Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

17

Herr Erich Ungestüm, trotz seines heftigen Namens ein braver Bandagist, also einer, der sogar von Berufs wegen mit dehnbaren und schmiegsamen Dingen den Unvollkommenheiten des Lebens sänftiglich zu wohlgefälligerem Ansehen zu verhelfen hat, bewohnte den zweiten Stock eines Hauses in der Königgrätzer Straße. Obwohl er von Natur aus ohne alle Beziehungen zur Weltgeschichte stand, hatte er sie doch in den Kreis seiner geschäftlichen Betriebsamkeit einzufangen verstanden, als der geschickte Hersteller von ungewöhnlichen Verbindungen und Bänderzügen, der er nun einmal war. Die Möglichkeit dazu verdankte er der außerordentlichen Lage seiner Wohnung, die mit vier Fenstern nach einem Garten ging, in dem sich in der Tat bisweilen ein Hauptdarsteller des Welttheaters zwanglos wandelnd zu zeigen pflegte.

Zu diesem Bandagisten und Geschichtsfreund kam an einem Februarabend ein Herr von Röder, ein alter gedrungener Herr von bulldoggenhafter Knorrigkeit, und fragte, ob es wahr sei, daß seine Wohnung nach dem Park hinter dem Reichskanzlerpalast zu gelegen wäre.

»Gewiß, mein Herr, gewiß!« befleißigte sich Herr Ungestüm zu bestätigen.

»Und ist es wahr, daß man den Kanzler von Ihren Fenstern im Garten spazierengehen sieht?«

»Selbstredend!« versicherte der Bandagist, als sei es von der Vorsehung eigens so erdacht, daß seine Wohnung diese bedeutsame Aussicht haben solle.

»Und ist es wahr, daß Sie Ihre Fenster vermieten?«

Herr Ungestüm zog das bedenkliche Gesicht, das fünfzig Prozent Preisaufschlag bedeutete. Mit dem Vermieten hätte es seine Richtigkeit, aber es seien bloß vier Fenster da und sieben Engländer, von denen einer ein Fenster für sich allein haben wolle.

»Es wird schon zu machen sein«, sagte der Fremde, der nicht gern Widerspruch zu ertragen schien.

Herr Ungestüm sah seine fünfzig Prozent Preisaufschlag gesichert. Er sei von seinem Hauswirt gesteigert worden, übrigens sei gerade jetzt viel Nachfrage nach Bismarck, weil morgen eine große Debatte im Reichsrat stattfinden solle und der Kanzler seine Reden oft, im Garten herumwandernd, zu überdenken pflege. »Er hat einen dicken Stock in der Hand, und der Reichshund Tyras schwänzelt ihm um die Beene«, führte er mit kammerdienlich schmunzelnder Sachkenntnis aus. »Es is een Genuß, mein Herr, een Genuß, kann ich Ihnen sagen. Man sieht so peu à peu, wie ihm die Redefiguren aus dem Koppe wachsen. Aber unter sechs Mark die Stunde kann ich's nich tun.«

Das Geschäft wurde gemacht, am frühen Morgen bezog Herr von Röder sein Fenster, um sich mit einem rosigen, semmelblonden Engländer in die Aussicht zu teilen.

Frau Ungestüm hatte den Gatten ins Geschäft und die drei Jungen in die Schule entlassen und stritt eben mit der Magd, die vom Einkaufen mit einem unaufgeklärten Abgang von zehn Pfennigen zurückgekehrt war, als in den Hinterzimmern ein bedrohliches Stimmengewirr entstand. Gleich darauf brachen sämtliche Fenstermieter, sieben Engländer mit Herrn von Röder an ihrer Spitze, in die Küche ein. »Was ist das für ein Schwindel?« schrie Herr von Röder als Wortführer, »wo ist Ihr Mann?«

»Ins Jeschäft«, antwortete Frau Ungestüm mit beachtenswerter Gefaßtheit.

»So? dann kommen Sie mal mit uns und sehen sich an, was für eine Aussicht Sie uns verkauft haben.« Und schon war Frau Ungestüm ins Schlepptau genommen und fühlte sich in stürmischer Fahrt fortgezogen, daß sie ihre eigene Wohnung kaum recht erkannte.

