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Die parlamentarischen Frühschoppen des Fürsten fanden im Reichskanzlerpalast statt, und zwar an Sonnabenden, und das war insofern der geeignete Tag dafür, als er zwischen dem Freitag und dem Sonntag gelegen ist, dem Tag der Trauer und Kümmernis und dem Tag der Ruhe und Heiterkeit. So daß er eine Art Übergang darstellt und außerdem im allgemeinen einen Tag der Läuterung und des Aufräumens, an dem allerlei Wochenstaub und -schmutz beseitigt wird. In Süddeutschland heißt dieser Tag Samstag, und Bismarck fand diesen Namen weit treffender, zum wenigsten in bezug auf sich, denn er sei sein Gehor-Samstag gegen seine Pflicht als Kanzler und als Politiker überhaupt. Sagte er.
Von seiten der Abgeordneten trug man keine Bedenken, diese Veranstaltungen zu besuchen, zumal man sich hier sozusagen bei aufgehobenem Komment und mit geöffnetem Visier begegnete. Nach allem Waffengeklirr, mit dem man die Bürgerschaft von der Rednerbühne herab erschreckt oder erzürnt hatte, durfte hier ein augurenhaftes Lächeln zum Vorschein kommen. Zweitens bis siebentens aber waren diese Bismarckschen Friedensfeste durch das, was bei ihnen an leiblichen Darbietungen verzeichnet werden konnte, keineswegs übel berufen.
Der Saal war schon fast ganz gefüllt, als ein kleines Männlein in die Tür trat, das für sich allein gewiß im Gewimmel untergegangen wäre, aber es bekam sehr rasch einen Begleiter, dem sich im dichtesten Schwarm sogleich alle Wege öffneten.
»Das ist Windthorst«, sagte Bennigsen, »seit zwei Jahren kommt er wieder, als Taube mit dem Ölzweig im Schnabel.«
»Ja, die Gewässer der Bismarckschen Sintflut beginnen sich zu verlaufen«, sagte Virchow, »und das Schiff, das auf dem Ararat hängengeblieben ist, das ist das Schiff der Kirche.«
»Über der versoffenen Welt wölbt sich der Regenbogen des Friedens mit Rom«, schmückte Eugen Richter das biblische Bild weiter aus.
»Und was sind wir dabei?« Laskers Nasenflügel schwangen in schmerzlicher Bitternis. Seine Augen ließen nicht von dem großen Lotsen, der das um soviel kleinere Schiff durch die Menschenwogen steuerte.
»Wir sind die Wasserleichen, die auf den sinnenden Wassern treiben«, sagte Bennigsen, der es Bismarck bei aller Gefolgstreue noch immer ein klein wenig nachtrug, daß er einst für ihn eine Zahl in einem politischen Rechenbeispiel gewesen war.
»Wir sind die Opferlämmer, die dem neuen Bund geschlachtet werden«, meinte Virchow; »die ganze Geschichte stinkt zum Himmel. Unser Fett prasselt.«
Indessen waren Bismarck und Windthorst in die Mitte des Saales gelangt, wo zwischen den Sitzen von Parteifreunden ein Platz für den Führer freigehalten worden war. Ein zweiter Begleiter hatte sich hinzugesellt, der ragte, obwohl er auf vier Beinen ging, mit dem Kopf fast bis zur Schulter Windthorsts empor: Tyras, der von einem Schnupperrundgang zwischen den Beinen der Gäste zu seinem Herrn zurückgekehrt war und ihn mit einem Fremden beisammen fand, dessen Geruch ihm ganz und gar nicht zusagte.
Windthorst erkletterte einen Stuhl, ein Diener schwenkte ein großes Tablett mit einer reichen Auswahl belegter Brötchen von links herein. Wie Windthorst den Arm zur Schüssel hob, klirrten auf der Frackbrust die beiden einzigen Orden gegeneinander, der päpstliche und der Hannoversche. Er trug keine anderen, und diese Beschränkung schien darzutun, daß ihm an keiner anderen Macht Wohlgefallen gelegen war als an der der Kirche und seines welfischen Landesherrn.
