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Der alte Wildhüter stand auf der Lichtung und flötete mit hinterwäldlerischer Holdseligkeit: »Koom mien Su!« Er zog die Töne auseinander wie ein zerquetschtes, inwendig mit Borsten bewachsenes Hifthorn, mit einer kleinen Beimengung von Jerichoposaunen, also ein für Menschenohren keineswegs besonders lieblicher Klang, aber dafür offenbar um so lieblicher für Wildschweinsohren; denn es dauerte gar nicht lange, da brach es im Dickicht und stürmte schwarz auf die Lichtung heraus: Bachen und Frischlinge und sogar die grimmen Keiler, und das ganze reißende Ungestüm umdrängte den Waldmenschen und wühlte freßgierig grunzend die Kartoffeln und Erbsen aus dem Schnee.
»Das ist hübsch«, sagte der Professor Lenbach auf der Wildkanzel oben in der Baumkrone, »wie der alte Mann dasteht und den Nährvater für die Wildschweine macht. Es sind doch recht teufelsmäßige Viecher, aber beim Füttern werden sie alle fromm und gut und zahm.«
Bismarck faßte einen Ast, der sich über seinem Kopf knorrig dahinschwang. Sein Blick sank auf das Gewimmel der schwärzlichen Rücken: »Gerade umgekehrt wie die Menschen; wenn es ums Futter geht, werden die zahmsten von ihnen wild.« In diesem Augenblicke entstand unten eine grunzende Auseinandersetzung zwischen zwei Keilern, als solle bewiesen werden, daß jede Art von vergleichender Philosophie nur mit Vorbehalt zu verstehen sei. »Na! Na!« lachte der Fürst, »da haben wir's. Es ist doch auch eine recht fanatische Genossenschaft. Das einzige wirklich mannhafte deutsche Wild seit Anno Ur, Elch und Wisent verschollenen Angedenkens, eine Siegfriedjagd mit etwas Gefahr und Einsatz von gesunden Knochen. Schade, daß sie mir schon gegen die Jahre geht, um so tapferer sind Bill und Herbert hinter ihnen her. Die Kinder nehmen uns das Gewehr aus den Händen; schließlich ist es nur ganz in Ordnung, daß man ihnen auch etwas übrigläßt an Arbeit, an Gefahr und an Vergnügen.«
Seltsam heiße Luft strich durch die Baumkronen, verströmte im Sachsenwalde und sprang dann mit plötzlichen Stößen wieder auf. In den Pausen der Regungslosigkeit klopften Tautropfen von den Ästen und schlugen Löcher in den Schnee. Der Oberförster Lange begutachtete den selbst für einen Januarnachmittag vorzeitig dunkel werdenden Himmel und sog den warmen Hauch prüfend ein. »Ob wir nicht ein Gewitter kriegen«, sagte er bedächtig.
»Ein Wintergewitter? Das ist laut Livius ein Vorzeichen für allerlei Ereignisse. Was meinen Sie, Schweninger? Bedeutet es, daß ich mir heute abend einen Grog genehmigen darf, ›am stillen Herde zur Winterzeit‹, wie uns Zurmühlen gestern vorgewagnert hat. Ach, ich hätte einen Rum dazu, der schon 1609 in der Festung Jülich als Feuertrank eingelagert wurde, und gegen den kann die ganze apokalyptische Reiterei nicht an …«
Schweninger zuckte die Achseln; er hatte mürrische Laune aus Berlin mitgebracht, in deren verbissenes Schweigen allerlei Unerfreuliches eingehüllt schien.
Die Fütterung war beendet, der Waldmensch unten hatte seine letzte Handvoll Erbsen ausgeschwungen, die Lichtung leerte sich, und ein letzter hartnäckiger Keiler trollte sich ins Stangenholz, nachdem er weiteres Warten als vergeblich und würdelos erkannt hatte.