»Fassen Sie mir nich so an«, schrie sie, »Sie machen mich blaue Flecke.« Aber aller weiterer Einspruch verging ihr, denn da war sie schon am Fenster angelangt und verstummte vor der Wandlung, die mit der weltgeschichtlichen Aussicht vor sich gegangen war. Es war wie ein Blick auf das unablässige graue Elend, auf eine ungeheure graue Wand von Segeltuch nämlich, die zwischen hohen Masten aufgespannt war, ein Vorhang, hinter dem der Park des Reichskanzlerpalastes, aber ebensogut jedes andere Stück Gotteswelt in Verborgenheit ruhen konnte.

»Also det haben die Stangen zu bedeuten jehabt?« stammelte sie.

»Und so eine Aussicht lassen Sie sich mit sechs Mark die Stunde bezahlen. Kommen da ein paar Kerle und ziehen uns die Leinwand vor der Nase in die Höhe. Das ist Betrug, meine Guteste. Aber mich werden Sie nicht dumm machen, Sie werden mir mein Geld zurückgeben. Da ist man eigens nach Berlin gekommen, um den Menschen zu sehen, der so 'nen Sums macht, und dann hängen sie einem so ein Stück alte Leinwand vor die Augen.«

»Ein Elimentarereignis«, stammelte Frau Ungestüm, im Begriff, sich in niobidischen Schmerz um die entschwindenden Markstücke aufzulösen.

Herr von Röder wäre noch weit erboster gewesen, wenn er gewußt hätte, daß Bismarck wirklich um diese Stunde im Park nebenan auf und ab wandelte, genau so wie ihn Herr Ungestüm eingangs des verunglückten Geschäftes geschildert hatte: einen dicken Knotenstock in der Hand und Tyras bald vorn, bald hinten, bald zur Seite. Wenn Bismarck den langen Weißbuchengang ganz hinaufwanderte, dann sah er die Baumreihen spitz gegen einen dunstigen Februarhimmel zulaufen, einen dicken Bausch von Großstadtqualm, der an der Spitze der endlosen perspektivischen Pyramide geradezu aufgespießt war. Wenn er aber des Wandelganges fabelhafte Spitzigkeit als ganz gewöhnliches stumpfes Ende von durchschnittlichem Baumabstand erkannt hatte und sich wandte, dann lief die ganze Perspektive wieder auf die graue Wand aus Segeltuch zu, und die nackten Äste der Bäume waren schwarz in feinster Verzweigung wie von einem ins Kleine verliebten, andächtigen Maler auf den Leinengrund gepinselt. Zwischen dem Bausch von Qualm und der Malerleinwand aber stand, immer gerade dort, wo Bismarck schritt, ein blauer Februarhimmel offen, mit einer Ahnung von Frühling. Eine herzliche Sonne kam herab, löste Schneekrusten von den Ästen und warf sie Bismarck auf Mantel und Schuhe, ein kühles Gestaube, das wie der Luftzug aus einer offenen Tür in die heiße Gedankenwerkstatt Bismarcks drang. Aufgeregter Vogellärm schrillte von den Bäumen, eine Vorfrühlingsberatung über spatzenvölkische Angelegenheiten. Tyras besuchte alle bekannten Stämme, immer wieder, sooft auch die Allee durchquert wurde; er hatte deren eine ganze Menge, siebzehn zur Linken und einundzwanzig zur Rechten.

Bismarck hämmerte indessen an seinen Gedanken. Die ganze Allee war gedrängt voll von früher Gedachtem, von Kriegerischem und Friedlichem, mehr als Zwanzigjähriges war darunter, aus Tagen großer Entscheidungen, vor Waffengängen mit mächtigen Feinden. Vieles davon war reif geworden und trug Früchte, vieles war auf steinigen Boden gefallen und nicht aufgegangen. Es war Bismarck, als sähe er seine eigenen Gedankenschwärme wie Klumpen an den Bäumen hängen, ein unsichtbares Bienenvolk mit krausem Schicksal. Viel Geschehenes war auch zur Fessel geworden, die man zerbrechen mußte, um zu Neuem zu kommen. Anderes wollte immer wieder entgleiten, man mußte sich der Welt entgegenstemmen, und wenn man sie früher getragen hatte, wie sie war, als ein Atlas, so war man jetzt der Weisheit des Prokrustes auf die Spur gekommen und streckte sie oder verkürzte sie nach eigener Einsicht von Maß und Umfang.

