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25

Als Doktor Bucher in das Arbeitszimmer kam, stand Pinnow mit einem silbernen Tablett in der Hand vor dem Fürsten, und Bismarck verbarg irgendeine Heimlichkeit auf dem Rücken, wozu Pinnow ein schlaues Kammerdienerlächeln aus den Mundwinkeln rinnen ließ.

»Nicht herschauen, Bucher«, sagte Bismarck. »Umdrehen … wenn ich bitten darf.«

Auf dem Rücken hatte nun allerdings der Herr Geheime Legationsrat keine Augen; da er aber kein odysseeisches Wachs bei sich hatte, um sich die Ohren zu verstopfen, hörte er den Sirenenklang eines Glucksens, wie es mit naturwissenschaftlicher Sicherheit auf nichts anderes denn auf das Ausleeren einer Flasche in ein Gefäß oder in eine Kehle gedeutet werden konnte, als welch letztere hier nach Lage der Dinge ausschließlich die fürstlich Bismarcksche in Betracht kam.

Die Buchersche Deutung war auch wirklich um kein Haar vorbeigegangen, denn als er sich wieder umkehren durfte, stand der Fürst da, eine leere Champagnerflasche in der Hand, wie ein Wilderer mit dem abgeschossenen Gewehr, dem der heilige Hubertus erschienen ist, und erweckte Reue und Leid. »Ich bin nun einmal ein alkoholisiertes Subjekt, da ist nichts zu machen, und wenn Sie später zu meinen Feinden übergehen, Bucher, dann erzählen Sie in Gottes Namen, Sie hätten Bismarck eine ganze Flasche Sekt auf einen Zug austrinken sehen. Als Erzlügner, der ich nebenbei bin, kann ich's ja immer noch ableugnen, denn gesehen haben Sie's ja nicht; es war ein Diplomatenstreich, Sie umkehren zu lassen …« Jetzt ließ der Fürst den Scherz fahren, denn der Schmerz machte Ernst mit ihm und aus seinen Händen einen Schraubstock, in den er seine Backen pressen mußte. Er drückte die Knochen so fest zusammen, daß sie unter der Gewaltanwendung weiß wurden wie die Südpol- und die Nordpolgegend auf einer Erdkugel und das welke Fleisch, das doch irgendwohin verschoben werden mußte, wulstartig nach vorn quoll. »Dagegen weiß mir auch Schweninger keinen Rat«, sagte er, nachdem er die schmerzstillende Selbstmarterung beendet hatte; »er hat mir eine Menge übler Dinge vertrieben, aber der Gesichtsschmerz ist zäher als das Pech, das manche Leute auf die Hosen geschmiert haben, um nicht von den Ministersesseln zu rutschen. Dagegen hilft nur eines - gegen den Gesichtsschmerz meine ich -: Kohlensäure, aber nicht die armseligen Restchen, die noch im Glas aufperlen, nachdem der größte Reichtum zerplatzt ist, sondern der volle, sprudelnde Quell aus der Flasche. Versuchen Sie's einmal, Bucher, es ist eine brotlose Kunst, aber immerhin eine Kunst …«

Da dieser medizinischen Einleitung über ein neues Heilverfahren wenig hinzuzufügen war, begab sich Bucher zum Schreibtisch, denn er hatte nicht bloß Papier und einen gespitzten Bleistift, sondern einen noch weit gespitzteren guten Willen mitgebracht, und der Fürst streckte sich auf das Sofa, womit er einer anderen, diesmal Schweningerschen ärztlichen Verordnung folgte.

Zunächst ereignete sich weiter nichts, als daß der Fürst Zeitungen las und Bucher wartete. Dann kam die Fürstin herein, mit einem kleinen Körbchen, auf dem allerlei farbige Seiden und Deckchen beisammen lagen, ein Kunterbunt von halben Vollendungen, das weiteren Fingerfertigkeiten entgegensah. Sie schlüpfte in ihre Ecke, das war ein breitärmeliger Lederstuhl am Fenster, und wußte so gut zu schweigen wie die beiden anderen, aber sie durchspann das Schweigen mit vielen liebevollen Goldfäden besorgter Zärtlichkeit, daß es sich nach kurzem als ein so altväterliches und hausmütterliches Gewirk ausnahm wie eines von denen, die ihr unter den Fingern wuchsen.