Tyras stand dabei und blies die Lefzen auf, als Windthorst in das reizvoll ausgestattete Brötchen biß, auf dem sich über hellrotem Schinken Bänder von Sardellen kreuzweise begegneten, während im Mittelfeld ein kleines Hügelchen von Kaviar aufgesetzt war. »Nehmen Sie sich in acht«, lachte Bismarck, »er macht seine eigene Politik, und die geht noch mehr nach Brot als die große.«
»Er mag mich nicht«, sagte Windthorst, »aber ich mag ihn, wenn auch nur von ferne. Gegensätze ziehen sich an. Nur darf es nicht bis zum Verschlucken kommen.«
»Man sollte ein Kapitel über den Hund in der Politik schreiben«, sann Bismarck weiter. Sein Kopf war von dröhnendem Ohrensausen erfüllt, seine ganze linke Gesichtshälfte war wie eine offene Wunde, aus der mit Zangen Stücke von Fleisch ausgerissen werden, aber was den Gästen zugewandt war, wies nur eine gleichmäßig über das ganze Wesen verteilte Heiterkeit. »Einmal hat mir so ein Köter Herzklopfen gemacht. Das war der Hund des ermordeten Zaren Alexander, und es handelte sich darum, ob Rußland uns freie Hand gegen Frankreich lassen oder uns in den Rücken fallen werde. Der König und der Zar sitzen in Ems beisammen, und ich sehe mir sie so von weitem an, da kommt der Hund Alexanders unter dem Stuhl hervor, streckt sich und wandert dann durch das Zimmer, mit unsäglicher Anmaßung muß ich sagen, und es ist ihm deutlich anzumerken, welche Verachtung er für die Zweibeinigen hat, die da herumstehen. Bei mir macht er halt, wedelt und stößt die Nase gegen meine Hand. ›Umdrehen‹, denke ich, ›jetzt muß er sich umdrehen‹, und wie auf einen Anruf wendet sich der Zar um und bemerkt die Liebenswürdigkeit des Hundes gegen mich. ›Sehen Sie‹, sagt er zum König, ›das Tier kennt die Freunde seines Herrn.‹ Na - mir war hierauf erheblich leichter zumut, das dürfen Sie mir glauben.«
Wie die Eisenfeilspäne auf einer Platte dem Magneten folgen und sich zu Figuren ordnen, so waren die Abgeordneten zum Teil um die beiden hier nahe zusammengerückten Pole geschart. Ein Gemurmel trug die Bismarckgeschichte weiter.
»Alexander hat einen schrecklichen Tod gefunden«, meinte Windthorst, indem er dem vierfüßigen Helden nicht weiter nachfragte und sein drittes Brötchen in Angriff nahm. »Wie wird der neue Zar die russische Stimmung gegen uns beeinflussen?«
»Es heißt von ihm«, sagte der Abgeordnete Bamberger aus dem magnetischen Feld heraus, »daß er drei Abneigungen hat: gegen die Soldaten, die Gebildeten und die Spitzbuben.«
»Ach«, nahm Bismarck das Wort auf, »die Spitzbuben werden sich wenig daraus machen, die Gebildeten werden fortfahren, Bomben zu erzeugen, und die Soldaten werden ihm nach wie vor seine Kriege führen, ob er sie mag oder nicht.«
»Und eines Tages auch gegen uns«, sagte Windthorst mit plötzlich weit hinter Brillengläsern aufgerissenen Augen und einem ganz verkniffenen Greisenmund, »Rußland wird uns den Berliner Kongreß niemals verzeihen. Das kommt von gewissen, allzu ehrgeizigen Wünschen.«
Nicht weiterreden, dachte Bismarck, um Gottes willen nicht weiterreden! »Oh«, sagte er laut, »es gibt eben überall Leute, die es durchaus nicht fassen können, daß einer bei einem Geschäft nichts weiter verdienen will als den Ruf, ein ehrlicher Unterhändler zu sein.«
Die Versuchung lag nahe, noch einiges über Rußland und Österreich und alle Fragen, die damit zusammenhingen, zu sagen, in der Art, wie es Bismarck verstand, Meinungen und Entschlüsse bei guter Gelegenheit in die Spalten der Zeitungen, die Gänge des Reichstages und die Sitzungen der Parteivorstände gelangen zu lassen. Aber er war außerstande dazu, das Ohrensausen war zu einem ganzen Hammerwerkgetöse geworden; die Gesichtsschmerzen zu dem lieblichen Gefühl gesteigert, als werde ihm unter dem Skalpiermesser eines Indianers die Haut vom Nacken an über den Kopf gezogen, wobei der einzige ingrimmige Trost der war, daß besagter Indianer sich mit einer höchst dürftigen Skalplocke würde begnügen müssen.