Bismarck schwang den Knotenstock; wie immer vor wichtigem Geschehen war sein Blut schwer und dickflüssig, trotz Schweninger und Absagen an einige wohlschmeckende Lebensgüter. Es ging ziemlich bunt in ihm zu, glühender Stahl wogte in weißen Massen, Halbgeformtes erhob sich und sank zurück, dann glitt aus plötzlich aufspringenden Kesseltüren roter Schein über dämonisch stumm dastehende Gestalten, eiserne Klötze, die noch kein Gut und kein Böse in sich trugen. Heute galt es der Wehrkraft des Reiches, Errungenes sollte gesichert werden, Dämme waren gegen die Fluten des Neides und des Hasses zu bauen. Das politische Parteigeschäft hinter der Bühne, der Kuhhandel der Fraktionen war vorbei, und die Aussichten standen günstig. Aber heute mußte noch zum Fenster hinaus gesprochen werden, und Europa spitzte die Ohren. Bitternis und Überdruß ätzten Bismarcks Seele. Er stand still und schlug mit dem Stocke einen mächtigen Kreishieb; blaffend sprang Tyras an, als sei er zum Spielen aufgefordert. Um die Menschen zu beherrschen, mußte man sie verachten und man mußte sich des verachteten Mittels der Beredsamkeit bedienen. Allzu gute Redner waren sträfliche Verführer, es war mit ihnen wie mit den französischen Köchen, die eine Speise so zubereiten können, daß kein Mensch weiß, woraus sie im Grunde besteht. Zur Sache! Zur Sache! Wer hörte diesen schlichten und eindringlichen Ruf? Sie alle wollten Prunk der Worte, pompöse Aufmärsche, das verspielte und eitle Geschlecht, das sie waren.

Zornig schritt Bismarck das letzte Stück des Weges zur Gartenpforte in der Königgrätzer Straße. Tyras begann ein Freudengebell, rannte voraus und wedelte wartend an der Tür. Langsam kam der Fürst heran, ungern mußte er die große Hundeglückseligkeit enttäuschen. Er lehnte den Knotenstock an die Mauer und sagte leise, aber mit Nachdruck: »Reichstag.« Da hielt der Schwanz mitten im Schwung inne, die Flammen in den bernsteingelben Augen erloschen plötzlich, der vergnügt offene blutrote Rachen klappte zu, und zwei Kummerfalten blieben um die Lefzen hängen. Rasch drängte Bismarck an dem vierbeinigen Trauerbild vorbei und trat seinen Gang zur Wahlstatt der Beredsamkeit an.

Seinen kritischsten Zuhörer hatte Bismarck an diesem Tage nicht unten auf den Bänken der Abgeordneten, sondern oben auf der Galerie sitzen. Es war nicht der Herr Abgeordnete von Meppen und nicht der von Hagen und auch keiner aus der grimmen roten Streiterschar, sondern ein ganz unparlamentarischer Mensch, Herr von Röder, derselbe Herr von Röder, dem am Morgen dieses Tages anstatt der welthistorischen Aussicht ein graues Entsagungssegel aufgezogen worden war. Wenn ihm so der erste Teil seiner Tagesordnung, der Blick in Bismarcks Parkeinsamkeit, mißraten war, so hielt er um so unentwegter an ihrem zweiten fest: dem öffentlichen Bismarck. Seinen Beziehungen zum »Mindener Boten« hatte er an diesem zudrangreichen Tage seinen Platz zu danken. Vierzig Jahre hindurch hatte er von seinem Gut auf der westfälischen roten Erde Bismarcks Wirken verfolgt, mit Behagen oder Unbehagen, je nachdem es mehr nach rechts oder links ausschlug. Aber selbst bei entschiedenen Rechtswendungen hatte er sich niemals verblüffen oder einfangen lassen, denn er gehörte zu jenen Männern, denen es eine Lebensbestätigung bedeutet, wenn sie an den großen Erscheinungen des Daseins etwas auszusetzen finden.

