Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

32

Auf Zehenspitzen gehend brachte Pinnow das Licht.

Er beugte sich unter den Lampenschirm, schraubte am Docht und sah dabei verstohlen nach dem Fürsten hin, der in seinem Rollstuhl wieder eingeschlafen war oder doch in der Betäubung lag, die viele der Stunden seines Tages füllte.

Noch lehnte der Juniabend am Fenster und machte der Lampe bang. Verrinnendes Licht von mageren, schmalen Wolkentürmen rötete Schweningers Hände, die über das Handgelenk des Fürsten tasteten. Mit einem schwachen Pochen gab der Puls den suchenden Fingern Antwort, manchmal rüttelte und zuckte es in dem fast abgelaufenen Gangwerk dieses Seins.

Vom Rollstuhl des Fürsten rückte Pinnows Blick auf Marie weiter, die schwarz vor dem hellen Fenster saß; ihre Hände waren müde und ergeben im Schoß gefaltet, sehr blaß im verebbenden Lichtspiel der Lampe. Dieselbe Röte, die Schweningers Finger feuchtete, sickerte von hinten über die aufgebauschten Achselpuffen ihrer Ärmel bis zu der Seide hin, die die Unterarme eng umschloß.

Pinnows Blick wanderte weiter zu Herbert, der einige Schritte vom Rollstuhl entfernt auf einem Sessel saß und dem Vater ins Gesicht starrte. Er hatte die Finger über dem Knie ineinandergeschlungen und spiegelte in seinen eigenen Mienen die rätselhafte Fremdheit wider und die lähmende Düsterkeit, die sich über die Züge des Vaters auszubreiten begannen.

Weiter drüben, am anderen Fenster, stand Rantzau mit Bill, der gerufen worden war, und sprach mit ihm. Die Laute flatterten mit staubgrauen Flügeln und blind wie lichtscheue Tiere durch den Raum und verkrochen sich in den dunklen Ecken.

Vollgesogen mit Trauer kehrten Pinnows Blicke in ihn zurück und flüsterten seiner fragenden Seele zu: »Er stirbt.« »Er stirbt«, wiederholte er draußen dem Kellermeister, der wartend im Flur stand, und dem Reitknecht, der in der Haustür lehnte, »gegen den Tod weiß auch der Professor Schweninger kein Kräutlein.«

Mit schweren Füßen stieg der Kellermeister die Treppe hinab, schlurfte mit angezündeter Kerze zwischen Flaschen und Fässern hin und klopfte mit gekrümmtem Finger an ein halb geleertes Faß Rüdesheimer. »Er stirbt«, antwortete das Faß mit hohlem Dröhnen, »ich weiß, er stirbt.«

Der Reitknecht war in den Stall gegangen, wo die Pferde stöhnend mit den Ketten klirrten. Bismarcks braune Stute schnaubte, der Bursche hielt ihr die Linke an die Nüstern und klopfte mit der Rechten den samtweichen Hals. »Man muß es Haus und Hof ansagen«, dachte er, denn er war aus Westfalen, wo Menschen und Dinge noch enger zusammengewachsen sind als anderswo. »Er stirbt«, flüsterte er der Stute ins Ohr, und das Pferd blies durch die Nüstern und drängte ihm ängstlich die feuchtwarme Schnauze in die Handhöhlung. -

Im Zimmer oben war alles unverrückt, nur die Zeit hatte den Zeiger der Uhr weitergedreht, das Schweigen prickelte wie Ameisenlaufen durch den ganzen Körper. Fünf Menschen hatten die Seelen ineinandergedrängt und versuchten, verklammert und verschränkt, einen Wall gegen den Tod zu bilden.

Marie sah, wie die buschigen Brauen des Fürsten die Stirn hinanrückten und die Lider von einem klaren Blick hoben.

»Da war ein Schreibpult in der Wilhelmstraße«, sagte Bismarck, »an dem hat irgend jemand seinen Bleistift gespitzt … immer an derselben Stelle … jahrzehntelang …«

Erschreckt sah die Gräfin Schweninger an, aber der scheuchte mit kaum merklichem Schütteln des Kopfes alle Fieberbesorgnis hinweg.