»Die Säue, die haben's in sich«, fuhr Bismarck fort, während sie die morsche Kanzeltreppe hinabstiegen; »unseren braven Vater Lange hätte so ein Biest einmal beinahe vom Leben zum Tode gebracht. Erzählen Sie nur, Lange, es ist kein Jägerlatein, ich bin ein lebender Zeuge für die Wahrheit.«
Sie schritten gemächlich durch das Revier, Fichtenwände engten einen schmalen Schneepfad ein, der Oberförster ließ die Jägerpfeife aus dem Mundloch in den weidmannsmäßigen Bartwald baumeln. Ja, da wäre einmal ein Keiler gewesen, in dem müsse sich der leibhaftige Teufel eingenistet haben. Seine Gewehre hätten zwei Türkensäbeln nicht nachgegeben, und in den Augen wäre ihm die glitzernde Bosheit gesessen. Als er vom Grafen Bill angeschossen worden sei, habe er sich Szabak gestellt - einem Sohn des weiland Reichshundes Sultan - und habe ihm die Hauer zweimal in Lunge und Bauch gerannt, daß der Hund nur durch ein Wunder dem Tode entgangen sei. Dann sei der alte Wildhüter an die Reihe gekommen, dem sei er aus einem Lupinenhaufen heraus zwischen die Beine gefahren, daß sich ihm Himmel und Erde umgedreht hätten und seine Kugel ein Loch in den Wald geschossen habe. Zuletzt aber habe er selbst noch seinen Denkzettel abgekriegt. In einem Dickicht habe er den weidwunden Kerl endlich vor die Büchse bekommen, aber beim Aufbrechen sei ihm das Messer in die Hand gefahren, und so groß sei die Satansbosheit des Tieres gewesen, daß sich eine Blutvergiftung eingestellt habe.
Drückend schwer warf sich der heiße Wind in den Wald, es pfiff durch alle Selbstlaute von u bis i hinauf und hinunter und hohnlachte mit klatschenden Flügelschlägen. Dumpfes Stiergebrüll in der Ferne bestätigte die försterliche Wetterweisheit.
»Sagen Sie nur«, ergänzte Bismarck, »daß Sie damals schon mehr eine Anwartschaft auf eine himmlische Försterei als Hoffnung auf die Bismarcksche Pension gehabt haben. Ja, es sind prächtige Tiere, unverzagt und ritterlich, nehmen jeden an. Und können noch bis über den Tod hinaus hassen. Kriegsvolk! Der brave Bürger denkt: Welcher Unsinn, ein solches Wild zu hegen, das unbändig durch den Wald rennt und die Kulturen verwüstet. Aber es gibt anderes Viehzeug, das weit größeren Schaden tut, die Engerlinge, die Wühler und Schleicher unter der Erde, die den Pflanzen die Wurzeln abnagen, im Dunkeln, tagscheu und gefräßig. Mit den Keilern kann ich Krieg führen, das ist eine mannhafte und wehrhafte Angelegenheit, wir verstehen uns geradeaus, Aug' in Aug'. Was soll ich mit den Engerlingen anfangen, wenn ich doch kein Maulwurf bin?«
Damit war die Jägererzählung ein wenig ins Allgemeinere gerückt, und die Keilerbosheit hatte einen heldischeren Anstrich bekommen. Schweninger aber hielt sich mehr an die unterirdischen Schadenstifter: »Es kommen gute Zeiten für alles Engerlingsvolk. Sie haben einen hohen Gönner bekommen. Der Grundbesitzer will eigene Futterplätze für sie einrichten und meint, dann würden sie wohl dem übrigen Wurzelwerk Ruhe geben. Ich weiß nicht, ob sich Engerlinge so abrichten lassen.«
Es sollte keine Zeit bleiben, auf diese Betrachtungen näher einzugehen, denn plötzlich johlte es durch den Wald wie eine ganze Jagd losgerissener Orgelpfeifen, die Stämme krachten gegeneinander, und nach all der einleitenden Sturmmusik entfesselte ein titanischer Paukenschlag auf das Himmelsgewölbe die Wasserbäuche der Wolken.
»Ich kenne mich im Revier Schwarzenbeck nicht mehr aus«, rief Bismarck, unter dem stürzenden Regen stehenbleibend, »Samiel Lange, hilf!«
So dunkel war es, daß man meinen konnte, man stecke schon in der Tasche der Vernichtung; der Regen fiel mit Finsternis untermischt und löschte selbst das kärgliche Leuchten des Schnees. »Wir sind hier bei der Arbeiterniederlassung Radekamp«, sagte der Oberförster und fügte hinzu, das nächste Dach sei das beste. »Oh, wären wir weiter, oh, wär' ich zu Haus«, wünschte der Professor Lenbach, aber keineswegs ungehalten, sondern voll Vergnügen an den Abenteuern dieses Weltunterganges im kleinen. Außerdem hatte er von den vier Verlorenen den wetterfestesten Mantel. Lange schlug sich irgendwohin in die wassergepeitschte, krachende, tobende Waldnacht, die manchmal im Blitz vor sich selbst erschreckend aufschrie, die übrigen folgten ihm nach der bewährten Siebenschwabenweise, indem sie einer den Rockschoß des anderen anfaßten.