»Haben Sie von dem Caligula-Pamphlet gehört, Bucher?« fragte Bismarck, und man merkte, daß der Haken, an den er seine Frage hing, irgendwo aus einer Zeitungszeile herausstand. Bucher hatte davon gehört, es war ein amerikanisches Gewächs, eine verschnitzte Yankeepflanze, die in Deutschland viel Wucherboden gefunden hatte. Sie tat so, als sei es ihr um nichts anderes zu tun, als dem alten Überhebling Caligula auf die Kappe zu gehen und ihm alle seine Sünden vorzuhalten: seine Ruhelosigkeit, seinen Wankelmut, seine Abneigung gegen wohlgemeinte Ratschläge, seine Neigung, überall dreinzureden, sogar die Entlassung seines ersten Ministers wurde besagtem Caligula übel angekreidet, und alles das war nach allen Regeln der Forschung mit Stellen aus Tacitus, Dio Cassius und anderen Ehrenmännern genauestens belegt. Umgewendet und von innen besehen war das Sündenregister aber jemand ganz anderem vermeint, und nach dieser Meinung des Verfassers spiegelte die Vergangenheit ganz unheimlich die Gegenwart. Bucher zögerte noch mit seinem Urteil, aber da gab sich Bismarck selbst die Antwort: »Es ist eine Unverschämtheit«, sagte er, indem er die Zeitung fallen ließ, »unsere Landsleute drüben erweisen uns mit solchen Dingen einen schlechten Dienst. Es ist etwas anderes, ob junger Most gärt, oder ob unsere Politik zum Gaudium Europas ihre Capriviolen treibt. Aus dem Most wird Wein werden, aber unsere Politik muß endlich wieder auf festen Füßen gehen, und darüber muß man die Verantwortlichen belehren.«

Johanna machte über einem Seidengerank von Vergißmeinnicht und Rosen eine ungemein kriegerische Miene. Augenscheinlich war sie keineswegs der gelassenen Auffassung ihres Gatten und neigte dazu, den Denkzettel für die Verantwortlichen noch mit möglichst kräftigen und nachhaltigen Merkzeichen zu versehen. Lächelnd las Bismarck in ihrer christlichen, sanften Seele einen ganz unchristlichen Zorn. »Johanna«, mahnte er, »wie spricht der Herr? Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Und weiter: die Rache ist mein.«

Aber Johanna hatte so viel an Kränkung und Ärger und Trauer um den Geliebten in sich hineinsaugen müssen, daß sie auch die Worte des Herrn vom Weg des Zornes nicht abbrachten, und daß sie ihn in durchaus heidnischer Gesinnung weiterschritt, selbst auf die Gefahr hin, ihn endlich in den Pfuhl der Verdammnis münden zu sehen. Sie sprach kein Wort, aber um nichts abgekühlter fuhr sie fort, ihre kriegerischen Gedanken in das sommerliche Gewinde hineinzusticken.

Bismarck wandte den Kopf Bucher zu. Der saß da und hatte den Bleistift mit dem stumpfen Ende schief gegen das Papier gestemmt, wie ein Landsknecht seinen Spieß, wenn er das Anrennen des Feindes erwartet. »Ja, Doktor«, sagte der Fürst, etwas weit herumschwenkend, »sehen Sie … ich habe mich entschlossen, unsere Arbeit aufzugeben … es wird ja doch nichts Rechtes daraus.«

Da waren Buchers eigene Worte, aber wie er sie so herankommen sah, da machten sie ihm durchaus den Eindruck von Ausreißern und Drückebergern, ein schwächliches Gezücht, das man sich schämen mußte in die Welt gesetzt zu haben und das dadurch um nichts besser wurde, daß es augenblicks bei Bismarck einen vornehmeren Unterstand bekommen hatte. Es brauchte gar kein Hahn zu krähen, da waren sie schon innerlich verleugnet.

»Ich hätte mir's früher überlegen sollen«, fuhr Bismarck fort, indem er zur Decke emporsah; die Pfeife stand ihm dabei aus dem Mund und ruhte mit dem Porzellankopf auf dem Boden, so daß eine Art Leitung zwischen der Erde und dem Himmel hergestellt war: vom Boden durch den Porzellankopf in das Rohr und seine biegsame Krümmung in den Mund und von da schicklicherweise transsubstantiiert und sublimiert mit dem Blick zum Himmel: »Ich hatte mir's früher überlegen sollen, dann hätte ich Ihnen viel Mühe erspart.«

»Aber Schweninger will doch …« wandte die Fürstin in allerunbefangenster Liebesichsucht ein. Sie machte ihre runden Augen auf, die sich sogleich mit warmer Angst füllten, denn aus dem geringsten Ungehorsam gegen Schweninger sah sie sogleich allerlei böse Gesundheitswetter aufsteigen.

