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28

»Bin ich das wirklich?« fragte die Fürstin entsetzt und hielt die Photographie weit von sich. Sie lehnte das Bild an die silberne Zuckerdose, zwischen die Meißner Kaffeekanne und einen goldgelben Butterklumpen auf geschliffener Glasschale, und legte die Hände auf die Tischkante. Der halbe Frühstückstisch mit allerlei guten und köstlichen Dingen lag zwischen ihr und diesem greulichen Wahrheitsbeweis des Alters und der Krankheit … Johanna konnte die Augen nicht von ihm nehmen: »Sehe ich wirklich so aus?« Vorgebeugt starrte sie in die Lichtschilderung eines hohläugigen Gesichtes, das an Stirn, Wangen und Mund unter schlaffem Fleisch schon die Formen des Schädels sehen ließ, wie er als beständige beinerne Predigt an das unerbittliche Ende aller Menschenwege mahnt.

»Nein, so siehst du nicht aus«, sagte Bismarck ruhig, nahm das Bild und wandte es mit dem Gesicht nach unten, und dann stellte er die Zuckerdose auf die Rückseite, damit man auch nicht einmal den Namensaufdruck des geschickten Lichtbildners vor sich habe. Nun sah der Frühstückstisch gleich wieder viel freundlicher und heller aus.

»Es muß doch wahr sein!« sann die Fürstin in trüber Stimmung.

Schweninger räusperte sich. »Homburg hat Ihnen ja letztesmal nicht gerade wohlgetan, Durchlaucht.«

»Ja, wenn eine alte Maschine einmal nicht mehr will, so nützt es nichts, Öl auf die Räder zu gießen.«

»Aber noch mehr hat Sie die Lungenentzündung Seiner Durchlaucht mitgenommen. Ich war dagegen, daß Sie sich bei der Pflege so aufreiben.«

Bismarck verschob mit unsicheren Fingern einige Teller und Gläser an andere Plätze, wo sie nicht besser und nicht schlechter standen als vorher: »Sie ist immer kränker, wenn anderen etwas fehlt, als wenn sie selber krank ist.«

»Ich bin nun mal schon von Gott zur Beutelratte gemacht«, sagte Johanna mit einem Versuch, für Bismarck durch alle Todesschrecken hindurch zu ihrem alten Lächeln zu kommen. Aber es war eine halbe Sache, die Angst bebte darin weiter, und Bismarck nahm ihre Hand zwischen seine beiden, so daß sie oben und unten hübsch zugedeckt und gebettet war: »Klappstulle«, sagte er zärtlich, indem er die innige Veranstaltung betrachtete.

Die drei Rantzaububen waren draußen gewesen und kamen jetzt herein mit einem großen Ameisenhaufen voll Abenteuer. Otto, der älteste, hatte ein Heupferd gefangen und ließ den grünen Kopf mit den großen Augen aus der halb geöffneten Faust gucken. »Es ist aber kein schönes«, sagte Christian, ein verunglückter Jäger auf ebendasselbige Heupferd. »Es hat nur ein halbes Hinterbein«, trumpfte er rachsüchtig auf.

»Wenn sie raufen, beißen sie sich die Hinterbeine weg. Es ist eben im Krieg gewesen, das verstehst du nicht!«

»Mehr wie du. Wer ist gestern übern Heuhaufen hinuntergeflogen?«

»Er hat mir ein Bein gestellt, Großvater, is das eine Feigheit oder nich?«

Der Großvater nahm die Würde des Unparteiischen so ernst wie seinerzeit auf dem »Kayser« oder auf dem Berliner Kongreß. »Beinstellen ist niemals kommentmäßig. Und es ist schon vorgekommen, daß dabei nicht das fremde, sondern das eigene kaputt gegangen ist.«

Heinrich, den kleinsten, hatte die Großmutter zu sich herangezogen. Dem war nichts Lebendes in die täppischen Hände gegangen, so hatte er sich an die festgewachsenen Naturdinge halten müssen, die nicht ausreißen konnten. Ein Gänseblümchen mit drei Grashalmen schaute ihm aus den Fingern, das war sein Heupferd und war gerade so schön wie das andere. »Euferd!« sagte er, als ihn die Großmutter an ihre Knie drückte. Sie beugte den Kopf herab und legte ihn an seine Brust, sie suchte Schutz bei diesem jüngsten, unbefangensten Leben gegen die peinliche und verfängliche Verfallsanzeige dort unter der Zuckerdose. -

Nach dem Frühstück ging Bismarck mit seinen Gedanken fort. Er stand eine Weile zwischen Schweineweg und Mörderweg unschlüssig und wählte dann den letzteren. Die Namen gingen nach dem System von lucus a non lucendo, und wenn man auf jenem nicht darauf rechnen konnte, irgendeinem Borstenvieh zu begegnen, so war man auf diesem noch weniger in Gefahr, einen Mörder anzutreffen, außer etwa am Sonntag die Vatermörder des Jochen Sachtleven, aber auch die nicht mehr, seitdem der Alte in seinem Ofenwinkel lahm geworden war. Der Unterschied war, daß der Schweineweg flußaufwärts und der Mörderweg flußabwärts führte.