Aus seiner Ahnungslosigkeit heraus fuhr ein Deutschkonservativer mit Fragen fort: ob und wie sich Rußland mit dem neuen Verhältnis zu Österreich abfinden werde, und ob die alte Freundschaft der Monarchen zueinander oder der neue panslawistische Sturm und Drang obsiegen würde. Und ein anderer wurde noch zudringlicher und, wollte wissen, wie sich denn der Kaiser in die Frontveränderung geschickt habe, denn man wisse wohl, daß es den Kanzler große Mühe gekostet habe, ihn zur Annahme der neuen Richtung zu bewegen. Bismarck kam sich wie eine Trommel vor, auf die von allen Seiten losgeschlagen wird und die, ohne sich wehren zu können, mit einem dumpfen Gedröhn antworten muß. Man hat mir die Haut jetzt ganz und gar abgezogen, dachte er, und über einen Reifen gespannt, meine Seele sieht aus wie ein Hase vor dem Spicken.
Die Stimmen waren lauter geworden, die Gruppen änderten ihre Zusammensetzung, schoben sich hin und her, und in dem Maße, in dem die beiden Bockbierfässer im Schenkzimmer aus der waagerechten Achsenlage in die schiefe geneigt wurden, stieg die Zwanglosigkeit der politischen Mischung; wenn man bisher auf die Anrede des Kanzlers bescheiden gewartet hatte, so harpunierte man ihn jetzt im Vorüberkommen mit einer Frage oder einem mit Widerhaken versehenen Wort.
Ein Fortschrittler fragte, ob es wahr sei, daß Bismarck von Viktor Hugo einen Brief bekommen habe, halb Pathos und halb Größenwahn, aber fast noch mehr Größenwahn, immerhin aber ein Gruß von Gipfel zu Gipfel über den Abgrund des Hasses seiner Nation hinweg. Es war leider nichts Wahres daran, und auch an der Geschichte, die der Abgeordnete Treitschke jetzt vorbrachte, war das Wahre zumindest recht zweifelhaft. Sie handelte von einem deutschen Professor, der auf zerstreutem Wandel in griechischem Bergland von verdächtigen Gesellen angefallen worden war und den der Name Bismarck gerettet hatte. »Sie haben Durchlaucht für den Kaiser von Deutschland gehalten«, schloß Treitschke mit dem Vergnügen des Geschichtsforschers an einem sackgroben historischen Unsinn.
»Lassen Sie um Gottes willen nichts davon an die Witzblätter kommen«, sagte Bismarck, »die zeichnen mich sonst noch als arkadischen Ziegengeist, der die Hirten schreckt, zu allem anderen, was ich ohnehin schon bin. Ich weiß gar nicht, wie ich allein die ganze politische Witzigkeit bestreiten soll. Vor Jahren haben wir uns zu dritt darein geteilt: Napoleon, der Sultan und ich. Napoleon ist tot, der kranke Mann am Goldenen Horn hat sich beschwert und darf nun nicht mehr angeulkt werden; die einzige Scheibenfigur, die übrig ist, bin ich. Träfen alle Pfeile, so müßte ich schon aussehen wie der heilige Sebastian.«
In einem breiten Striche Novembersonne, von Stäubchen umtanzt, standen ein paar Parlamentarier um den Kultusminister von Puttkamer, unter dessen weitreichendem Patriarchenbart Stern und Band hervorschimmerten, und es war Bismarck, als höre er von dorther das Wort Unfallversicherung.
