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Nie war ein Sommer so leuchtend tief gewesen wie dieser Juli im Schönhausener Schloß. Die alten Zimmer standen ganz im Licht des Himmels und der Herzen, junges Eheglück sonnte sich im Park, und im Kinderwagen strampelte eine kleine Bismarck, die der Großmutter Namen trug. Die Ehe, deren Beginn der üble Berliner Wind angeblasen hatte, war auf dem alten Erdboden wurzelfest geworden und wuchs stark in Zukunft. In süßer Reife lächelte Frau Margarethe, Herrin über alle Schönhausener Herzen vom Schloßbesitzer bis zum Nachtwächter, und: »Ist Herbert nicht männlicher geworden?« fragte Frau Johanna unter den alten Parkbäumen.
»Hier festigt man sich in seiner Männlichkeit«, sagte Bismarck erinnerungstief, »Schönhausen ist nun einmal so.«
Zehn Schritte auf den Parkwegen hin, dann zwang das Herz zum Stillstand, eine Stufe war ein Gebirge wie die Alpen, und es fand sich kein Schlemihlscher Schuh, der darüber hinweghalf. Manchmal blieb sie zurück und tat, als betrachte sie die Wolken oder eine Blume, oder als lausche sie dem Gesang eines Vogels. Es war aber eine Angst und Beklemmung in ihr, daß sie hätte schreien mögen. Was davon über ihre Lippen kam, war schon für den Geliebten zurechtgemacht, verdünnt und mehr Wehmut als dunkle, würgende Gewalt. »Ich möchte nur, daß es noch bis zur goldenen Hochzeit reicht«, sagte die Fürstin, »wie hast du damals gesagt? ›Ein Abglanz von den Pforten der Ewigkeit ins Irdische.‹ Wie schnell man solchen Pforten näher rückt! Wenn man nicht den Trost hätte, daß man dahinter von neuem beginnen kann! … Das Liebe und Gute im Leben nämlich … das Böse, Hämische und Neidvolle bleibt ja wohl durch Gottes Gnade hienieden zurück. Also alles mit dir noch einmal, nur ohne Windthorst und Richter und Caprivi …«
Ein rotbraunes Eichhörnchen turnte querwegs vor ihnen von einem Lindenast zum andern, steckte den Schweif als Federbusch hinter sich auf und machte glänzende Stecknadelaugen. »Du bist niemals kokett gewesen, Johanna, auch mit mir nicht. Nun wirst du mir untreu und kokettierst mit dem Tod. Dein Leben reicht weiter als das meine. Ich möchte nicht allein bleiben. Ein paar Termine hab' ich mir schon gesetzt, die ich alle überlebt habe. Nun werde ich erst recht dreiundachtzig oder vierundachtzig, dann ist es aus, und du bleibst nachher noch bei den Kindern …«
Johanna schüttelte den Kopf: »Ich bin nur noch eine Hülle … der Inhalt ist aufgebraucht. Aber du … du … darfst noch nicht. Jetzt erst fangen sie an, zu verstehen, was sie an dir haben … nun plagen sie dich wieder mit ihrer Liebe, und du reibst dich auf mit Empfängen und Ansprachen und Erwiderungen. Gibt es eigentlich noch einen Verein in Deutschland, der nicht bei dir gewesen ist? Die Krieger und Lehrer und Sänger und Turner, Handel und Gewerbe und Landwirtschaft und Presse … Herr Gott in deinem Reich, ist dieses Deutschland groß, daß so viel Vereinskraut nebeneinander wachsen kann. Und du stellst dich hin, unter freien Himmel, in zugigen Bahnhofshallen, wo sie dich gerade erwischen, und redest und redest, und es fällt dir nicht ein, an deinen Gesichtsschmerz zu denken. Sie machen Wallfahrten zu dir, und ihrer Begeisterung ist deine Gesundheit Wurst, wie sie es vordem ihrer Feindschaft war. Du mußt mir versprechen, daß du künftighin den Hut aufbehältst, wenn du im Freien redest. Ja? Ich möchte doch meine Ruhe haben …«
Noch an der Schwelle des Grabes sorgte sie sich um den Geliebten, ihre Augen hingen bittend an ihm.
»Ich kann doch nicht den Hut aufbehalten«, lächelte Bismarck.