Bei der Aumühle befehligte Vater Lange im Jägerbart und der Pfeife im Mundloch eine Bande Waldarbeiter, die viele junge Fichten in Moosballen verpackten und zur Versendung fertigmachten. Die Bäume waren Auswanderer aus dem Sachsenwald, einige Hundert an der Zahl, und Vater Langes Laune war nicht rosenfarbig, wenn er so junges, braves Baumvolk ziehen lassen mußte, genug an dem, was ihm die Säge an altem fraß.

Der junge Sachtleven schnürte zwei Stämme mit Stricken zusammen. »Na, Christoph, wie geht's dem Alten?«

Mit dem sei nicht mehr viel los, sagte der Mann, heute oder morgen werde es wohl vorüber sein. Es war kein Trost nötig, im Sachsenwald nahm man das Sterben nicht so überaus wichtig. Die anderen Arbeiter rückten in einen weiten Umfassungskreis und glotzten ernsthaft.

»Es ist zu dumm, was für Märchen die Leute erzählen«, sagte Lange; »he, Schmitt, nu bring mal deinen Schnack von der Kanone an.« Ein Mensch, der an Größe Bismarck wenig nachgab, machte sich klein und verzog sich hinter den Schultern der Vordermänner.

»Da soll nämlich ein Haus gewesen sein«, fuhr der Oberförster fort, als der Märchenerzähler offenbar nicht aus dem Bau zu bringen war, »das Durchlaucht nicht gefallen wollte oder irgend im Wege war. Da sollen Durchlaucht eine Kanone aufgefahren und das Haus zusammengeschossen haben.«

Bismarck schüttelte den Kopf: »Ich bin nie bei der Artillerie gewesen. Moltke hätte mir wohl keine einzige Kanone anvertraut.«

»Da hört ihr es, Leute«, sagte mit erhobener Stimme Lange, der, wenn es nicht den heiligen Hubertus galt, sehr für die quellenmäßige Nichtigkeit war: »es ist nichts Wahres daran. Da wird es wohl auch mit dem Morastloch nichts sein, he, Vockering?«

Vockerings prächtige Kupfernase verbarg sich im Gedränge.

Lange aber zog die Geschichte unnachsichtlich ans Licht: »Durchlaucht sollen mit einem Freund auf der Schnepfenjagd gewesen sein, und plötzlich bricht der Mensch in ein Morastloch ein. Zappelt natürlich und schreit und sinkt nur immer tiefer. Durchlaucht aber kümmern sich nur um die Schnepfen. Da fängt der zu bitten an, Durchlaucht möchte doch helfen. Aber Durchlaucht sagen: ›Armer Freund, dir ist nicht mehr zu helfen, aber ich will deinen Qualen ein rasches Ende bereiten‹, und legen das Gewehr auf ihn an. Da kommt denn die Todesangst, er gibt sich einen Ruck, kommt mit übermenschlicher Anstrengung aus dem Loch und kriecht auf allen vieren ans Land. ›Siehst du‹, sagen Durchlaucht, ›am besten hilft sich jeder selbst.‹«

»Ja, die Morastlöcher!« sagte Bismarck nachdenklich.

»Ist doch nicht wahr?« forschte Lange eindringlich, mit erzieherischer Besorgnis.

»Allegorisch höchstens«, meinte der Fürst schon im Weitergehen und hinterließ seinem Oberförster die Aufgabe, seinen Arbeitern ein Licht darüber aufzustecken, was allegorisch sei. Vater Lange spuckte dreimal im Bogen aus und sagte dann: »Allegorisch ist, wenn ein Esel erzählt, ein steinernes Frauenzimmer im Hemd ist der Ackerbau oder die Viehzucht, und die anderen Esel glauben ihm's.« Aber es war zu sehen, daß den Leuten diese Erklärung nicht genügte, und daß sie trotz aller Ableugnung bei der Kanone und den Morastlöchern blieben.

