Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im Wintergarten der Generalintendantur wogten die Millionen. Sie kamen aus Paris, hier war die Schleuse, wo sie sich stauten, um dann in breitem Strom nach Deutschland zu fließen. Bedrucktes Papier war gebracht worden, das die zweihundert Millionen vorstellen wollte, die der Waffenstillstand verlangte. Da fand man in Versailles, Banknoten hätten bloß ein Lächeln, und es sei nur ein recht sauersüßes Lächeln, das richtige Lachen sei nur beim Bargeld. So standen nun die französischen und die deutschen Zahlmeister einander gegenüber und zählten und wogen einander Silber und Gold zu. Gemünztes Metall kam in Säcken, ergoß sich über die Zähltische und die Waagen und wechselte gleichmütig den Herrn.
Stosch, der Generalintendant, stand geradrückig am Eingang und empfing die Kommenden.
»Wie geht's, mein Lieber?« grüßte Bismarck. »Ein Glück, daß Silber und Gold nicht so gefährlich sind wie Blei. Sie müßten sonst eine Silber- und Goldvergiftung bekommen … in dieser Luft.«
Helles Klingen erfüllte den Raum. Von allen Seiten schaute der schneidig klare Februartag durch Glaswände, blitzend wie Fische sprangen die Münzen auf die prüfenden Steinplatten, häuften sich zu stumpf funkelndem Geröll, aus dem behende Finger Stangen zusammenschoben. Von den Waagen her, auf deren Balken die schlanken Zeiger schwanken, kamen eintönige Rufe, die Hunderte und Tausende benannten.
»Zwanzig Mann sind an der Arbeit«, sagte der Generalintendant sachlich kühl, »täglich sechs Stunden, und heute ist der dritte Tag. Dabei können wir nicht alle Säcke nachzählen, wir wiegen sie oft im ganzen und verlassen uns auf die Ehrlichkeit der französischen Siegel.«
Jules Favre verneigte sich, mit etwas Röte im gelben Gesicht. »Nehmen Sie den Dank Frankreichs für Ihr Vertrauen, mein Herr. Mein Vaterland hat noch niemanden betrogen, der ihm Vertrauen schenkte.« Er schwieg; selbst betäubt von dem Anblick der Millionen, die hier vorüberflossen, es war, als sähe man einem gewagten chirurgischen Versuch zu, der den Blutstrom aus den Adern des einen Leibes in die eines anderen leitet. Von einem Gedanken ergriffen, wandte er sich an Bismarck. »Sehen Sie nur …«, stammelte er, »sehen Sie nur … und da sollen wir Ihnen fünf Milliarden zahlen? Fünf Milliarden! Sie verlangen fünf Milliarden von uns?« Ein Einfall entzündete sein rasches Gehirn. »Wissen Sie«, schrie er, »welche Höhe diese Summe erreichen würde, wenn man sie aufeinanderstapeln wollte? Wissen Sie, daß seit Christi Geburt noch lange nicht einmal die erste Milliarde Minuten verflossen ist …?«
Er verstummte, blaß vor Schrecken über die Ungeheuerlichkeit dieser Vorstellung, feuchtes Geschimmer von Tränen stieg ihm in die Augen. Lächelnd wandte sich Bismarck nach Bleichröder um, der Fall und Klang des Metalls mit allen Poren einzusaugen schien. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er, »darum habe ich diesen Herrn kommen lassen. Der zählt von der Erschaffung der Welt an.«
Aber Jules Favre war keinem Scherz geneigt; was das Vaterland hier dahingeben mußte, das war Kraft für den Feind, Wohlstand, Macht, Rüstung; eine fürchterliche Vision von Gefahr für die Nation beherrschte ihn, mit zitternden Fingern nahm er ein Goldstück von einem der Tische; mißtrauisch sah ihm der Zahlmeister auf die Hand. Da war das Gesicht des Kaisers, des Verehrten und nun Verleugneten, des Glorreichen und des Verderbers. Favres Ingrimm senkte sich in das Gold, durchsetzte es, ätzte es mit Gift und Galle. Ein Sturm von wüsten Wünschen durchfegte ihn, von Tod, Vernichtung, Seuchen und allerlei anderen brandroten oder pechschwarzen Unannehmlichkeiten. Der Schmerz um das Vaterland stand megärenhaft da, in eine Rachegöttin gewandelt, mit Schlangenhaaren, die ihr, gleich wütenden Pfeilen, vom Kopf stoben, um sich in fremdem Fleisch festzubeißen. Aber der anständige Jules Favre, Bürger, Republikaner und Mensch, erschrak über den Greuel, schob ihn in sein unholdes Verließ und warf rasch den Riegel vor. Mit spöttischem Goldgeklimper hüpfte der Napoleon zu seinem Haufen zurück, und da war es schon, als wäre etwas von Favres Gedanken in Bismarck eingegangen.