So kamen sie nach fünfzehn höllischen Bierminuten in den Bereich eines Lichtgefunkels, wurden vom Regen gegen eine Wand geschleudert und schlugen mit einem Blitze zugleich in eine Hüttentür. Die Frau am Herde bekreuzigte sich ob der vier triefenden Wald- und Wetterungeheuer, dann fast noch mehr, als sie in einem von ihnen den Fürsten erkannte; sie verlor den Kopf, rannte sich am offenstehenden Schranke eine Beule an die Stirn, wischte mit der Schürze über alle vorhandenen Sitzgelegenheiten. Indessen schalt und jammerte ein rinnäugiger Alter vom Ofen her durcheinander und verschärfte das Getümmel.
»Mir war es, weiß Gott, schon oft genug nach Aus-der-Haut-Fahren zumut«, sagte Bismarck, »wie schön wäre es jetzt, wenn ich in eine trockene hineinfahren könnte.« Sie standen jeder inmitten seiner Lache, aber die vereinzelten Wasserflächen begannen jetzt schon ineinander überzufließen, und so war der Boden der Hütte im Begriff, eine Landkarte von Finnland zu werden.
Endlich half die Frau den Sturmverschlagenen aus den Hüllen, fachte das Feuer höher an und warf das triefende Zeug über die Trockenstangen. Bismarck hielt die Hände gegen das Feuer, dachte an wildwestliche Jägerromantik und besah die Hütte. Steinkrüge mit Zinndeckeln standen auf Borden, eine buntgemalte Truhe war mit einer vierländischen Bauernstickerei überdeckt, an der einen Wand hing Deutschlands erster und sein zweiter Kaiser, herzenseinfältig mit dem ausgeschnittenen schwarzen Trauerrande einer Todesanzeige umrahmt. In der Mitte zwischen beiden sah natürlich der Fürst selbst herab, tückisch unter einem ungeheuren Topfhelm schielend, ein Zeichnerscherz aus einem Witzblatt, der hier offenbar ernst genommen worden war.
»Unseren jungen Herrn habt ihr hier nicht?« fragte der Fürst.
Der Alte am Ofen hustete lange und umständlich, dann meinte er, man müsse erst wissen, wie der Hase liefe; denn er war einer, der die Weltbegebenheiten nicht als Katzen im Sack zu kaufen gewillt war.
Bismarck betrachtete den Alten aufmerksam: »Ist das nicht Jochen Sachtleven?« Ja, es war Jochen Sachtleven, der bis vor kurzem noch an viel Rumor und Spektakel in Radekamp beteiligt gewesen war, bis hart an Mord und Totschlag hin. Er war nämlich ein sehr Zäher und Lebenswilliger und hatte bis vor kurzem ein strenges Regiment über den jungen Sachtleven geführt mit Geldablieferung am Sonnabend und allerlei sonstigen Knappheiten des Daseins. Das war so lange angegangen, als der Junge der Weibsgenossenschaft entbehrt und kein Verlangen nach eigenem Herd getragen hatte. Mit der einen war aber das andere gekommen und damit Aufwiegelung, Empörung und unehrerbietiges Handgemenge, bis der Junge den Alten auf fünf Tage bei Wasser und Brot in den Schweinestall gesperrt hatte. Ehe die Sachtlevensche Familientragödie noch öffentlich ruchbar geworden war, hatte der Alte in seinem Hungerturm schon klein beigegeben; jetzt schaltete das junge Weibsstück am Herd, und er saß in der Ecke, bis auf einen unberücksichtigten Nachhall von Befehlshaberton offenbar seinem Schicksal untergeduckt.
»Na, es geht auch so, Jochen?« sagte Bismarck. »Ja, junger Wuchs will ans Licht, und alte Bäume werfen breiten Schatten.«
Es wäre an der Zeit, nach Friedrichsruh zu gehen, meinte Lange, und für trockene Kleider zu sorgen, und das wäre seine Sache; die Frau, die am eigenen Leibe sehr unumwunden das Bismarckwort vom jungen Wuchs bekannte, hatte beim Vieh im neuerbauten Stall zu tun, und das war für einen Gutsherrn eine Entschuldigung von allen anderen Pflichten.