Der vielleicht bloß eingebildete Klang des Wortes entschied über den Augenblick und machte ihn zu plötzlichem Flammenlicht und blendender Offenbarung. Alles das, dieses unerträgliche Ohrensausen und dieser Gesichtsschmerz waren nur die ins Körperliche gerichteten Strahlungen innerer Vorgänge, einer schmerzlichen Wallung, die sich als ein Übergang von dunkler Geringschätzung zur Verachtung verdeutlichte. Lange vorbereitet und durch immer wiederholte Enttäuschung herangereift, wurde sie von diesem Augenblicke ins Helle getrieben und gesellte sich dem Gefühle eines ungeheueren Abstandes und einer unermeßlichen Überlegenheit. Das ganze Gewimmel lag klein unter ihm; es war, als besähe man es von der Brüstung eines hohen Turmes, so entlegen war es geworden. Bismarck hatte eine Empfindung, als dürfe er die Beine nicht vom Boden nehmen, um die Brut nicht zu zerstampfen; wie Gulliver im Lande der Zwerge war er von ihren spinnwebdünnen Fesseln gebunden, von ihren Ansichten über Politik und Leben, von ihren Meinungen von Recht und Unrecht, die allesamt durch ein Heben der Faust zu zerreißen waren. Wie ein Nürnberger Spielzeug lag ihr spitzfindig ausgeklügeltes und ausgewinkeltes Parlamentshäuschen da, eine Puppenküche, an deren Herd sie ihre Gerichtlein kochten, während sie mit putzigen Gebärden ihre Sprüchlein hersagten. Wer bin ich? Und wer seid ihr? Das donnerte dumpf in ihm, und er wußte nicht, warum er noch immer Rücksichten nahm und die ganze Gesellschaft nicht mit dem Arm vom Tisch fegte, auf dem er sie tanzen ließ. Niemals, niemals kamen sie auf die Sache um der Sache willen, niemals war ihr Widerstand etwas anderes als persönliche Gegnerschaft gegen ihn; eine mäuschenhaft wispernde Verschwörung gegen seine Schuhsohlen und die Speckseiten, die sie in seinen Schränken zu wittern glaubten. Etliche duckten sich, wenn er sie anschrie, etliche spielten die Unentwegten und wilden Männer, und dieser neue Reichstag war wie die früheren darin einig, daß es der Gipfel aller Weisheit sei, zu dem, was von Bismarck kam, nein zu sagen. Ein römischer Kaiser kam ihm wieder in den Sinn, der der ganzen Menschheit einen Kopf gewünscht hatte, um ihn abschlagen zu können; so ernst und grausam wollte Bismarck die Sache gar nicht genommen wissen, aber was er dieser redelustigen und von sich eingenommenen Genossenschaft wünschte, das war wenigstens ein gemeinsames Hinterteil und das diesbezüglich hinlängliche spanische Rohr dazu.
Mit solchen Gedanken und Wünschen und ihrem sonstigen Drum und Dran war er freilich weit davon entfernt, ins Vertragen und Vereinbaren kommen zu können, das von Gott nun einmal als alles Menschenwesens unumgängliche Nötigung gesetzt zu sein scheint, an dem sich Geduld und Einsicht in die seelischen Bedingnisse anderer und noch ein Dutzend besonderer Tugenden entwickeln können. Oder aber Bismarck hatte diese Tugenden besessen, und sie waren ihm im Laufe der Zeit ausgetrieben worden oder eingegangen, wie Pflanzen auf einem Boden eingehen, dessen Nährkräfte durch sinnloses Wüsten mit ihrem Bestande ausgebeutet sind.
Darüber waren ihm ganze Scharen von Dämonen in Kopf und Herz eingezogen, die trugen noch einen Lichtschimmer einstiger Verklärtheit in sich, waren aber sonst voll großartiger Düsternis und Menschenfeindlichkeit: Unduldsamkeit und Mißtrauen, Ungerechtigkeit und Überhebung. Eine Garde gefallener Engel, sündenfällig nicht durch eigene Hoffart, sondern durch den Unglauben der Welt an sie, bis sie sich wirklich nach dem Bilde gewandelt hatten, das man seit Jahrzehnten von ihnen an die Wände Deutschlands gemalt hatte. Sie hatten sich jetzt im Trotze verhärtet: wollt ihr uns nicht sehen, wie wir sind, so wollen wir sein, wie ihr uns seht. Es hätte einer ganz anderen Zusammensetzung bedurft, um diese Umkehr zu verhüten; einer weit minderen Streitbarkeit und einer weit größeren Milde im Menschenteig Bismarck, ja, vielleicht sogar etwas von der überirdischen Gnadennatur des Heilandes, der dem Feinde nach dem Schlage auch die zweite Backe hinhält. Bismarck aber war in Pommern gewachsen und hielt sich bei aller Frömmigkeit doch an das Gebot, eine Ohrfeige mit zweien zu vergelten und auf einen Räuber anderthalb zu setzen. Einen Geringeren hätte die düstere Garde ganz zu sich herübergezogen, aber Bismarck fehlte der Haken der Eitelkeit und Ruhmsucht, an den sie ihre Schlingen hätte legen können; so folgten sie ihm bloß, aber sie waren immer da und standen zwischen ihm und den Menschen.