» Ad vocem Bleivergiftung«, hörte er die nachdenkliche Stimme des Feindes, »ich glaube doch, Blei ist nicht das einzige giftige Metall, und wir werden uns zu hüten haben, mein lieber Stosch.«
Eben wurde wieder einer der Säcke auf den Zähltisch gehoben, die Plombe fiel, und aus dem geöffneten Leinenmaul stürzte das Gold in breitem Strom hervor. Es rollte und sprang bis an den aufgestülpten Rand und blieb dann blinzelnd liegen, mit leisem Rücken im Hügel, ehe es ganz zur Ruhe kam. Durch Bismarcks Sehnerven ging ein Brennen bis tief in das Herz, als hätte ihn ein tückischer Blick getroffen. Da war ein bitteres Zusammenkrampfen, wie von Angst, die Goldstücke klangen auf der Steinplatte, aber Bismarcks Seele machte keine gute Harmonie dazu.
Er setzte die weiße Mütze auf. »Ich überlasse die Herren ihren Geschäften«, sagte er und ging aus dem Glashaus, vor dessen Fenstern die Bajonette der Posten spitz in den hellen, harten Winternachmittag stachen.
Nachdenklich betrat er das Jessésche Haus und hörte im Billardzimmer, das zum Amtsraum gewandelt war, die Getreuen im lauten Hin und Wider. »Wir wollen alle mitreiten«, drang Abekens hohe Alteherrenstimme durch die Wand, »ich sehe nicht ein … und wenn Wilmowski einen Helm hat? Wer ist Wilmowski? Chef des Königlichen Zivilkabinetts. Also?«
Abeken barg zwei Dränge in seiner treuen Brust. Der eine trieb ihn die Stufen des Parnaß, der andere soweit als möglich die Stufen der Throne dieser Welt hinan. Er freute sich, dem Saume der Macht nahe zu sein und etwas von den Strahlen der Herrlichkeit auf seinem schon gekrümmten, arbeitsgebeugten Rücken zu fühlen, er sammelte Erinnerungen an Fürstenworte und Vorgänge in der Nähe der Großen mit demselben bürgerlichen Eifer, mit dem er in seinem Gedächtnis Aussprüche der Dichter speicherte. Er roch mit Begeisterung Hofluft und war glücklich, im Vorzimmer der Weltgeschichte anwesend zu sein, wobei er gerne Gelegenheit nahm, eine bedeutsame Figur zu machen und sein Dabeisein würdig aufzuputzen.
»Ja, der Helm, der Helm ist die Hauptsache dabei«, sagte Bismarck-Bohlens trockener Baß, »ohne dem Helm ist's nichts.«
»Ich werde mir doch meinen Dreimaster aus Berlin kommen lassen«, bedachte sich Abeken.
»Der Dreimaster sieht nicht kriegerisch genug aus. Und es kommt darauf an, den Parisern Eindruck zu machen. Stellen Sie sich Hermann, den Cherusker, mit einem Dreimaster vor. Nein, Abeken, Sie müssen einen Helm haben.«
»Aber einen Helm mit Federn«, sagte Hatzfeldts Stimme, bebend von innerlichem Johlen, »zwei Federn, Abeken, eine schwarze und eine weiße.«
»Nein: drei«, sagte Bismarck-Bohlen in ernstester Tiefe, »eine rote dazu. Sind wir nicht im neuen Reich? Sie werden über das Marsfeld reiten, Abeken, und unter dem Arc de triomphe hin, mit einem Helm mit drei Federn, und Ihr Grauschimmel muß eine Schabracke haben. Unsere Pferde müssen alle Schabracken haben, brokatene Schabracken mit Glöckchen am Saum, wie es sich für die Sieger gehört.«
»Meinen Sie?« fragte Abeken eifrig.
Eine Türe ging, Theiß murmelte etwas Dienstliches. »In drei Teufels Namen, ja!« schrie Bismarck-Bohlen.
Lächelnd ging Bismarck weiter, über ein paar Stufen hinab, an dem Posten, der das Gewehr anzog, vorbei, in den Park hinter Madame Jessés Haus.
Die schwarze, engbrüstige Gärtnersfrau, die immer aussah wie Holzäpfel in Essig, wich vor dem wuchtigen Reiterstiefeltritt des bösen Feindes in den Wagenschuppen zurück; ein Stückchen weiter wandelte zwischen schwarzgrünen Taxusbüschen der hellblaue Kürassier Keudel.