So saßen sie zu viert um den Herd, das Feuer sang auf seine Weise in den Flammentanz hinein. Lenbach sog und trank mit Malerblicken an den Dingen. »Wir sind Augenmenschen, Durchlaucht und ich«, sagte er, »ich weiß nicht, ob noch ein anderer Sinn solche Gottesfreuden bereitet. Sehen Sie, wie niederländisch dies alles ist, das Feuer mit dem Lichterspiel über Boden und Wände, der alte Sachtleven im Helldunkel, eine Rembrandtfigur.«
Schweninger war offenbar kein Augenmensch; er sah das Niederländische der Sachtlevenschen Behausung nicht, sondern betrachtete starr die auf den Boden hingemalte Landkarte von Finnland, selber mit einem Gesicht wie ein alter finnischer Zauberer, der einen Strick mit drei Sturmknoten in der Tasche hat. »Ihnen haben die Berliner Engerlinge aber feste an den Wurzeln gefressen!« meinte Bismarck mit einiger Verwunderung über diese andauernde bajuvarische Schweigsamkeit. »Schießen Sie doch endlich los, Doktor, warum Sie so wurmstichig dasitzen.«
Ach, es wäre nichts weiter gewesen, meinte Schweninger, Berlin sei eben Berlin, dagegen wäre nichts zu machen, und wem nicht zu raten sei, dem sei nicht zu helfen. Im übrigen tobe es in tunlichster Geschäftigkeit und Aufgeregtheit dem Ende des Jahrhunderts entgegen, in einer Faschingsdienstags- und Kehrausstimmung, deren nachfolgender Kater eine sehenswerte Sauriergröße haben werde. Da sei nun ein neues Geschlecht auf den Markt getreten und mache ein großes Getöse, daß alles von Grund aus umgekrempelt werden müsse. Sie wollten nichts Altes mehr gelten lassen, Schiller heiße bei ihnen der Moraltrompeter von Säckingen, und was sie von Goethe übrigließen, seien wahrscheinlich nur seine Liebschaften. Ihr Feldgeschrei sei die Wahrheit und die Freiheit, und unter dieser Losung habe es unlängst bei einem solchen Wahrheitsstück im Theater einen Skandal gegeben, daß sie sich beinahe geprügelt hätten. Man führe sich überhaupt auf, als sei alles Bisherige nur vertrottelte Greisenhaftigkeit gewesen, und als sei man beauftragt, die Welt ganz von vorn nach dem eigenen Kopf ins Werk zu setzen.
Bismarck besah sich während dieses Berliner Stimmungsbildes seinen schwarzen Tyrannen und fragte sich, was für eine Art Brei das wohl sein dürfte, um den Schweninger in solchen Schlangenlinien herumging.
Die Hauptaufgabe der neuen Leute scheine zu sein, meinte der Doktor, das Elend recht ausführlich hinzumalen. Nicht das große tragische Menschheitselend des Kampfes mit Gott und die ewigen Rätselfragen des Seins, sondern das kleine Allerwelts- und Hintertreppenelend, das Elend der unbezahlten Wohnungsmieten, des Saufens und der Armeleutelaster.
»Ich weiß«, sagte Bismarck, »sie nehmen Zola zum Patron und Muster. Aber wie ermüdend und langweilig ist so ein Roman mit seinem Kleinkram. Es ist, wie wenn jemand in einer alten Lade etwas sucht, und es fallen ihm tausend längst vergessene Dinge in die Hand. Er betrachtet jedes, dreht es herum und denkt an seine Geschichte, und schließlich weiß er gar nicht mehr, was er gesucht hat. Kunst besteht darin, die Nebensachen umzubringen und die Hauptsachen auf den Schild zu heben. Sehen Sie unseren Lenbach an, der macht dem alten Jochen auch nicht jede einzelne Runzel ins Gesicht, und in einer Viertelstunde werden Sie doch den ganzen Kopf vor sich haben.«
Lenbach hörte sein Lob nicht, er saß mit Kohle und Zeichenblock in der vierten Dimension und hatte sich aus den drei übrigen adlerhaft den alten Sachtleven zum Modell geholt, der in seiner Rembrandtecke, von Licht und Schatten märchenhaft umspielt, mit offenem Mund entschlummert war.