Dieser neueste Bismarck nun, dieses Monstrum und Mondkalb, Rechtsgänger und Arbeiterfreund dabei, nicht gesotten und nicht gebraten, wuchs sich ihm zu einem Greuel aus. Der Rechthaber witterte den Rechthaber, der Eigensinnige den Eigensinnigen, und was er in diesem Belang an Einwendungen zu machen hatte, vertraute er den Spalten des »Mindener Boten« an, der für den Eigenbrötler aus der westfälischen Hinterwelt gern einen Sonntagsplatz offen hielt.

So saß er denn auf der Galerie, beide Arme breit auf der Brüstung, als sei er eigens hierher bestellt, um über Bismarck Musterung und Gericht zu halten. Zwei Damen waren seine Nachbarinnen zur Rechten, die wiesen sich mit Bemerkungen über unbekannte Beziehungen und Personen als wohlvertraut mit allerlei sonst Unzulänglichem aus.

»Sie ist auch heute wieder nicht da«, sagte die Entferntere der beiden.

»Die Gräfin Rantzau is net ganz wohl. Aber auch wenn alles g'sund wär', sie käm' doch net. Ihr Herz halt's net aus, sagt sie.«

Zwei Österreicherinnen, dachte Herr von Röder. Daheim, in Westfalen, trug man keine hohen Hüte, wie der, dessen Feder ihm bei jeder der raschen Kopfwendungen über die Stirn streifte.

Er schickte seine Aufmerksamkeit wieder in den Saal hinab, wo der Bundesrat auf den erhöhten Plätzen eben seine Sitze einnahm. Bismarck saß rechts vom Vorsitzenden über ein Papierblatt gebeugt. Noch schwirrte es von Stimmen, in Gruppen waren die Abgeordneten vor und zwischen den Bänken zusammengetreten, noch immer kam Zuzug aus den Wandelgängen. Da schwang die Glocke des Vorsitzenden mahnend durch den Raum, gehorsamer und schneller als sonst ordnete sich der Haufen nach Böcken und Schafen, während die ganz Gerechten und Wohlgefälligen die Mitte besetzten.

»Wo ist Bebel?« fragte die Nachbarin zur Rechten, und ihre Feder fuhr über Herrn von Röders Stirn.

»Da unten in der vierten Reihe!«

»Schaut ja ganz anständig aus«, verwunderte sich die federgeschmückte Fragerin, die eine Art Indianer erwartet zu haben schien. Eine Anleihe stand in erster Lesung auf der Tagesordnung, aber was sich so, parlamentarisch ausgedrückt, nach nichts oder nach sehr wenig ausnahm, war, gewendet und innen besehen, eine sehr dramatische Angelegenheit, denn es hing von dem Schicksal dieser Anleihe ab, ob die deutsche Wehrmacht den Drohungen von Osten und Westen würde einen Dämpfer aufsetzen können oder nicht.

»Der Herr Reichskanzler hat das Wort!« sagte der Vorsitzende.

Bismarck sah vom Blatt und wuchs zu voller Höhe empor. »Lächerlich«, dachte Herr von Röder, »der Kopf sitzt ihm noch immer so klein auf den Schultern, wie die Erbse auf dem Kürbis. Damals hat man es angehen lassen können: unausgewachsen, wie er war … aber es ist ihm geblieben. Was faseln da die Gelehrten vom Rauminhalt des Kopfes? Lächerlich!«

»Wenn ich heute das Wort ergreife«, sagte Bismarck, »so ist es nicht, um die Vorlage, die der Herr Präsident eben erwähnte, Ihrer Annahme zu empfehlen; ich bin nicht in Sorge darüber, daß sie angenommen werden wird …«