»Wir haben doch eine ganze Menge geschrieben, Durchlaucht«, sagte Bucher, plötzlich steif vor Schrecken, die Anstrengung seiner Gichtfinger könnte ganz umsonst gewesen sein. Er zog einen Grund aus des Fürsten eigenen Worten und spannte ihn mit einem anderen zusammen, den er selbst erst vor einigen Viertelstunden bekommen hatte, also daß die ganze Gelegenheit jetzt doppelspännig daherkam. »Sie sagen doch selbst, Durchlaucht, man müsse Deutschland über eine gute Politik belehren. Ihre Arbeit ist Ihr Vermächtnis an Deutschland! Sie dürfen sie nicht aufgeben.«

Bismarck war eine Weile unsichtbar, es qualmte aus dem Pfeifenkopf wie aus einem Krater, und man wußte wirklich nicht, ob nicht Pech und Schwefel nachfolgen werde. »Ich habe es mir hin und her überlegt«, sagte er nach einer Weile, noch immer wie Zeus in der Wolke, aber menschennahe, »es geht wirklich nicht. Ich bin kein Geschichtsschreiber. Es ist beinahe leichter, Geschichte zu machen. Sie sind unzufrieden mit mir …«

Bucher legte erschreckt den Bleistift hin und die Hand auf das plötzlich doppelt so schnell schlagende schuldbewußte Herz. Sah dieser schreckliche Mensch denn wirklich durch alle Wände eines mit aller Festungskunst umschirmten Daseins bis in die untersten Pulverkammern, wo die gefährlichen Minen liegen?

»Mit Recht, Bucher! Sehen Sie … es ist schwer für mich. Spreche ich ganz von der Leber weg, ohne Scheu und Schonung, dann werden sie über den alten Neidhammel und Bösewicht Zeter schreien, sie werden sagen, ich mache es wie die Hunde und kratze Erde hinter mich auf den Platz, den ich soeben verlassen habe. Und hänge ich der Wahrheit das beliebte Mäntelchen um, drehe ich die Dinge nach der besseren Seite, was die Leute vom Bau stilisieren nennen, dann wird das Geschrei lauten: er kriecht zu Kreuz, er schweifwedelt, er möchte an den Futternapf.«

»Laß sie schreien«, sagte Johanna mit einem unerwarteten Anfall ihrer unter dünner Decke immer ausbruchsfertigen Zornmütigkeit, »wie du es machst, ist es gut. Und Schweninger meint …«

»Es ist eine Gewissenssache«, raffte sich Bucher angesichts dieser Bundesgenossenschaft auf, »Durchlaucht, Gewissenssache, den Schatz Ihrer Erfahrungen nicht zu vergraben. Das deutsche Volk hat ein Anrecht darauf, Ihre Stimme noch zu hören …« Er sprach nicht zu Ende, der Fünfundsiebzigjährige mahnte den um zwei Jahre Älteren abbrechend an das Wegende, dem sie beide nicht fern sein konnten.

Auf den rechten Arm gestützt, sah Bismarck seine Frau und den Getreuen an und wurde heiter bei diesem Ansturm auf seine Festigkeit. »Und bedenken Sie«, ereiferte sich Bucher weiter, »daß man Ihnen nachgesagt hat, Sie seien fertig und abgetan. Beweisen Sie durch eine Arbeit, auf welche Kraft man verzichtet hat, zeigen Sie die Frische Ihres Geistes, geben Sie dem nächsten Jahrhundert sein politisches Evangelium, das Buch des guten Rates …«

Der Pfeifenätna qualmte schon wieder, und Bismarck war verschwunden; man sah ihn nicht, aber er sah durch eine Lücke im Dampf eine Hand, die einen Bleistift hielt, schreibbereit, eine Hand, die wie eine altersknorrige Wurzel mit Knoten und Schwellungen verkrümmt war, aber schreibbereit, bis der Bleistift aus unlenksamen Fingern fallen würde. Eine wunderliche Rührung spülte wie eine laue Welle über seine Bedenken hin. Was würde Gott zu einem sagen, der immer nur nahm und nahm, ohne je etwas anderes zu geben als sich selbst?

Die Gräfin Rantzau kam herein und holte die Fürstin in einer Haus- und Küchenangelegenheit hinweg, aber der Doktor Bucher blieb auf dem Felde wie die schiefe Schlachtreihe des Epaminondas, bereit, bis zum äußersten standzuhalten.