In solcher Bedrängnis, die Bismarck einseitig als plötzlicher Überdruß klarwurde, war er wenig geneigt, den liebenswürdigen Wirt zu machen und die parlamentarischen Wespennester zu schonen. Langsam schritt er aus dem Saale, und so viel war von dem Sturme immerhin äußerlich sichtbar, daß ihn keiner anzusprechen wagte.
»Er hat kein System«, sagte der Doktor Bamberger hinter ihm drein, »er schwankt haltlos herum.« Der Doktor Bamberger war schlecht auf den Kanzler zu sprechen, weil er seiner Auffassung von der Hausknechtsrolle des Staates durch die neuen Versicherungsgesetze einen argen Stoß versetzt hatte. »Da glaubt man, er wolle die Sozialisten auffressen, und dann kommt er mit solchen Ungeheuerlichkeiten. Ist der Staat dazu da, um für die kranken Arbeiter zu sorgen? Das ist ihre eigene Sache, mögen sie sich zusammentun und sich selbst helfen, anstatt politische Parteien zu bilden. Sie sollen ihr Geld für Sicherung ihrer eigenen Zukunft ausgeben, anstatt damit die Wühler und Hetzer zu bezahlen. Aber das ist nur Blendwerk, und Gott weiß, was er mit diesem Zuckerbrot für die Sozis will.«
»System? System?« ereiferte sich Treitschke, der von seiner historischen Warte aus ein größeres Stück des Mannes zu übersehen glaubte als die anderen. »System ist etwas für unsereinen, für Professoren, für Advokaten und Ärzte! Unsereiner muß ein System haben, ein Koordinatensystem, für jeden Punkt im Leben seine Abszisse und die dazugehörige Ordinate, sonst kennt er sich nicht aus. Das Genie braucht kein Koordinationssystem, es zerreißt die fadenscheinige Rechtwinkeligkeit mit einem Ruck.«
»Er hat Phantasie«, bestätigte Lasker, »aber sie ist uns zu fremd und schweifend. Man muß ihm widersprechen, weil man nicht weiß, wohinaus er will, und weil er uns nicht einweihen will. Und er weiht uns nicht ein, weil er uns gering schätzt.« Lasker war tieftraurig, denn ein boshaft wollender Freund hatte ihm zugetragen, Bismarck habe gesagt, im Weingarten des Reiches sei Lasker noch viel mehr Reblaus als Windthorst.
»Wir irren uns alle«, sagte der systemgläubige Doktor Bamberger, »wir haben gemeint, er sei ein Löwe, er ist aber bestenfalls ein Fuchs.«
Indessen war Bismarck durch einige Gänge geschritten und hatte die Tür eines kleinen Zimmers aufgeklinkt. Da war eine ganz andere Versammlung als drüben im Saale des Berliner Kongresses. Heiterer Lärm ohne Rauchgewölk, Frauengeschäftigkeit und eifervolles Getriebe mit allerhand Sächelchen und Kram, wie sie zu wohltätigem Zwecke zusammengelesen zu werden pflegen. Es waren jene kunterbunten Nichtigkeiten, die man auf Kaminsimsen, Schränken und Tischen so lange stehen hat, bis man eine gute Gelegenheit findet, sie mit einem Anschein von Gutherzigkeit wieder abzuschieben; jene grünsamtenen Nadelpölsterchen, Zahnstocherbüchslein, Schweinchen, an deren Rückenborsten man die Feder abwischen kann, die porzellanenen Kühe, auf deren Bauch Stadtansichten hingemalt sind, die Spiegelein mit Rahmen aus Karlsbader Sprudelstein und tausend andere ähnliche staubfängerische Dinge, deren Sinn bloß im möglichst raschen Wiederloswerden zu bestehen scheint. Hier waren ganze Berge davon aufgebaut, denn in der kommenden Woche sollte der Basar des Frauengroschenvereines zugunsten armer Wöchnerinnen stattfinden, und die Damen der Gesellschaft waren dabei, jedem Dinge seine Umhüllung und seinen Aufputz zu geben, ein rosafarbenes Bändchen und einen kleinen Tannenzweig.