Überrascht horchte Herr von Röder hin. Es war eine Überraschung zweifacher Art. Eine dünne, hohe Stimme kämpfte mutlos und von vornherein verzagt gegen die Raumüberlegenheit des Saales. Sie stieg in einem schwanken, schwachen Säulchen gleichsam vom Redner auf, zitterte unschlüssig über ihm und brach dann ganz in seiner Nähe irgendwo geknickt zusammen. Herr von Röder war von seinen Wahlrednern her dröhnende Bierbässe gewohnt, Fanfarenstöße aus vollen Lungen, machtvolle Einsätze, die gleich zu Beginn der Rede von den Hörern Besitz ergreifen. Diese Stimme, halb jugendlich unfertig, halb greisenhaft zittrig, war keine beherrschende Sprachposaune. Mit spöttischer Befriedigung ging Herr von Röder zu der zweiten überraschenden Feststellung inhaltlicher Natur über. Wenn dieser pp. Bismarck nicht sprach, um die Annahme der Vorlage zu empfehlen, wozu sprach er dann überhaupt?

Was sagte er da? Beurteilung der Gesamtlage Europas? Ein politischer Bierschwefel also! Nun gut, nur zu, man würde ja hören, jedoch-mit Urteil, nicht wahr?

Die dünne Stimme sprach weiter, aber mit wachsenden Schwierigkeiten. Atempausen zerpflückten ihren Fluß, manchmal drohte sie an gänzlichem Luftmangel zu ersticken, und da machte Bismarck den Eindruck eines Ertrinkenden. Er fuhr mit den Armen herum, aber keineswegs mit den Gesten eines erfahrenen Redners, die die Zuhörer gleichsam beim Schopf ergreift und herbeischleppt. Mit immer mehr zunehmender Befriedigung betrachtete Herr von Röder die Verlegenheiten da unten am Kanzlerpult, das nervöse Spiel der Hände über Bart und Rock, die ruckweisen Wendungen des Halses im engen Generalskragen. Der ganze Körper machte dem Mann zu schaffen, er bäumte sich und erschlaffte, die Mienen wechselten zwischen Gespanntheit und Hoffnungslosigkeit, nur die Stirn stand ehern und blank gewölbt vor der mühseligen Hirnarbeit. Jetzt schien aber hinter dieser Stirn eine Störung eingetreten zu sein, die Worte tröpfelten nur langsam, die Gedanken waren offenbar versiegt, und mit angenehmem Schauergefühl sah Herr von Röder dem Augenblick entgegen, in dem das fürchterlich lächerliche Ereignis des vollkommenen Steckenbleibens eintreten würde.

Plötzlich brach ein Sturm von Heiterkeit im Saale aus.

»Was hat er gesagt?« fragte Herr von Röder zur Nachbarin hinüber, ärgerlich, daß ihm entgangen war, wie sich Bismarck aus der Gefahr gerettet hatte.

Die kleine rundliche Frau mit dem südlich braunen Gesicht lachte aus vollem Hals. »Ich weiß es nicht«, sagte sie mühsam zwischen zwei Wellenbergen von Lachen. Ingrimmig fühlte sich Herr von Röder gleichfalls angesteckt, die allgemeine Heiterkeit erfüllte auch ihn, und nur die strenge Hinlenkung seines kritischen Bewußtseins auf die Dummheit eines grundlosen Gelächters rettete ihn. »So, so«, dachte er, »man ist also ein Komödiant, ein Verwandlungskünstler, man mimt den Unbeholfenen und macht dann plötzlich Witze! Na, wir wollen sehen. Hören wir weiter hin.«

Von Frankreich und Rußland, den beiden Zaunnachbarn, war die Rede. Mit Frankreich war man also augenblicklich in besserem Vernehmen, das ließ sich hören! Rußland aber stellte Truppen an der deutschen Grenze auf, der russische Pressebarometer wies auf Krieg, und wenn man den Krieg bekam, würde auch die allerfriedfertigste französische Regierung nicht das Revanchegebrüll verhindern können, und die Gewehre würden von selber losgehen. - Richtig! bestätigte Herr von Röder. - Aber Bismarck glaubte eben an den russischen Krieg nicht. - Und warum denn nicht, wenn man fragen darf? Warum zuerst den Teufel an die Wand malen und dann sagen, es gibt keinen Teufel? - Die russische Presse bekam einen Fußtritt - mit Recht - entscheidend für das Verhältnis Rußlands zu Deutschland war der gute Wille und die Freundschaft des Kaisers Alexander. - Oho! Oho! Woher weiß der pp. Bismarck, wie weit der gute Wille und die Freiheit, ihn zu betätigen, beim Zaren reicht? -