»Immer an derselben Stelle … jahrzehntelang« … wiederholte der Fürst … »vielleicht seit Alopäus. Es war ein gutes, hartes Holz, aber mit der Zeit entstand ein Grübchen, und aus dem wurde eine Grube, und eines Tages fuhr das Messer auf der anderen Seite in die Luft … da war es ein Loch … obzwar es ein gutes, hartes Holz gewesen ist.«

Man wußte nichts darauf zu sagen, nur die Gräfin entrang sich eine Frage, ob der Vater vielleicht Wünsche habe.

»In der Paulskirche hatten sie auch Pulte, von denen schnitten sich die Besucher Späne zur Erinnerung ab. Das war wieder die Verehrung … aber für das Pult kommt's auf dasselbe heraus …«

»Sie sind ja bei dir gewesen, Vater«, sagte Bill, »die letzten aus der Paulskirche.« Ein paar verschrumpelte und verhutzelte Männlein, die damals zur Zeit der deutschen Nationalversammlung zornige Redner und drangvolle Schwärmer gewesen waren, hatten vor einigen Tagen ihren Abschiedsbesuch gemacht, schief und gebrechlich, zahnlos und greisenhaft kindisch.

Bismarck hatte den Kopf zum offenen Fenster gewandt und sah den Park in schwarzen Baumwellen vor der unergründlichen Helle der Sommernacht. Die Linien wogten in kühnem Spiel auf und nieder. »Ja, wir geben jetzt einer dem andern die Klinke in die Hand …«

»Sie sind immer noch viel frischer, Durchlaucht«, sagte Schweninger mit einer stark aufgetragenen Zuversicht, »als die alten Herren, die zuletzt hier waren.«

»Einiges möchte ich drüben wiederfinden«, spann der Fürst an seinen Gedanken: »ob sich Sultl wohl das Stehlen abgewohnt hat … als Himmelhund, mit zwei Paar azurblauen Flügeln?« Leises Schmunzeln verrann im unrasierten Stoppelkinn.

»Durchlaucht!« mahnte Schweninger, indem er sich erhob und die Stirn zu ärztlichem Befehl zusammenzog.

»Noch nicht zu Bett!« bat Bismarck, »ich klingle nachher schon.«

Sie zögerten aus der Tür, zuletzt Marie mit schweren Füßen und einem Blick, der alles Innige und Zärtliche ihres Wesens wachsam zurückließ. Mit geschlossenen Augen lag der Fürst und ließ den Nachhall der Geräusche in sich versickern; jetzt hob sich wieder die tiefe Stille um ihn wie eine Mauer und schloß ihn von der Welt ab. »Es ist lange genug Lärm um mich gewesen«, dachte er, »Bewegung treibt uns dem Tod entgegen. Sollte ihn Stille bannen können?« Es war ihm, als versinke er in einem lockeren, weichen, dunklen Etwas, das sich um die Formen seines Körpers schloß und sie bewahrte. »Man nimmt einen Abdruck von mir«, dachte er, »für das Museum Gottes.« Dann ruhte er irgendwo tief unten, ohne Zeit, im Zwischenreich von Gut und Böse, von beiden gleich weit entfernt, die Gedanken regten sich nicht, sie standen still, aber man wußte, daß sie da waren und warteten. Ein Druck von außen her entzündete ihr schmales Licht, das zitterte in einer zerfließenden, schlüpfrigen Masse, die nach allen Seiten hin grenzenlos war. »Verwandlung«, sang dieses Licht, »Verwandlung in das Eins!« Plötzliche Angst stieß wie ein spitzer Strahl von obenher ein, Angst des Ich und Selbst, mit dem Schmerz am Bewußtseinsrand, mit Sägeknirschen und der Zange der Beklemmung.

Nach Luft ringend fuhr Bismarck in einen fahlen Schein zurück und sah sich einem Menschen gegenüber, der in einem gelben geblumten Schlafrock dasaß und die Füße in roten Samtpantoffeln gegen den Ofen stemmte.

