Nannina hatte immer das sündige Glück ihrer Freundin Tolla, ohne sich selbst Rechenschaft darüber zu geben, mißbilligt und beneidet, als Mitwisserin und Gönnerin des Liebespaares hatte sie sich in den hübschen Gracia verliebt. Ihm jetzt Schmerzen zu bereiten, ist bitter und süß für Nannina. Ihrer Trauer um Tolla, obgleich echt und aufrichtig, ist ein Glücksgefühl beigemischt: ihn bemitleidend empfindet doch ihre Eitelkeit, daß er seine Liebe – (die einer viel Würdigeren wert gewesen wäre!) – an eine Unwürdige vergeudet hat. Doch alles das bleibt unausgesprochen; und es herauszuhören, hätte höchstens eine Seelendeuterin wie Semiramide vermocht.

Was Gracia den Klagen Nanninas an dürren Tatsachen zu entnehmen vermag, ist dies:

Tollas Vater hatte heute gegen Mittag seine Tochter durch einen Arzt untersuchen lassen, der ein Nachlassen des Fiebers feststellte, zugleich aber auch feststellte, daß das Fräulein schwanger sei. Die Raserei des alten Fiordespini hob von neuem an. Ihm war tags zuvor zugetragen worden, Leute – (die aus Furcht vor der Giftküche in der Fonderia de'Medici nicht genannt sein wollten) – hätten im Morgendämmer des 1. Mai Don Gracia, Cosmos Sohn, gesehn und erkannt, als er – ohne Maske vor dem Gesicht – aus dem Fenster der Donna Tolla in die Gasse hinabsprang. Der Alte, der zwei Tage lang der Malaria wegen sich Zwang auferlegt hatte, nimmt keine Rücksicht mehr, und da er, die Worte des Arztes mißverstehend, seine Tochter für genesen hält, kommt er tobend ans Bett der Fiebernden, beschimpft sie brutal und bedroht sie, um von ihr das Geständnis zu erpressen, daß sie von Don Gracia geschwängert sei. Tolla leugnet. Darauf eröffnet ihr der Alte, daß er sie gegen Abend in ein Kloster schaffen werde. Er nimmt ihr ihre Kleider weg und verschließt ihr Zimmer.

Nachdem Tolla allein geblieben ist, steigert sich ihr Fieberzustand. Sie will nicht Nonne werden. Da ihre Kleider nicht zur Hand sind und das Zimmer abgeschlossen ist, steigt sie im Nachtgewand durchs Fenster, gelangt unversehrt hinab in die Gasse und läuft einer Irrsinnigen gleich. Ihr Ziel ist die Wohnung ihrer Freundin Nannina, wo sie Schutz zu finden hofft. Doch Passanten, die sie aus dem Fenster steigen sahn und sie für eine Besessene halten, eilen ihr nach. Und nun flieht sie ziellos, bloß um den Verfolgern zu entkommen. Dadurch läßt sie sich vom eingeschlagenen Wege abdrängen, verliert die Richtung und gerät in eine Proletariergegend. Schließlich, als die Verfolger sie schon fast eingeholt haben, rettet sie sich in ein fremdes Häuschen hinein, dessen Tür zufällig offen steht. Kaum aber ist sie über die Schwelle getreten, werfen sich die Hausbewohner – es sind lauter Weiber – kreischend über sie her, schlagen sie blutig, reißen ihr Nachtgewand in Fetzen und raufen ihr die Haare büschelweise vom Kopf.

Dort nämlich in dem Häuschen lag seit mehreren Tagen ein kleines Kind auf den Tod krank, und von der Mutter war an diesem Morgen eine des Zauberns kundige Nachbarin um Hilfe gebeten worden. Als Donna Tolla in die Stube trat, hatte soeben die zaubernde Nachbarin die Kleider des kranken Kindes gekocht, um die die Krankheit verursachende Hexe herbeizuzwingen, und hatte dazu den Zauberspruch geflüstert: »Bildet eine Kette, ihr Teufel der Hölle alle, und zwingt die Behexerin des Kindes, vor mich herzutreten!«

Es war ein unglücklicher Zufall, daß gerade in diesem Augenblick das außerordentliche Bild eines schönen, ungekämmten, wirrhaarigen und fast unbekleideten jungen Mädchens an der offenen Tür erschien, gleichsam als wäre es der gerufene Krankheitsdämon des Kindes. Und weil die der Heilung des Kindes zuschauenden Frauen überzeugt waren, die »strega del bambino« vor sich zu sehn, warfen sie sich wie rasende Mänaden auf Tolla, mißhandelten sie, rissen ihr die Haare aus. Jammerrufe ausstoßend stürzt sie auf die Gasse hinaus. Doch auch dort lassen die Wütenden nicht ab von ihr. Tolla wird zu Boden geschlagen. Aus vielen Wunden blutend liegt sie nackt auf dem Kehricht der Vorstadtgasse und gebiert ein totes Kind.