Es folgte eine längere Auseinandersetzung über die Kriegsgefahren der letzten vierzig Jahre, und Herr von Röder, der mit halbem Leibe über der Brüstung lag, ersah mit einigem Schauergefühl, wie oft die Dinge auf der Kippe gewesen waren, und daß man viel mehr Kriege vermieden als geführt hatte.

Die Nachbarin fand diesen Teil der Rede weniger unterhaltend. Sie gähnte mit rosigem Mäulchen und wandte sich dann an Herrn von Röder. »Ist das Moltke, der Alte mit dem eingetrockneten Lederg'sicht?« Das Ja des Gefragten war ziemlich ungehalten. Wozu diese Frauenzimmer in den Reichstag kommen; hier ist kein Theater, meine Gnädigste, hier sitzen ernste Männer und besprechen ernste Dinge. Immerhin war dieser zum Abgeordneten gewordene Schlachtenlenker eine beachtenswerte Erscheinung, wie er auf den Bänken der Konservativen dasaß, steinern, ohne Muskelzucken, als seien alle Sinne ausgeschaltet, mit Ausnahme des Gehörs.

Was sagte Bismarck? Gott hatte es so gefügt, daß die Hechte im europäischen Karpfenteich uns daran hinderten, Karpfen zu werden. - Nein, wir wollen keine Karpfen werden. - Aber die Hechte sollten uns auch nicht mehr tun als uns ermuntern. - Ja, bei Gott, wir wollen uns auch nicht auffressen lassen. -

Merkwürdig, höchst merkwürdig, da war nun gar kein Stocken mehr, die Gedanken kamen fließend, und was sie so ins Ungemeine hob, war nicht ihre Zugehörigkeit zu irgendeinem Reich der Verstiegenheiten, sondern ihre erdhafte Wirklichkeit und Nützlichkeit. Sie waren Gebrauchsgedanken, von keiner anderen Schönheit als ihrer Wesenhaftigkeit, sie waren alles durch sich selbst, und das Wort saß ihnen wie angegossen am Leibe. Beifall und Heiterkeit folgten einander, der Redner spielte auf dem ungeheuren Instrument dieser Versammlung, und er spielte mit Meisterschaft, bald zurückhaltend und scherzend zart, bald mit vollgriffigen Akkorden, immer aber führte von allen Abschweifungen ein klarer Bogen zur Grundweise zurück.

Ein streng fugierter Satz belehrte über die Entstehung des Bündnisses mit Österreich, das eine Friedensbürgschaft war und keine Kriegsdrohung. Die kleine braunhäutige Nachbarin klatschte begeistert, ihre Feder vollführte einen Tanz in Herrn von Röders Nacken. »Oh!« sagte sie und besah die Handschuhe, deren zartes Leder solchem Ansturm von Beifall nachgegeben hatte.

Und nun kam nach alledem wieder jene Ur- und Grundmelodie herangeschritten, wie ein Choral in ganztönigen Folgen, wunderbar brausend, Orgel und Meer, in Volksliedkraft: wir werben nicht um Liebe, aber wir wollen auch nicht mehr in den Vorzimmern der Geschichte warten müssen; wir wollen keinen Krieg, aber zwingt man uns ihn auf, so wird er als ein Volkskrieg aufbrennen von der Memel bis an den Bodensee.

Wie war das doch? Längst schon waren alle Einwände aus Herrn von Röders kritischem Bewußtsein abhanden gekommen, alle scheelgesichtigen Vorbehalte schattenhaft entwichen, sein Inneres war wie gereinigt und ausgekehrt. Ins Allgemeine verflochten, war er vor sich selbst erhöht, ganz Ton, selig und unbedenklich mitschwingender Ton.