Ja, also darüber sei nichts weiter zu sagen, fuhr Schweninger fort, als daß Berlin außergewöhnlich ekelhaft sei. Jetzt wüchsen auch die Weltbeglücker und Erlöserlein wie Spargel aus dem Pflaster, und jeder habe sein besonderes, fördersames Plänchen am Gehirnfeuerlein sieden, wie der Menschheit geholfen werden könne.
»Mögen sie sich wichtig machen«, sagte der Fürst, »die Weisheit lehrt uns, keinen Menschen allzu wichtig zu nehmen.«
»Es gibt doch Menschen, die wir gezwungen sind, wichtig zu nehmen«, sagte Schweninger, indem er eine zerkaute, luftarme Zigarre zwischen den Fingern quetschte, »und schließlich ist Berlin doch der Kampfplatz und Acker der Entscheidungen. Die werden nicht bloß in der Öffentlichkeit gesäet und geerntet, sondern wachsen auch in den Mistbeeten und Treibhäusern, ja, es gibt Kulturen, die ganz im Dunkeln wuchern müssen, um zu gedeihen.«
Da waren nun die Augen nicht mehr weiter zu schließen. »Was wollen Sie«, sagte Bismarck, »die Geschäfte gehen in Friedrichsruh ebenso gut oder besser als in Berlin. Ein Rat und ein Sekretär helfen mir hier das besorgen, wozu ich in Berlin die ganze Reichskanzlei brauche. Meine Gesundheit kommt hier im Wald besser weg als in Berlin.«
»Ich spreche jetzt nicht als Ihr Arzt, Durchlaucht«, sagte Schweninger.
»Und unser junger Herr hat selbst den Wunsch geäußert, ich möge nur so lange in Friedrichsruh bleiben, als es mir beliebe.«
Schweninger warf den zerquetschten, stinkenden Zigarrenstummel ins Feuer. »Hat er das?« sagte er scharf, »hat er das?«
Es war ja gewiß, daß dem jungen Kaiser sehr viel daran gelegen war, selbst sein Können zu zeigen, und Bismarck sah lächelnd in den geistigen Mechanismus des Geschehens, als einer, der gelernt hatte, alle Dinge und Menschen von vornherein mit Mißtrauen anzugehen. Allerlei Möglichkeiten lagen nahe genug, aber die dazugehörigen Wahrscheinlichkeiten waren so weit von ihnen entfernt wie der Nordpol vom Südpol, mit einer ganzen Erdkugel zwischen sich.
Wie seltsam wehte es aber jetzt aus dem außergewöhnlichen Benehmen des breitwüchsigen Bajuvaren.
»Ich merke schon längst«, sagte der Fürst, »daß Sie mit etwas hinter dem Berge halten. Lassen Sie Ihr Rößlein traben, heraus mit Ihrer Hiobspost, Herr Doktor. Ich bin auf alles gefaßt.«
Der Doktor tat einen Seufzer der Erleichterung, daß dem Versteckenspielen ein Ende gemacht war, und ließ ein Gottlob zum Himmel steigen, daß die diplomatische Umstandsmeierei nicht zu seinem täglichen Brot gehöre. »Ich bin zur Audienz befohlen worden«, sagte er.
»Das war der Kern des Berliner Pudels? Nun, und?«
»Und ich bin gefragt worden, ob es wahr sei … ob es wahr sei, daß Durchlaucht dem Morphium ergeben sind … dem Morphium und dem Alkohol …«
Bismarck hatte zuviel gesagt, es gab Dinge, auf die man nicht gefaßt war, die Wirklichkeit veränderte sich plötzlich auf eine lächerlich fratzenhafte Weise, in der Ecke beim Herd schnarchte ein fahler Leichnam, lange graue Flügel streiften in Sturmstößen die Fenster.
»… so daß bereits die Gedanken Euerer Durchlaucht in Verwirrung geraten sind«, ergänzte Schweninger jetzt mit ärztlicher Unumwundenheit. Hier war Feuer und Messer am Platz.