»Sie sind der Professor Hahnenkamp-Diestelweg!« sagte Bismarck verwundert, »Sie sind doch längst abgereist, denke ich.«

»Ich bin«, antwortete das Schlafrockmännlein mit einem skurrilen und verbindlichen Lächeln, »ich bin auch der Professor Hahnenkamp-Diestelweg, wenn es beliebt, jedoch nur sehr ungern. Aber Durchlaucht sollten sich nicht an diese nur höchst unbedeutende und salva venia Hinterseite meines Wesens verlieren, denn eigentlich bin ich der Kapellmeister Kreisler, aufzuwarten.«

»Kreisler? Kreisler?« sann der Fürst. »Nein: ich weiß, Sie sind der Herr Richard Wagner.«

»Auch der«, kicherte das Männlein mit einer Flucht von Grimassen, »auch der. Nur daß mir Mord und Totschlag nicht eben mit Pauken und Trompeten instrumentiert sein muß, will sagen, daß eine Mozartsche Arietta oder Glucksche Kantilene auch nicht minder deutsch ist, um von meinem eigenen verunglückten Wassernixlein zu geschweigen, das ja damals mit der königlichen Perückenkammer sozusagen auf und davon geflogen.« Er wand sich in seinem Stuhl, rieb sich die Hände und patschte die Armlehnen seines Sitzes. Unablässig lief und rieselte es durch sein Gesicht. Es war, als drängten sich unter der Miene, die wie eine zitternde halbstarre Flüssigkeit über ihn gebreitet war, unaufhörlich andere Antlitze vor, die mit einzelnen bekannten Zügen hindurchstießen und zum Licht zu gelangen trachteten: mit einem schwärmerischen Mund, einem strengen Kinn, einer kühnen Nasenkrümmung, einer wunderbar beglückenden Wangenrundung, einer blanken, klugen Stirn und mit einer Fülle von verliebten, ernsthaften, törichten, innigen, stürmischen Blicken.

»Kapellmeister?« sann Bismarck noch immer.

»Kapellmeister …«, nickte das Männlein, und der wirre Haarschopf vollführte einen ganzen Tanz dazu, »und weiland Kammergerichtsrat, aufzuwarten! Aber drüben«, er deutete mit dem Daumen über die Schulter hinaus nach einem Sternbild, das sich schief zu den Baumkronen des Parkes neigte, »nur noch Kapellmeister … bei den hundert Chören … und Musikarchivarius. Ein strapaziöses Geschäft, Durchlaucht, alles was recht ist: alle noch ungemachte Musik auszugeben und die gemachte Musik wieder in Empfang zu nehmen und diligentissime einzuordnen. Hätte mich auch schon längst davon dispensieren lassen, dieweil wir nur freiwillig und zwanglos tätig sind und ich mich ebensogut auch irgendwohin lümmeln und Maulaffen feilhalten könnte, aber, wie gesagt: eine kuriöse Liebhaberei von mir, seit jeher. Oder … wie beliebt? … noch nicht gesagt? Dann sag' ich's jetzt.« Er wand sich die roten Schlafrockschnüre um die Handgelenke, und die Quasten bissen sich miteinander herum wie spielende Schlänglein.

Bismarck war mit seinem Nachforschen bis auf den Grund gekommen: »Nein, ich kenne Sie nicht«, sagte er, und es tat ihm ordentlich leid, daß er den wunderlichen Menschen nirgends einzureihen vermochte.

»Oh … hat nichts zu sagen«, kicherte der Kapellmeister, »hat nichts zu sagen … bei den vielen Menschen, mit denen Durchlaucht das Leben zusammengeführt hat … wie viele mögen es gewesen sein?«

Bismarck sah eine dröhnende Wolke von Menschen anschwirren, ein Gewitter von Gesichtern, unzählige Köpfe, einen Schwarm von Leibern, mit plötzlich wechselnder Vorstellung, als sähe er sie in der Meerestiefe, hinter beleuchteter Glaswand angezogen wie Fische. Eine Zahl dröhnte in ihm: »Es werden an die dreißigtausend gewesen sein«, sagte er, selbst erschüttert über diese fürchterliche Zahl, in der sich ihm das Verhängnis eines Lebens, die Wucht zermalmender Arbeit mit plötzlicher Eindringlichkeit offenbarte.