»Ich muß Luft schöpfen«, sagte er, als Bismarck an seine Seite kam, »ich bin ganz schlaff. Mein Kopf drückt wie Blei auf den Schultern.«
»Wir sind alle überarbeitet«, begütigte der Kanzler, »es ist Zeit, daß wir hier zu Ende kommen. Die Nerven empören sich und treiben Allotria. Dort drinnen quälen sie den armen Abeken. Aber nun steht alles gut, der Friede ist nicht weit.«
Der Abend spann Schatten in die leicht überschneiten Büsche und Baumgänge, auf den Fensterscheiben, die über die Gemüsebeete gedeckt waren, gerann sein Rot in funkelnden Lachen. Der weißgekörnte Schnee der Wege, der tagsüber an den Sonnenstellen ein wenig verwässert worden war, dichtete sich im Anziehen der Abendkälte zu krachenden Krusten. Sie standen vor dem kleinen Wassergesprudel, das aus der Gartenmauer kam und zwischen Eiszapfen und verfrorenem Moosgestein in ein Becken sprang.
»Der Friede …«, sagte Bismarck und stieß mit der Fußspitze an einen gezackten Eisvorhang am Beckenrand, der mit erschrockenem Klirren zerstäubte. »Wie leicht das gebrochen ist, wie lange es dauert, bis es wächst.« Plötzlich reckte sich eine Erinnerung in ihm, sie stieg an und umschloß sein Herz. Weite Wasser wirbelten, vom Mondschein hell, Wellen rauschten mit ihm an alten Burgen vorbei, und in der Tiefe glühte geheimnisvolles Gleißen. Warnend sang der deutsche Strom. Wie wundersam lebten die alten Sagen durch die Jahrhunderte in immer neuer Deutung, Vätererbe, unerschöpfliches Blühen der Kunde von Leben und Tod der Völker. Das französische Wässerlein hier, so leichtsinnig es aus der Mauer sprühte, war dem mächtigen Gedränge der Massen von den Alpen zum Meer verwandt, wie die Natur durch alle Reiche verwandt ist und die Grenzen nicht kennt, die der Mensch gezogen hat.
»Wir sind gewarnt«, sagte Bismarck leise, »was war der Weisheit Schluß? Den blutigen Schatz in den Rhein zu versenken, damit die Welt vom Unheil erlöst sei. Verstehen Sie, Keudel? Er brachte Mord und Tod, weil er den Fluch auf sich trug.«
Nein, Keudel verstand durchaus nicht, was da aus geheimen Gedankengängen hervorgesickert kam, und schaute unsicher zum Meister auf.
Der hatte wieder zu schreiten begonnen, stampfte den fahlen Grund mit schweren Tritten und ging die verschlungenen Wege, die in der Dunkelheit rätselhaft verschraubte Figuren, Fragezeichen und magische Buchstaben zogen. Während Keudel noch eifrig an seinen Worten herumarbeitete, waren seine Gedanken schon wieder ein Stück weiter. »Das geht über Geschlechter hin«, sagte er ans Ohr der Nacht, »das Drama hat einige Dutzend Akte und ist mit dem Tod des Helden nicht aus.« Er stand fest ins Dunkel gerammt, nur die weiße Mütze leuchtete schwach, als schwebe ein kleiner Hauch von Unwirklichem über ihm: »Wissen Sie, wann ich sterben werde, Keudel?«
Keudel starrte die leuchtende Mütze an, die Zähne klapperten ihm. »Wie soll ich …«
»Nun ja, Keudel, einmal muß doch geschieden sein - von Freunden und Feinden. Glauben Sie, daß Pythagoras ein Esel war? Oder daß die alten Juden umsonst manche Zahlen für heilig oder verderblich angesehen haben? Buchstaben und Zahlen waren eins bei ihnen, und in ihren heiligen Namen kommt immer wieder die Dreizehn vor. Jahwe ist zweimal dreizehn, Adonai fünfmal dreizehn, Isaak sechzehnmal dreizehn und so weiter. Jeder alte Hebräer trägt irgendwie seine Dreizehn im Namen versteckt. Ich bin nicht aus so vornehmem Geschlecht und nicht so nahe mit Jehova verwandt, bei mir muß es die Elf tun. Mein Jahrgang ist 1815, der siebente Elferreigen beginnt mit einundsiebzig …«
Ein freundliches, breites Licht kam daher, im Speisesaal drüben waren die Fenster hell geworden, eine Ordonnanz zeigte sich im Rahmen, mit gehobenen Armen gegen die niederträchtige Verworrenheit der Vorhangschnüre ankämpfend; und zugleich kam durch das Winterdunkel aus Hintergründen ein saftig warmes Gerüchlein, als liege das liebe Gänseland Pommern irgendwo ganz in der Nähe, ganz fein läutete es dazwischen wie von Flaschenhälsen, die in einem Korb aneinanderklingen.
»Jawohl«, sagte Bismarck nach kurzer Witterungspause, »ich werde einundsiebzig Jahre alt werden und sterben im Jahre 1886, geliebt und betrauert und zur größten Genugtuung der meisten; aber bis dahin, Keudel, wollen wir nicht vergessen, daß die Spickgänse dazu da sind, um gegessen zu werden, und daß sie am liebsten in Forster Hofstück schwimmen.«