»Nächstes Jahr wirst du achtzig«, beharrte sie, »da kann man schon etwas zur Entschuldigung vorbringen. Oder du läßt dir eine kleine schwarze Seidenkappe machen, die du aufsetzst.«
Sie traten aus dem Baumschatten auf die Rosenterrasse, zu der gärtnerisch-historischen Veranstaltung, die da zu sehen war. Der gärtnerische Teil war die Juliblüte der Rosen, die an hohen Stämmen und erdnahem Strauchwerk hingen, in Trauben, Büscheln und die stolzesten vereinzelt auf langen Stielen, und diesem Flor war der historische Teil gesellt, bestehend aus vier französischen Kanonen in Lebensgröße. Sie waren ein Geschenk seines Kaisers, und Bismarck hatte sie sozusagen, obzwar er eingestandenermaßen weder als Artillerist, noch auch sonst einen Schuß abgegeben hatte, miterobern helfen. Auf der Bismarckschen Terrasse aber, in Sonne, Wind und innerer Ruhe war die Schwesternschaft der heiligen Valerie vom Mont Valerien ins beschauliche Leben eingetreten und vertrug sich trotz ihrer christlichen Abkunft mit der heidnischen Flora aufs allerbeste, und wenn man die Rosen hätte wachsen lassen wie sie wollten, so hätten sie am Ende gar die grimmen Feuerschlünde dornröschenhaft übersponnen. Aber man war hier doch der Ansicht, Krieg und Frieden müßten säuberlich auseinandergehalten werden, und so blieben die Rosen für sich und die Kanonen für sich, als friedlich-kriegerischer Zweiklang in deutlich gesonderter, guter Nachbarschaft.
»Ob das noch dieselben Rosen sind?« sann Bismarck, »oder doch Urenkelinnen von damals …?«
»Aber die Kanonen sind ganz gewiß erst durch dich dazugekommen«, sagte Johanna, »die waren damals bestimmt noch nicht da.« Sie stand greis und verfallen neben dem Gatten und sah von unten mit einem mürben Lächeln zu ihm auf.
Dann kam Herbert und führte den Vater durch Haus und Hof, um zu zeigen, wie es unter ihm gemacht werde. In den Ställen glänzten pralle Pferdeschenkel, rote und scheckige Kühe wandten sich um und glotzten den Besuch an, auf dem Hühnerhof erhob sich großes Geschrei, Truthähne ließen die Flügel auf der Erde schleifen, zitternd spannten sie die Schwänze zu großen Rädern, violette Fleischzapfen baumelten ihnen von den nackten Hälsen. Hinter der Bretterwand war ein vielstimmiges Grunzen, der Verwalter sprang an, um die Tür aufzuriegeln, aber es war die Hintertür, seit Jahr und Tag nicht geöffnet, in den Fugen verquollen und im Schloß verrostet. Der richtige Eingang lag an der anderen Seite; da man jedoch schon einmal hinten stand, wollte man auch hier hinein, denn der Fürst sollte nicht am Ende glauben, daß irgend etwas im Gute Schönhausen nicht wie geschmiert und am Schnürchen ginge. Aber so sehr sich auch der Verwalter mit aller Wucht seiner Persönlichkeit und Verantwortung gegen die Riegel warf, die hintere Tür zum Schweinestall versteifte sich darauf, zu zeigen, daß auch die beste Wirtschaft ihre dunkeln Punkte und eigensinnigen Widerspenstigkeiten habe. Nun kam Dörten, die Viehmagd, ein Mordsstück von einem Frauenzimmer, das, wenn es sein Talent zum Melken hätte aufs Singen umschreiben lassen wollen, ganz gut den Bayreuther walkürischen Sturm- und Feuriorummel hätte mitmachen können. Auch sie warf sich mit ihren zwei roten Fäusten gegen den Riegel, daß alle Pfosten des Schweinestalles bebten: aber der, auf den es eben ankam, wich und wankte nicht.
Der Fürst hatte den athletischen Mißerfolgen eine Zeitlang zugesehen. »Na, lat man gut sin«, sagte er, als sie sich kläglich umwandte, nun aus der kraftstrotzenden Dorfwalküre in ein verzagtes Weibsbild verwandelt, »lat sin, Dörten, de Swin hebben sich inriegelt.«
Da lachte die Fürstin, die tapfer mitgewandert war, hellauf, und der Fürst verstand sich durch einen Blick mit ihr: der Schönhausener Deichhauptmann hatte gesprochen, fünfzig Jahre waren gestrichen, man konnte noch scherzen wie damals, unverlöschlich war die Jugend in diesen Herzen.