»Merkt man das vielleicht an meinen Akten?« sagte Bismarck jetzt plötzlich schmetternd. Schweninger zuckte die Achseln. »Ich habe mir kein Blatt vor den Mund genommen. Die Peitsche für so eine elende Verleumdung! Und ich habe auch gesagt, daß ich weiß, woher sie kommt.« Und es war ihm schon zuzutrauen, daß er das in unentwegter Hemdärmeligkeit gesagt hatte.
Die Windsbraut johlte und jammerte im Kamin, die Flamme im Herd duckte und zuckte zurück, nebenan im Stall brüllte die Kuh in Sturmangst. Soeben war Lenbach fertig geworden, er hielt das Blatt mit ausgestrecktem Arm von sich. »Na«, sagte er unzufrieden, »Lessing hat recht: auf dem Weg vom Auge in den Pinsel geht zu viel verloren.« Aber dabei hatte er doch den dunkeln Stolz, daß man aus dem, was ihm auf diesem Wege verlorenging, noch immerhin einen ganzen anderen Maler hätte bauen können.
Breit regte sich der Schatten hinter Bismarck: »Man hat es also für nötig befunden, meinen Hausarzt über meinen Geisteszustand zu befragen?«
Lenbach war dem Vorangegangenen fern gewesen. »Wie meinen Durchlaucht?« fragte er, auf den Kopf geschlagen.
»Ich meine, daß ich die Säge im Ast knirschen höre, auf dem ich sitze. Aber das ist ein Waldgeräusch und ein Waldbild, zu gut für diese Dinge. Ich meine, daß ich das Zischen der Nattern höre, die unserem jungen Herrn ihr Gift in das Ohr und ins Herz träufeln. Es sind sehr bunte und prächtige Nattern, die Ordensviper, vipera ministerialis, die Strebenatter und die gebänderte Hofschleiche, die unverantwortliche Kammerschlange nicht zu vergessen. Vorkommen in Residenzstädten. Ich bin kein Schlangenbändiger und habe keinen Wert darauf gelegt, sie nach, meiner Pfeife tanzen zu lassen. Nun trachten sie mir nach der Ferse.«
Die Tür ging auf, und der junge Sachtleven trat ein, im triefenden Lodenrock und mit lehmbeschmierten Röhrenstiefeln, von seiner Frau gefolgt, die einen Zuber Milch zum Herd trug. Hinter ihnen schleppte Pinnow einen Haufen Mäntel.
»Da sind Sie ja, Sachtleven«, sagte der Fürst. »Na, Sie haben ja auch Ihren Alten abgesetzt und in die Ofenecke gesteckt.«
Sachtleven drehte den Hut, und es war deutlich, daß er sich mit größtem Vergnügen in seine Bestandteile aufgelöst und sich an einem gelegeneren Ort wieder zusammengesetzt hätte. Ganz schlimm aber wurde die Sache, als der Fürst fragte, wann denn der neue Stall angebaut worden wäre, denn nun hing ein Donnerwetter gerade über seinem Scheitel, gegen das dieses Wintergewitter draußen ein sanftes Säuseln war. Zögernd gestand er, daß er sich's habe verbessern wollen und daß er sich den Stall mit Erlaubnis des Schwarzenbecker Försters selber außerhalb der Arbeitszeit gezimmert habe.
»Sie sind ein Arbeiter«, sagte der Fürst, »und ein Arbeiter soll nichts umsonst tun. Den Stall hätte eigentlich ich Ihnen bauen lassen müssen. Kommen Sie morgen aufs Rentamt, man wird Ihnen Ihre Arbeit ersetzen. Verstanden?«
Mit dem Verstehen ging es nicht so schnell, und ehe der junge Sachtleven noch damit fertig war, hatten die Gäste schon ihre Mäntel umgetan und waren von der Winternacht verschlungen.
Die Fürstin trug eine ganze Weltlast von Sorgen und Ängsten. Ob sich Ottochen nicht bei diesem Wetter erkältet haben werde, ob er wohl nicht besser zu Bett gehen wolle, und was dieses Telegramm von Herbert bedeute, daß der Vater sogleich nach Berlin kommen solle, da seine Anwesenheit dort dringend nötig sei.
Erkältet habe er sich nicht, sagte der Fürst, und ans Zubettgehen denke er weniger als - mit Schweningers Erlaubnis - an einen steifen Grog aus dem Rum von 1809; was aber das Telegramm anlange, so bedeute es, daß es bisweilen vonnöten sei, gewissen Zeitgenossen über gewisse Geisteszustände ein Licht aufzustecken.