»Eine Menschenmühle!« stöhnte er, »eine Menschenmühle!«

Der Kapellmeister nickte ihm freundlich zu: »Ist nahrhaftes Mehl daraus geworden … wenn auch manches taube Körnlein darunter gewesen sein mag. Was mich anlangt, hochzuverehrender Freund, wie ich Durchlaucht in Anbetracht der gegenwärtigen Umstände bereits zu nennen wage … Heda! Heda!« unterbrach er sich und tappte nach einer der Schlafrockschnüre, die sich selbständig gemacht hatte und davongekrochen war. Der Kapellmeister tat einen possierlichen Sprung und erwischte die Ausreißerin in der Ecke, wo sie sich bereits um den Tischfuß emporzuschlängeln begonnen hatte. Er kam zurück und wand die Schnüre aufs neue um die mageren Hüften: »Was mich anlangt, hochzuverehrender Freund, so bin ich immer dabeigewesen, nur eben nicht in der unmißverständlichen Eindeutigkeit dieser unzulänglichen Ebene … im übrigen erlaube ich mir, Sie bloß an einen gewissen Abend und an eine gewisse Depesche zu erinnern.«

»Ja, das waren Sie …«, sagte Bismarck, und es war ihm jetzt? als sei ihm der Mensch seit jeher vertraut und in jeder seiner Stunden zugegen gewesen.

»Sehen Sie wohl«, knurrte der Kapellmeister mit einem Blick voll unendlicher Güte und legte Bismarck die Hand auf die Stirn. Da war es dem Fürsten, als werfe er einen drückenden und recht lästig gewesenen schweren Pelz von sich, sein Atem ging leichter und freier, dünneres Blut kreiste klingend.

War das Johanna, die da neben ihm stand und ihm die Schweißtropfen von der Stirn wischte, oder Marie? Sie war nur ganz leicht hingeschattet, mit einem kleinen Gefunkel von Licht an den Umrißlinien.

»Danke dir, mein Kind«, sagte Bismarck.

Alle Dinge im Zimmer waren so, auf silbernem Grund leicht hingewischt, mit diamantenen Rändern, und seltsam genug, daß man zugleich alle vier Seiten eines jeden Dinges, sein Vorne und Hinten, sein Oben und Unten sehen konnte und auch sein Inneres aufgetan war. Man sah die Faserung des Holzes, die körnige Beschaffenheit des Steines und die selig aneinandergeschmiegten winzigen Kristalle der Metalle. »Wie Blinde stehen wir davor«, dachte Bismarck, »arme Blinde und taub dazu … das ist ja alles Musik.«

Der Kapellmeister ging mit auf den Rücken gelegten Händen ab und zu, auch mitten durch ein Ding, ohne sich oder ihm Schaden zu tun und Unordnung hervorzurufen, und nickte nur immer wieder zu Bismarck hinüber, als wisse er um sein betäubendes Glücksgefühl.

»Sind Sie bereit«, fragte er nach einer zeitlosen Weile, mit einem Ruck stehenbleibend, »sind Sie bereit zur Reise?«

»Alles zurücklassen?« sagte Bismarck, indem er sich erhob, »jetzt, wo alles so schön geworden ist?«

»Nein: alles mitnehmen«, antwortete der Kapellmeister, indem er den geblumten Schlafrock abwarf. »Belieben Durchlaucht Platz zu nehmen.«

»Sie haben Fausti Zaubermantel?« lächelte Bismarck.

»Das gemeindeutsche Kleidungsstück«, sagte der Kapellmeister mit einer Verbeugung vor einer unsichtbaren Zuhörerschaft, »das Geburts- und Sterbelinnen, mancher hat es vertan oder verschachert, ist aber doch immer wieder da, wenn es benötigt wird.«

War es Kalebs Rücken, auf dem man saß? Oder ein Boot über schwarzblauen Nachtwassern? Oder ein Baumgeäst mit lilafarbenen Büscheln von Blüten, die zur Laube gerankt waren? Tief unten schwamm der Park in Dunkelheit, aber es war keine drangvolle Finsternis, sondern nur eine andere Art von Licht, eine dunklere Schwester der Helle. Ein Zug schnob durch den Wald und brüllte: Nach Berlin! Nach Berlin!

»Es ist viel Lärm auf der Welt!« sagte Bismarck.