Ein Verwandter Nanninas, der siebzigjährige Uberto della Stufa, wurde, als sich das eben ereignet hatte, auf dem Heimweg von Fiesole in einer geschlossenen, innen mit hellblauer Seide bespannten Chaise durch jene Vorstadtgegend getragen. Zum Glück für Tolla biegen die Träger in die Gasse, den Schauplatz der Mißhandlung, ein, als die verdutzten, ihres Irrtums sich bereits bewußt gewordenen Furien damit beschäftigt sind, dem leblosen kleinen Geschöpf die Nabelschnur zu durchschneiden. Della Stufa läßt die Träger haltmachen, steigt aus, erkennt in der so übel zugerichteten ohnmächtigen jungen Mutter die Freundin seiner Großnichte Nannina und ordnet an, daß sie so nackt und blutig, wie sie ist, in seine hellseiden gepolsterte Sänfte gelegt und unverzüglich in den Palazzo Sansedoni gebracht werde. Der greise della Stufa geht zu Fuß nebenher, tritt in eine Osteria und schreibt an Messer Sansedoni einige Zeilen, worin er um ein Asyl bittet für die Unglückliche, welche allzusehr Ursache gehabt, aus dem Elternhaus zu fliehn und dem Wahnsinn zu verfallen. Den mit dem Brief vorausgeschickten Boten kann Messer Sansedoni nicht empfangen, weil er vom Hause abwesend ist; statt seiner spricht Nannina mit dem Boten, erfährt von ihm das Grauenhafte; sie sorgt für einen Arzt, für Verbandzeug, läßt ihr eigenes Bett für die Freundin frisch beziehn. Die Sänfte langt an, Tolla wird in Nanninas Bett gelegt. Der Arzt wäscht und verbindet die Wunden; doch auf Nanninas angstvolle Fragen findet er keine Trostlüge; als einzige Medizin verschreibt er die Letzte Ölung. Ein Priester wird geholt. Nachdem Tolla gebeichtet und das Sakrament genommen, schwinden wie durch ein Wunder ihre Schmerzen; und die Trübung ihres Geistes weicht hellseherischer Klarheit. Sie zittert nicht um ihr Leben, das sie schwinden fühlt, sie zittert mehr um das Leben Don Gracias, der durch ihr Verschulden Gefahr läuft, der Rache ihres Vaters oder ihrer Brüder anheimzufallen. Darum fleht und drängt sie, man solle ihren Eltern melden, sie liege auf dem Sterbebett; und Eile sei geboten, falls sie ihre Tochter noch einmal sehn wollten; sie habe – bevor de Tod ihr den Mund verschlösse – Wichtiges zu offenbaren ... Ihr Wunsch wird erfüllt, den Eltern wird Nachricht gegeben. Bis sie aber kommen, redet Tolla unter vier Augen mit Nannina, gequält von Reue über den Betrug, den sie an Gracia begangen. Sie selbst freilich war vom frommen, engelhaften Don Giovanni, dem Bruder Gracias, betrogen worden, der ihr vorgespiegelt hatte, sie werde als seine heimlich angetraute Ehegattin im erzbischöflichen Palast zu Pisa bei ihm leben; – ihm, als einem Medici, werde es nicht schwer fallen, vom Papst den Dispens zu einer Priesterehe mit ihr zu erwirken. Nachdem aber, während des letzten Karnevals, Giovanni sich mehrmals mit ihr im Hause der La Delfina getroffen, war er in Begleitung einer blutjungen Abenteuerin, namens Bianca Cappello, nach Pisa zurückgekehrt und hatte an Tolla geschrieben, Sua Beatitudine (der Papst) habe ihm den erbetenen Dispens verweigert ... Da sie sich bald darauf schwanger fühlte, wußte sie sich in ihrer Verzweiflung nicht anders zu helfen als durch einen schändlichen Betrug an Gracia. Sie lockte Gracia an sich, sie verführte ihn und dann teilte sie ihm mit, sie trage unter dem Herzen ein Kind von ihm ...

Zusehends schwinden Tollas Kräfte während dieses Gesprächs; ihre Hand in Nanninas Hand erkaltet. Als ihre weinenden Eltern und Brüder um sie versammelt sind, hat sie nur noch die Kraft zu sagen: »Dein Verdacht war falsch, Vater. Ich schwieg, als du mich bedrohtest; doch (damit ein Schuldloser nicht leide) darf ich nicht sterben, ohne meinen Verderber zu nennen. Versprecht mir aber, die Dolche in den Scheiden zu lassen: überlaßt es dem Allerbarmer, zu strafen oder zu vergeben! So wahr ich gleich vor Gottes Antlitz stehn werde, so wahr ist, daß meines Kindes Vater ein Priester ist. Forscht nicht nach seinem Namen! ...«


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