»Warum legen wir uns hin, um gesund zu werden?« sagte Bismarck plötzlich aus einer ganz anderen Ecke her, »ich meine, warum liegen wir zu Bett, wenn wir krank sind? Ich glaube immer, daß wir in geheimen Beziehungen zu den mächtigen Strömen stehen, die durch die Erde kreisen. Wenn wir stehen, so ist die Richtung unserer eigenen Körperströme senkrecht zu der der Erdströme, sie kämpfen gegeneinander und heben sich auf. Wenn wir aber liegen, so sind wir und sie in einem Stromkreis beschlossen, und ihre große Gesundheit spült unsere kleine Schwächlichkeit fort. Und wenn wir dann ganz an die Erde hingegeben sind, dann brausen wir mit unserem kleinen Ich als eine Welle durch die Ewigkeit der Welt. - Ich möchte im Sachsenwald begraben sein, Bucher!«

Der Herr Geheime Legationsrat war aus dem Verwundern noch nicht heraus, da flog ein kleiner Schatten durch das breit offene Fenster, flatterte unsicher durch Dunkel und Licht und patschte piepsend auf den Schreibtisch hin. Auf dem sterbenden Löwen aus schwarzem Stein saß ein winziges Vogelding, ein kleines Wesen, ganz Angst und Hilflosigkeit, mit hängenden Flügeln, die wie mit dünnen Stiftchen beschlagen waren, mit keuchender Brust und entsetzt offenem, gelbgerändertem Schnabel.

Bismarck unterbrach den Pfeifenzusammenhang zwischen Himmel und Erde und sämtliche gleichgerichtete, kosmische Ströme und nahm die Beine vom Sofa. »Wie kommt so viel Glanz in meine niedere Hütte?« fragte er selig verklärt nach dem unglücklichen Besucher hin, den seine erste Ausreise in solche unerhörte Abenteuer gestürzt hatte. Ein Himmelsbote! Ein Hauch halbflügger Ahnungslosigkeit!

Noch mußte das Vogelwesen durch das Entsetzen der Gefangennahme hindurch, um der Freiheit wiedergeschenkt zu werden. »Langsam! Langsam!« bat Bismarck, auf Zehenspitzen schleichend und die guten besorgten Augen auf das piepsende Häuflein Unglück gerichtet. Von der anderen Seite schlich Bucher heran, gleichfalls auf Zehenspitzen, mit einem Herzensglanz von Behutsamkeit und Inbrunst. »Ein junger Zeisig«, flüsterte er, um ihn nicht durch ein lautes Wort zu erschrecken.

Das Zeisiglein tat, was Menschen tun, wenn unverstandene Schicksalsgewalten riesenhaft und drohend von links und rechts herankommen, es versuchte zwischen ihnen durchzuschlüpfen, und es erging ihm, wie es Menschen in solchen Fällen zu ergehen pflegt, es plumpste in die Ecke, wo man schließlich doch gefangen wird. Aber die Buchersche Schicksalshand erwies sich, obwohl gichtverkrümmt und verknotet, als ungemein sanft und väterlich besorgt. Sie trug das krabbelnde, stiftbeschlagene Flügelding hinab auf die Parkwiese, nicht anders, als wäre es ein junges Kanarienvöglein eigener Hecke; zärtlich fühlte er dabei die Gegenwehr der kleinen, jugendweichen Krallen.

Bismarck stand am Fenster und wies auf einen breiten, grünen Busch, einen ganzen Wald von Zweigen und Blättern. »Dorthin!« sagte er.

Als sich die Finger auftaten, da sah der unvorsichtige Weltreisende wieder Gras unter sich und Himmel über sich und einen Busch vor sich, in den man mit einem piependen Schrei schlüpfen konnte; und darin verschwand er auch, mit dem plötzlich aufschießenden Gefühl des Triumphes über eine Riesenwelt, weil man nämlich ein Zeisig war und als solcher mit einem genügenden Vorrat an Frechheit ausgestattet.

»Hören Sie, Doktor«, rief Bismarck, indem er sich aus dem Fenster beugte, »heute ist's schon zu spät, aber morgen setzen wir fort.« Und der Doktor Bucher stand auf dem Rasen und wußte auf Ehre und Seligkeit nicht, wie er dies zu den Erdströmen und dem Zeisig reimen sollte, und alles Herumdrehens ungeachtet kam er auch nicht damit zustande.

Am Abend dieses Tages aber löste er das heutige Blatt vom Kalender, nahm die Schere und schnitt den altneuen Jean Paulschen Spruch wieder aus. Die zerfranste Jahresmappe tat sich auf, der Kalendermacher stützte die gichtische Hand einen Augenblick gegen den abgeschabten Lederdeckel und sagte leise und innig in sich hinein: »So Gott will.«

Ein Schrittgeräusch zog den Flur entlang. Bucher öffnete einen Türspalt und sah in der Ferne die Fürstin wandeln, wie sie, das Licht in der Hand, noch vor Nacht von einer Tür zur andern ging und horchte, ob bei ihren Lieben alles in Ordnung sei.


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