»Hochzuverehrender Freund«, der Kapellmeister hatte ein beschwingtes Lächeln, »hochzuverehrender Freund, belieben Sie später festzustellen, daß der Lärm von Menschenohren gemacht wird.«

Sterne zogen über ihnen dahin, unten rollte die deutsche Erde ihrem Flug entgegen, mit einem Gewink von Wäldern und Flüssen und Städten, hannoversches Land. Hildesheim türmte seine alten Dächer empor, und am Knochenhauer Amtshaus sah man die geschnitzten Figuren im Reigen um die Simse schreiten. »Das ist Göttingen«, sagte Bismarck traumhaft. Zur Rechten kochte schwarzrote Lohe aus ungeheueren Esten, Dampf zischte aus gewundenen Röhren, und stählerne Zangen schoben den Hämmern glühende Blöcke zu. Eine trockene Staubsäule, als Akten aufgewirbelt, stand über Wetzlar, des weiland Reichskammergerichtes unvergängliches Wahrzeichen; weit vorgebeugt spähte Bismarck nach Frankfurt hinab: »Der Rattenkönig!« murmelte er, und der Begleiter lachte vergnügt: »Ist aber doch an der Bismarckschen Luft umgekommen.« Da sahen sie den Rhein in starkem Strich zum Meere gehen, und da waren sie auch schon über dem Main, und Süddeutschland fing an mit Burgruinen auf Rebenhügeln, im Odenwald unten rumorte der Rodensteiner mit Weinkrügen, still und groß ragte das Straßburger Münster aus deutschem Land, und es war Bismarck, als drücke ihm sein Begleiter wärmer die Hand. Im Schwarzwald ließ der Holländermichel die Axt sinken, mit der er die längsten Bäume niederwarf, legte die Hände rund um den Mund und rief: »He! Hallo! Luftfahrer! Wohin?« Der Hohentwiel hob schon sein altes Gemäuer aus einem blaugrauen Nebel, durch den silberne Stücke des deutschen Meeres trieben. Dunkel spülten noch Wasser und Nebel gegen den Fuß des Alpenwalles, aber schon waren die Zinnen ins Morgenrot aufgewacht und standen feierlich im Halbkreis um die deutsche Welt. Der Kapellmeister faßte die Schlafrockschnüre wie Zügel an, ein Ruck am linken änderte die Richtung, es ging längs der rubinfarben bekränzten Bergwächter hin, und langsam und eindringlich begann es nach Hopfen und Malz zu riechen. Münchens fromme Maßkrugtürme waren aufgereckt, und Bismarck hörte die Kuppeln miteinander flüstern: »Da ist er! Da ist er!«

Die Bavaria auf der Oktoberwiese winkte grüßend mit der Hand, aber der Schlafrock hielt nicht an, ein kleiner Zügelruck gab ihm neuen Anstoß, die Donau schimmerte ihnen entgegen, es klang wie ein Lied, was sie sang, sie freute sich ihrer Kraft, sie freute sich der dunklen Wälder, aus denen sie stammte, sie freute sich der alten Städte, an denen sie vorbeifloß, sie freute sich, daß sie Wien vor sich hatte, mit den Praterauen und dem Kahlenberg. Da war das Ries überflogen, und Nürnberg stellte seine runden alten Türme und seine neuen dampfenden Schlote in den Morgen. Auf menschenleerer Gasse, vor kleinem, verschrobenem Häuslein klopfte ein Schustermeister in braunem Rundbart den Leisten. Er hob den Kopf: »Wachet auf, es nahet gen den Tag«, wehte es herauf. Kissingen schmiegte sich ins graugrüne Waldtal, Bismarck lächelte gelassen auf das dunkle Püppchen hinab, das seiner irdischen Erscheinung Abbild vorstellen wollte. In langen Wogen drängten sich die Rücken des Thüringer Waldes entgegen, Weimar und Jena lagen klein und verwickelt mit sauberen Straßen und einem seltsam herben Duft unter ihnen, der alles rundum lichter und klarer zu machen schien. Vor der Wartburg saß der Tannhäuser und schnitt Kerbe in einen grünenden Stab, hinter einem Busch hockte der Teufel und rieb sich den Rücken. Wo der Rennsteig auslief, sah man schon wieder neue Wälder vor sich: den Harz. Die Prinzessin Ilse saß auf dem Ilsenstein und warf Kußhände nach der bunten Schlafrockwolke, auf dem Brocken stand das Brockengespenst und grinste und focht mit den langen Nebelarmen. Wieder kam ein mächtiger Fluß daher, mit langsam gleitenden, vielgliedrigen Flößen, die Elbe, ein altes Dorfkirchlein versammelte ein paar Bauernhäuser, ein Herrenhaus zog einen grünen Park um sich zusammen. »Diese Deiche hab' ich gehütet«, sann Bismarck zur Erde nieder.