Noch viele Lächeln folgten diesem Lachen, zärtliche, wehmütige Lächeln, die mit welken Fingern über viele Dinge hinstrichen, wie man sie in den Ecken und an den Wänden wiederfand. Der Schimmer der ersten Wochen war an diesen Räumen haftengeblieben, erste Beglückungen und erste Ängste dufteten bittersüß aus der Vergangenheit herüber, wie damals rückten die Schatten mit dem Wandel der Tagesstunden an den großblumigen Tapeten des Wohnzimmers hin, wie damals stemmten sich die alten Möbel mit steif weggespreizten Beinen gegen den Boden, wie damals wehten die weißen Gardinen mit dem Wind bei den offenen Fenstern aus und ein.
Dann, am sechsten Tag, sagte die Fürstin, nun wäre es genug, man dürfe den jungen Leuten nicht so lange im Haus liegen, denn schließlich seien sie füreinander da und nicht, um sich nach den Alten zu richten und sie abzuwarten … Das Herz flackerte ihr heftig in der Brust, als sie dies sagte, aber sie bestand tapfer auf dem Abgang aus der Häuslichkeit des neuen Geschlechtes.
So strich ihnen der Rest des Sommers durch Varzin dahin, und außer je einer Ansprache an die Abordnungen der Thüringer und der Frankfurter, an den bayrischen Volksschullehrerverein und an den Gesangverein »Orpheus« aus Barmen störte nichts das Versinken in näher zurückliegende Erinnerungen und in das abschiedsbange neue Erleben, das sich ohne Hoffnung auf allzulangen Weiterbestand als Erinnerung dazugesellte.
Herbst zauste an den Parkbäumen, rote und gelbe Lohe stammte auf, dünne Himmel von ausgeblaßtem Blau waren unermeßlich hoch. »Da hinein!« dachte die Fürstin, wenn sie im Rollstuhl die Wege über knirschenden Kies gefahren wurde: dann glitt ihr Blick über Modererde, die feuchtgrün und moosig den Baumwurzeln anlag: »Da hinein!« dachte sie voll Schrecken; und daß sie mit ihrem zerbrechlichen Leib und dem winzigen Fünklein Seele für sich bald den Widerspruch alles Daseins zu lösen haben werde, war ihr nur in der Hingabe an Gott ohne Entsetzen erträglich. Und derselbe Trostgedanke mußte noch viel stärker und lebendiger werden, wenn sie an die Trennung von den Ihren dachte.
»Was soll aus euch werden?« fragte sie betend in den Nächten, die von den Schmerzen ihres wunden Magens zermartert waren. »Gibt es einen Engel, zuverlässig genug, daß man ihm die Sorge um euch übertragen kann?«
Der November trieb es arg mit Stürmen und Regen, die wild über Dach und Fenster herfielen, die kurzen Tage hindurch und die schweren, schwarzen Nächte, und die Nächsten stellten sich noch enger um das erlöschende Leben, als sei es eine armselige Flamme, die von Wind und Nässe gefährdet sei. Nur manchmal grüßte die Ferne noch durch Briefe und Blumen herein. Jetzt ging der Rollstuhl nur von Zimmer zu Zimmer, vom Bett zum Tisch und vom Tisch zum Bett, und langsam lösten sich Schmerz und Liebe in ein Dämmern.
Man hatte die Fürstin schlummernd aus dem Speisesaal in ihr weißes Zimmer gefahren; da saß sie nun am Kamin, das Feuer färbte die Decke rot, die ihre Füße umhüllte, ein grüner Schirm lag ihr über den müden Augen. Am Tisch klapperten Dominosteine in einem geflüsterten Spiel, an dem niemand Freude hatte. Der Fürst saß unbeteiligt im Lampenlichtkreis, wandte die Zeitungen leise um, und wenn dieses Geräusch ihm seltsam leer und papieren trocken klang, so klang ihm das Geräusch der Steine noch seltsamer: knöchern und beinahe unheimlich.
Er wollte eben bitten, daß man das Spiel beenden möge, als die Fürstin leise sagte: »Das ist nun wohl schon zwei Jahre her, daß Bucher tot ist?«
Rasch war Bismarck bei der Kranken, und Schweninger hob den Kopf, blieb aber sitzen und hielt auch die anderen durch eine Handbewegung am Tisch zurück.
»Warum fragst du?« erkundigte sich Bismarck.