Bismarck stemmte die Faust gegen sein Pult, die Augen ein helles, blaues Leuchten, die Stimme voll von dunkel quellender Kraft: »Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt.«

Da dröhnte Saal und Galerie von Rufen, Menschenseelen flossen in eins, alles Trennende war in einem heiligen Feuer dahingenommen. Herrn von Röders Hände waren plötzlich ein Geknatter von Beifall, in seiner Brust schwoll ein Gebrüll, die Nachbarin riß einen Veilchenstrauß von der Brust und warf ihn im Bogen hinab, und daß er nicht Bismarck, sondern den Abgeordneten Frankenstein traf, war schon eine besondere Ungefälligkeit der Parabelgesetze. Man sah, wie die Männer im Saal aufstanden und den Fürsten umringten, man sah den greisen Schlachtenlenker sich erheben und Bismarck die Hand schütteln, als danke er ihm im Namen der Wehrhaftigkeit des Reiches. - Als Bismarck nach der Sitzung das Reichstagsgebäude verließ, zwischen der Fürstin Odescalchi und der Gräfin Kornis, die sich ihn endlich eingefangen hatten, wurde er von einem alten Herrn von bulldoggenhafter Knurrigkeit angesprochen.

»Erinnern Sie sich, Durchlaucht?«

Den Fuß auf dem Trittbrett des Wagens, hielt der Fürst höflich stand. Sein Gedächtnis lief lange Reihen von Jahren ab, ohne dieses Gesicht zu finden. Plötzlich, tief in Jugendzeiten, machte es halt. Der Mensurboden, auf dem »Keyser« vor dem Rheinhauser Tor wurde Schauplatz, der Kattunbesen Julia schleppte Bier in beiden Armen. Blutgeruch stieg aus verkrustetem, knisterndem Paukzeug. »Herr von Röder, nicht wahr?«

»Röder von den Westfalen, den Sie damals im vierten Gang abgeführt haben.«

»Weiß Gott, ja, zu Baribals Zeiten …«, sagte Bismarck vergnügt. »Sie waren ein gefährlicher Gegner. Ich erinnere mich jetzt, die Hannoveraner hatten Angst um mich. Man wußte, wie Sie dreinhauen können.«

»Sie konnten's noch besser. Und heute haben Sie mich zum zweitenmal abgestochen.«

Die Frauen machten große Augen zu diesen fleischermeisterlichen Fachgesprächen.

» Pro patria-Suite!« sagte Bismarck, »Sie wissen ja, da tut man sein Bestes. Ich habe für meinen alten Herrn gefochten.«

»Wieder wie damals«, bestätigte Herr von Röder, »genau wie damals.«

Die Seltsamkeit der Menschenbahnen ergriff Bismarck und machte ihn im Wagen schweigsam. Da war man einander im aufsteigenden Ast begegnet, war dann durch ferne Räume in steilem Bogen gezogen, und im absteigenden Ast knüpfte man wieder den flüchtigen Kreuzungsknoten. Fast war es wie ein Vorzeichen zu verstehen. Ein Vorzeichen? Wovon? Von der allgemeinen Waffenstreckung, dem gebieterischen Mensur ex des Lebens, des Abtretens vom Paukboden? Oder von etwas Besonderem, das bevorstand, dessen Erscheinen sich durch Wiederbelebung alter Bilder ankündigte?

Die Fürstin Odescalchi hielt es nicht länger aus, sie begann zu reden, sie strömte von Begeisterung über und nickte allen Leuten, die auf der Straße den Hut vor dem Fürsten zogen, freudig zu, als wollte sie sagen: Ich habe meinen Anteil an ihm.

In der Wilhelmstraße angekommen, vermißte Bismarck den Freudentanz des Reichshundes. »Wo ist Tyras?« fragte er.

»Tyras?« schmunzelte der alte Engel, »der sitzt seit vier Stunden bei der hinteren Parktür und läßt niemand zu Euerer Durchlaucht Stock.«

»Ach«, lächelte der Fürst in sich hinein, »welche Dinge doch wichtig genommen werden. Unsere Stöcke und Regenschirme und bestenfalls noch unsere Kleider. Unsere Seele aber läuft nackt und unbewacht und schutzlos herum.«


 << zurück weiter >>