Ein Zug an der rechten Schlafrockschnur lenkte der Sonne entgegen, aber vor der Helligkeit ihres Aufganges lag noch ein großer, schwerer Klumpen auf der Erde, aus dem schwarzer Qualm und übler Rauch aufstieg. Sturmwind wühlte darin und riß Fetzen los, die er über das Gedünste aufwirbelte. Sie kreisten wie Windhosen um sich selbst, drehten sich wie gewundene Säulen empor, und es war, als werde der fliegende Schlafrock von ihnen angesogen und sinke in ihr häßliches Wirrsal hinab.

Bismarck fühlte seine Hand fest umklammert: »Dreißigtausend Menschen«, flüsterte es beklommen, »dreißigtausend Menschen, hochzuverehrender Gönner! Wie verteilt sich das auf Freund und Feind? Welche Feindschaften wünschest du mitzunehmen?«

Der Sturm wehte Gesichter vorüber, Bruchstücke von Mienen, Gelächter und Zornrufe aus Mündern, die sich aus grauem Schaum bildeten und im Nu wie Blasen vergingen, Windthorsts Brillengefunkel, Eugen Richters rechthaberische Stirn, der Bodensatz ingrimmiger und streiterfüllter Jahre. »Feindschaften?« sann Bismarck, während er immer tiefer sank und die Luft um ihn dick und beängstigend wurde.

»Feindschaften sind Lasten«, keuchte es neben ihm.

Da war es Bismarck, als sei dies alles nur aus dem Wesenlosen und Unwichtigen aufgestiegen und vermöge nichts über die innere Sicherheit und Güte. Licht war der Wille von Anfang an, aber gebrochen drang er in die Welt und verlor sich in Dämmerung. Ein jeder Mensch hatte Recht, nur mußte durch den Tod seines Lebens Gestalt begrenzt und vollendet sein, um das Recht der anderen zu schauen.

In diesem Augenblick schwanden die Sturmfetzen, die Wirbelsäulen des Nebels und der schwere Klumpen der Tiefe, eine gelbrote Wolke, bunt von Blumen, trieb der Schlafrock wieder in seligen Höhen, und unten war Berlin hingebreitet, über ein gewaltiges Stück Erde ausgespannt, und der Atem des Erwachens kam wuchtig aus seinen morgenkühlen Lungen.

Darüberhin riefen Glocken, und Bismarck hatte kaum ein leises Fragen gedacht, als schon die Antwort in ihm war: »Sie rufen um dich!«

»Deutschland! Mein Deutschland!« sagte Bismarck leise.

»Vollendet!« brauste es um ihn.

Die Wolke hielt, ganz fern und tief in der Welt lag ein Gehöft, wunderlich vertraut aus Tagen der Suche nach Gott, ein erster Sonnenstrahl kam vom Aufgang her und stach wie ein ganz feiner, dünner Schmerz ins Herz. Blendend schoß Helle aus dem Schwebenden, verwundert griff er nach der lodernden Brust: »Was ist das?«

»Die Runen Gottes«, fang es weithin aus dem Kristall, »eingegraben in Zorn und in Liebe, eingegraben in Stein und aus ihm wieder gelöst zu ewigem Bestand.«

Ein leuchtender Bogen hob sich empor, Feuerkreise wuchsen, und blendende Türme dröhnten den Schritt der Sonnen, das Unbegreifliche war wie ein gütiges Lächeln durch alle Welten hineingegossen, und flammend sank der Mensch ins Herz der Ewigkeit.

*


 << zurück