»Es ist mir eben gewesen, als säße er drüben neben Marie am Tisch und sähe nach mir her. Er hatte einen braunen Rock an, wie man ihn heute gar nicht mehr trägt … wie zu unseren Frankfurter Zeiten … und eine Rose im Knopfloch, wie ein Bräutigam.«
Bismarck versuchte einen Scherz: »Da müßte er sich jetzt noch anders besonnen haben. Zu Lebzeiten war ihm nie nach Bräutigam zumut.«
»Er ist am Genfer See gestorben, nicht wahr? … Es muß schrecklich sein, nicht in der Heimat sterben zu können.«
Bismarck sann dem Getreuen nach. Der äußerlich Beherrschte, innerlich zwischen Deutschland und der Welt Geteilte war zur Ruhe gekommen, die Fremde hatte das letzte Wort behalten, als Andenken an ihn lag ein wunderlicher Abreißkalender in Bismarcks Schreibtisch, neue Tagesblätter mit alten, sorgsam aufgeklebten, poetischen Sprüchlein, und das letzte Blatt, das unabgerissen war, trug Zahl und Namen des 12. Oktobers.
»Wie geht's dir?« fragte Bismarck, indem er Johannas Hand sanft von der Decke hob. »Ich habe keine Schmerzen …« sagte Johanna wie immer, »bitte, nimm mir den Schirm ab.« Ihre Augen hatten einen klaren Blick, und ihre Worte schienen diesmal keine tapfere Lüge, sondern die Wahrheit zu sein.
»Dann habe ich dich auch in großer Gala als Generaloberst durch das Brandenburger Tor fahren sehen. Du warst zum Kaiser geladen, und er hat sich mit dir versöhnt.«
»Das war ja auch so …! Aber von Versöhnung darfst du nicht sprechen. Man zankt sich mit einem Freund und versöhnt sich mit einem Freund. Hier war auf der einen Seite der Kaiser und auf der anderen sein Kanzler … Wir waren weiter entfernt, nun haben wir uns wieder genähert.«
Johanna sah ihm hell ins Gesicht, ihre Augen waren wundersam licht: »Ich weiß, ich weiß, daß es gewesen ist … Damals wäre ich gern dabei gewesen und hätte dich gern gesehen, im Wagen, unter dem Brandenburger Tor, in Uniform die Treppe hinan. Nun habe ich dich doch gesehen … Ich habe euch auch sprechen gehört.«
»Du weißt es doch: von der neuen Feldausrüstung der preußischen Infanterie … kein Wort von Politik! Es war alles durchaus militärisch. Ich war der Generaloberst, nicht der Kanzler von ehedem.«
»Zwei Soldaten hat er dir vorgestellt … den einen mit der alten, den anderen mit der neuen Bepackung … du hast beide Tornister in die Hand genommen und abgewogen … der eine Soldat war aus Stendal, wo die Bismarcks her sind, der andere aus Jüterbog. Du sagtest: ›Na, Kinners, da werdet ihr aber fein marschieren, das sind ja keine Tornister mehr, das sind Flügel.‹«
»Das hast du alles gesehen und gehört?«
Sie nickte eifrig: »Dann hatte er ein Blatt in der Hand, darauf waren verschiedene Schlachtschiffe von ihm selbst gezeichnet. Es fiel ihm aus der Hand, ihr bücktet euch gleichzeitig danach, aber er war flinker als du.«
Woher nahmen ihre Augen diese winzigen, schon wieder halb vergessenen Dinge, woher wußte sie um jedes gesprochene Wort?
»Nun habe ich es doch gesehen«, sagte Johanna, und der Kopf sank ihr in die Schultern. Aber sie war nicht eingeschlafen, wie sie glaubten, langsam hob sie die Stirn und Augen: »Ich bin nicht sein Kanzler gewesen. Ich bin mit ihm versöhnt. Er hat vieles gutgemacht. Und vor allem: er hat Caprivi weggeschickt. Unrecht Gut gedeiht nicht, die Herrlichkeit war von kurzer Dauer …«
Das war immer noch recht kriegerisch gesprochen, ein Funke des alten Zorns glomm noch unter der Asche der Krankheit.