Über Waldesruh war der Fürst zum Schulhaus gekommen und dann durch das Gehölz zur Vollendung des Ganges und Rückkehr eingebogen. Von fern donnerte es dumpf, der Waldboden zitterte unter Bismarcks Füßen, hinter einem Spitzenschleier von Birken sauste der Schnellzug durch den Sachsenwald, schwarz, gefährlich und atemlos, die Wagenfenster blinkten.

»Nach Berlin, nach Berlin!« brüllte das Ungetüm und warf sich mit einem johlenden Pfeifen im Kräftedrang der Ferne entgegen.

»Da werden morgen oder übermorgen meine Eichenstämmchen hinauswandern«, dachte der Fürst; »es ist, als wollte jedes Nest zwischen Vogesen und Königsberg eines von ihnen haben. Sie werden meinen Namen tragen. Ist mir lieber, als sie pflanzen mich in Stein oder Erz vor das Rathaus oder die Sparkasse. Seltsam ist es mit den Menschen. Wenn man mit ihnen fertig ist, muß man ganz von vorn anfangen …«

Pinnow kam angetrabt, auf dem vertrauten Pfad; die junge Sachtleven habe geschickt, mit dem Alten stehe es Matthäi am letzten, und er wolle den Fürsten noch sprechen, er mache es sehr wichtig. -

Sachtleven der Jüngere war auch schon da, als der Fürst eintrat; und damit hatte es seine Richtigkeit, daß der Alte nicht mehr lange zu machen habe, denn man hörte schon deutlich genug die Falltür knarren, unter der die erledigten Dinge in schöner Eintracht und Gleichheit ihre Berufung zu neuen Wandlungen erwarten.

Der alte Jochen schickte sich an, zu versinken, das war seinem Atem anzumerken und dem Haar, das schon seltsam über die Stirn hing wie verwestes Gras. Er habe die Wassersucht, erklärte die junge Frau, und das Wasser stehe ihm schon dicht am Herzen, wenn es eindringe, dann sei es aus; und Jochen nickte bestätigend, und dann winkte er die beiden jungen Leute hinaus, denn er müsse mit dem Fürsten allein sein. Der Himmel wechselte mit Wolken und Sonnenschein; jetzt eben war wieder ein Strahl Licht eingetroffen, der schüttete Glanz über das Sterben. Ganz nahe wurde Bismarck herangewunken, der säuerliche Schweißgeruch des Bettes war unter ihm. Auf beide Ellenbogen gehoben, hauchte der Alte ein Geständnis empor, das allerdings etwas Überraschendes war.

Er habe einen Schatz, jawohl, einen richtigen Schatz, in der Erde vergrabenes Geld. Der Fürst dürfe nicht denken, daß er vielleicht nicht mehr bei Sinnen sei. Er wisse ganz genau, was er rede, und er stehe bald vor Gott und sage in der Hoffnung auf die Seligkeit nur die reinste Wahrheit.

Immerhin mochte der Fürst seine zweifelsüchtige Miene noch beibehalten haben, denn der Alte begann seine Beteuerungen von neuem und setzte nun auch die tatsächlichen Angaben bei. Der Schatz war ein Vaterserbe aus wirren Kriegsläuften. Anno 1806, nach Jena, wie die preußische Armee ins Rennen gekommen sei, wäre einem Leutnant von seines Vaters Regiment die Regimentskassa in Händen verblieben. Sie hätten das Geld: zehntausend Taler in Gold und dreitausend in Silber, mitgeschleppt, der Leutnant, der Vater und noch zwei Mann, und hätten es im Wald nahe der Leuchtenburg vergraben.

Der alte Sachtleven hielt inne, funkelnden Blicks, mit einem bösen Geflacker über das ganze Gesicht. Er prüfte den Erfolg und Eindruck. Dann fuhr er fort: Die Franzosen seien ihnen aber auf den Fersen gewesen, und als sie sich in eine Schießerei eingelassen hätten, da wären der Leutnant und die zwei Mann gefallen, und nur sein Vater sei übriggeblieben, als einziger, der jetzt um das vergrabene Geld gewußt hätte. Er habe das Geheimnis lange bei sich getragen und immer gezögert, den Schatz zu holen, weil er bei seiner Armut als Holzarbeiter der Fragerei nach der Herkunft des Geldes nicht entgangen wäre. Und als er sich entschlossen hätte, es zu holen, sei es zu spät gewesen, ein Baum habe ihn niedergeworfen und zerquetscht, aber vor dem Sterben habe er die Wissenschaft davon auf den Sohn übertragen. Ihm selbst ergehe es nun ähnlich. Sein Leben lang habe er sich geschunden und das Geld in Ruhe gelassen, wo es sicherer läge als in der Bank, damit er es, wenn ihm die Hände sänken, holen könne. Es wäre sein Sparpfennig gewesen, seine Hoffnung auf Behagen, nun sei es hin und solle in Gottes Namen hin sein.