Es roch nach Wald und gepflegter Weiblichkeit zugleich; die Damen knicksten, Scheren und Nadeln und Bindfäden in den Händen; eine bildhübsche Komtesse Radziwill, die grobe Handschuhe an hatte, um beim Schneiden der Tannenzweige die Finger nicht zu verderben, barg kichernd die unförmig anzusehenden Pfötchen auf den Rücken. Bismarck schritt auf Johanna zu, die hinter einem langen Tische saß und Leinwandstreifen für kleine Beutelchen zurechtschnitt, in denen irgendeine Herrlichkeit untergebracht werden sollte.
Bismarck legte ihr die Hand auf die Schulter: »Wie geht's?« Sie antwortete nur mit einem stillen Blicke, der eine besorgte Gegenfrage tat, denn seine Augenbrauen waren struppig und die Stirn ganz knollig von Gedankenarbeit.
Die kleine Komtesse Radziwill überreichte ein eiligst zusammengedrehtes Sträußlein aus Tannenreisig und einigen Moosrosen und nestelte es, mit jetzt unbehandschuhten Händen natürlich, an den hellblauen Kürassierrock. »Bleiben Sie bei uns, Durchlaucht«, bat sie, »lassen Sie die langweiligen Parlamentarier. Ist es nicht schöner bei uns? Sie dürfen einen Lampenschirm kleben, der wird dann versteigert. Denken Sie, welchen Preis der erzielen wird: ein vom Reichskanzler eigenhändig geklebter Lampenschirm.«
Bismarck sah in das frohe, etwas knabenhafte Gesicht: »Ich weiß, ich könnte mich hier nützlicher machen als drüben.« Noch immer lag seine Hand auf Johannas zarter Schulter, es stieg Frieden und Sanftmut aus den Fingerspitzen durch den Arm in sein Herz und verbreitete sich mit geheimnisvoller Schnelligkeit durch sein zerwühltes Wesen.
Ein Fräulein von Petersdorff, etwas älteren Jahrganges, aber immer noch anmutig in allen Äußerungen von Jugendlichkeit, faltete die Hände: »Bleiben Sie, Durchlaucht, wir werden viel braver sein als die drüben.«
Einen Augenblick war es Bismarck, als geschähe hier ebensoviel und ebensowenig Nützliches und Ersprießliches als drüben bei Bockbier und Zigarren, nur mit dem Unterschiede, daß man sich hier über das Ziel und die Wege zu ihm einig war, während drüben jeder sein eigenes Zielchen und Weglein hatte und darüber der Frankfurter Rattenkönig in bedenklicher Möglichkeit stand. Das Losreißen von dem harmlosen Wohltätigkeitstumult war schwer, aber nun war doch wieder so viel Kraft gewonnen, daß man sich ohne Explosionsgefahr hinüberbegeben konnte.
Der Saal, wo Europa über das Schicksal von Staaten beraten hatte, war jetzt von blaugrünem Gewölk angefüllt, in dem sich die Parlamentarier, wenn auch nicht wie Götter, so doch wieder wie vergnügte Zeitgenossen ausnahmen. Sie waren auch ganz gewiß viel zugänglicher und unterhaltsamer geworden, denn inzwischen hatte sich die Achse der Bockbierfäßchen zum Winkel von fünfundvierzig Graden gegen die Waagrechte geneigt, und man war zum Rheinwein übergegangen. Die Gläser klangen zusammen und gaben keinen Mißton wie sonst die Köpfe, wenn sie zusammenstießen.
Tyras stand da und schnappte nach Wurstblättern, mit denen Lasker um seine Gunst warb.
Windthorst kam Bismarck mit seinem halbgefüllten Glase entgegen: »Sehen Sie, wie schlecht mir eingeschenkt wird. Zum zweitenmal kommt der Rest auf mich.«
Bismarck beugte sich herab, nun wieder in gastfreundlicher Laune: »Gehen Sie zur Regierung über, Doktor«, sagte er, »dann bekommen Sie immer Ihr volles Glas.«