Sanft legte Bismarck die Hand auf Johannas magere Knie, der andere Arm war um den Hals geschlungen, Wange an Wange: »Soll ich mich noch einmal um den Kanzler bewerben?« scherzte er. »Nur unter einer Bedingung: du mußt dann in den Reichstag kommen und mich reden hören. Nicht ein einziges Mal all die Jahre warst du auf der Galerie; du weißt ja gar nicht, wie ich mich als Redner ausnehme.«
Ihr Kopf sank ihm gegen die Schulter. »Ich bin müde …« sagte sie, aber es war, als scheuche ihr eine letzte Unruhe den Schlaf. Sie rückte sich zusammen, flüsterte an seiner Handfläche hin: »Ich muß dir etwas sagen … morgen …«
Es war etwas von innerer Not darin, so daß Bismarck in seinen Tiefen aufhorchte: »Was ist es, Liebste?«
»Etwas von dir und mir«, hauchte sie, schon an der Schwelle des Unbewußten … »morgen …! morgen!«
Nach einem Verweilen löste Bismarck Hände und Schulter und bettete den Kopf auf die Rückenlehne. Marie kam schon mit Kissen und einer zweiten Decke für die Nacht, denn die Atemnot zwang Johanna, in ihrem Rollstuhl zu bleiben.
Ein Wink Bismarcks zog Schweninger in den Nebenraum. Der Fürst griff in das Teppichgewebe vor der Tür, das den vierten Heinrich im Schloßhof von Kanossa vorstellte: »Wie finden Sie die Fürstin, Doktor?«
»Sie wird immer schwächer.«
»Wie lange noch?«
»Es ist ein Wunder, Durchlaucht … nur ihre Liebe hält sie noch auf der Erde …« -
Auf dem Schreibtisch des Fürsten lag ein aufgeschlagenes Buch, und ehe er zu Bett ging, wollte er noch aus dem ehernen Gang der Weltbegebenheiten Einsicht in die Notwendigkeit aller Geschicke holen. Es war der neue Band von Treitschkes Geschichte, der die deutschen Leiden und Kämpfe von den Anfängen Friedrich Wilhelms des Vierten bis zum roten Jahr hin enthielt, die Zeit, bevor man selbst in das Geschehen eingegriffen hatte. Aber die Seiten waren leer, die Zeilen raschelten trocken hintereinander her, kahl standen die politischen Vorgänge nebeneinander, oder sie krochen dürr einer aus dem andern. Das Leben fehlte, das Wichtigste, was sich damals ereignet hatte. Daß einer, der an Gott verzweifelt hatte, durch die Liebe einer Frau zu ihm geführt worden war, daß einer diese Liebe an sein Werk verraten hatte, in einer schauerlichen Selbstzerfleischung und Entzweiung, unter der herabstürzenden Besessenheit zur Tat, aber doch verraten, und daß diese Liebe trotzdem nicht müde geworden war …
Bismarck schlug das Buch zu, löschte das Licht und ging in einer feindseligen Finsternis zu Bett. Aus einem traumlosen Schlaf erwachte er wie unter einem kalten Hauch, es war noch immer dunkel. Mit dumpfem Hirn lauschte er in die regungslose Schwärze außen und innen, aber nun wußte er mit einemmal, welcher Gedanke ihn geweckt hatte, es war die Frage, deren Antwort ihm am Morgen gegeben werden sollte, und es schien ihm, als dürfe er nicht einen Augenblick zögern, sie zu holen. Zitternd rief seine Hand das Licht, zitternd fuhr er in Schlafrock und Pantoffel, und dann wichen die Räume links und rechts von ihm mit hingehockten schweren Schatten vor der matt beleuchteten Bahn seines Ganges.
Als er in Johannas Zimmer eintrat, sah er, daß es mit allem Fragen und Antworten vorbei war. Der Mund, der ihm vielleicht noch ein letztes Schatzbekenntnis hatte anvertrauen wollen, stand stumm geöffnet.
Sie war eben heimgegangen, bescheiden und still, unbemerkt und ohne Aufsehen, ohne mit ihrem Tod viel Geräusch zu machen, ganz so, wie sie es mit ihrem Leben getan hatte. Ihr Abschied, da er denn sein mußte, hatte den Lieben die Herzensbedrängnis des letzten Ringens erspart, sie waren unvermittelt vor die Vollendung gestellt.
Schweninger war da, eine schwarze, fremde Gestalt: »Sie war die tapferste Frau, die ich je gesehen habe … Seien Sie tapfer wie diese Tote, Durchlaucht.«
Die Worte klangen Bismarck in ein Versinken nach. Langsam glitten alle Menschen und Dinge mit erstarrten Gesichtern an ihm aufwärts.