»Sachtleven!« sagte Bismarck, »das Geld, das da Anno 1806 eingescharrt worden ist, hat dem Staat gehört und gehört ihm noch. Und da Sie es mir gesagt haben, so kann ich nichts anderes tun, als es den Behörden anzeigen, damit sie es holen.«

Der Alte war zurückgesunken und starrte zur Decke, wo eine große, blau schillernde Fliege mitten in einem zitternden Sonnenfleck saß, der aus dem Wasserglas widergespiegelt wurde. So sei es schon recht, sagte er, und die Behörden möchten den Schatz nur holen.

Bismarck sah in einen bäuerlichen Seelenwiderstreit: Habgier gegen Gewissen, und das Gewissen war mächtiger gewesen und hatte ihm die Rückstellung des unrechten Gutes abgerungen. Immerhin war da manches Fragwürdige, und das größte aller Warums war dies: warum Sachtleven nicht früher den Schatz durch den Sohn habe holen lassen, wenn er etwa selbst schon zu schwach geworden sei? Neun von zehnen hätten es so getan, und er sei besonders zu loben, daß er gerade der zehnte habe sein wollen.

»Warum?« fragte Jochen Sachtleven langsam: »warum?« Und plötzlich warf er sein Gesicht herum und Bismarck sah, daß es von Schadenfreude und boshaftem Triumph förmlich durchtränkt war: »Ärgern soll er sich, ärgern noch übers Grab hinüber, daß er nichts kriegt. Er soll wissen, was er von mir hätte haben können und was er nicht bekommen hat. Er soll die Fäuste ballen und sich die Haare raufen … nichts kriegt er! Gar nichts! Begraben kann er mich lassen, das kostet sein gutes Geld … eine Mark siebzehn Pfennig und die Lumpen da … das ist die Erbschaft.« Er schüttelte sich vor lautlosem Lachen. »Zehntausend Taler in Gold und dreitausend in Silber hätt' er haben können … hätt' er haben können, wenn er ein Sohn gewesen wär', wie sich gehört … Da! … Da! … da steht's geschrieben!« Aus einem Beutel, der ihm an einer Schnur um den Hals hing, holte er einen schmutzigen Zettel, der in Bismarcks Hand hinüberknisterte. »Holen Sie's … holen Sie's … damit er's nicht kriegt.«

»Ich verstehe Sie nicht, Sachtleven!« sagte Bismarck. »Er ist doch Ihr Sohn.«

Stöhnend preßte der Alte die Hände gegen die Brust, und das Wasser bedrängte ihm offenbar immer qualvoller das Herz. »Verstehen mich nicht? … verstehen mich nicht?« röchelte er, »sind Sie nicht auch so einer wie ich?«

»Nein, Sachtleven, nein!« sagte Bismarck leise.

Die große, blau schillernde Fliege hatte sich summend auf Sachtlevens nasse Stirn niedergelassen und tupfte den dicken, behaarten Pinsel nieder. Bismarck scheuchte sie, rief die jungen Leute und ging. Die Frauen der Waldarbeiter standen an den Türen der Häuser und knicksten vor dem Fürsten. Schatten und Licht wechselten über der Au.

»Welches Geheimnis bist du, Mensch!« dachte der Fürst. »Da trägt jeder eine dunkle oder helle Wissenschaft in sich, einen Schatz von Bosheit und Grimm oder von Edelsinn und Gotteskindschaft, und die Allernächsten ahnen kaum etwas davon.«

Es wurde ihm wunderlich sanft und gütig und reuig zumut; tief aufgeschlossen trat er vor Johanna, die über dem Haushaltungsbuch saß und mit Mariens Hilfe der Bedientenmathematik auf den Grund ging. »Möchtest du nicht die Kinder in Schönhausen aufsuchen?« fragte er zärtlich über den weißen, gelichteten Scheitel hin.

Sie sah mit glückhaftem Erschrecken zu ihm auf und verstand: ein letzter Blick von Abendgipfeln der untergehenden Sonne nach und ins Dämmern des Tales, Seligkeit neben Abschiedsnot, Abkehr und Heimkehr …


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