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Das beste Mittel gegen Schlaflosigkeit sei, täglich ein Pfund Tabak zu rauchen, behauptete Simon Dobberuntz aus Varzin; der war ein Nachkomme jener Erz- und Zauberhexe Trine Dobberuntzin, die der dortigen Gegend an Vieh und Feldfrüchten über zwanzig Jahre lang großen Schaden getan, endlich aber auf des wohledlen, gestrengen und festen Herrn Georg von Zitzewitz Betreiben gefänglich eingezogen und im selben Anno 1625 der Buhlschaft mit dem Teufel überwiesen, auch kraft Rechtens vom Feuer verbrannt und hingerichtet worden. So mochte Simon Dobberuntz von dieser Ahnin her vielleicht immerhin mehr von sympathetischen Kuren und Geheimsäftlein der Natur wissen als ein anderer; was aber insonderheit sein Mittel gegen Schlaflosigkeit betraf, so war es vom Fürsten seit langer Zeit angewendet und erprobt, denn er war von der Zigarre zur Pfeife übergegangen, als einem harmloseren und die Gesundheit weniger angreifenden Zeitvertreib und Reizmittel. Erprobt war es also, aber nicht bewährt gefunden, so viele dickbäuchige Pfeifenköpfe man auch ausrauchen mochte. Sohin blieb dem Fürsten nichts anderes übrig, als schönen Dank zu sagen und dem Simon Dobberuntz für seinen freundlichen Rat einige Pfund vom Besten zu schicken, mit der Bitte, ihn anstatt des Fürsten zu rauchen.
Da es also mit diesem Mittel nichts war, ging die Gräfin Rantzau hin und ließ sich auf einem Fleck vier Zähne ziehen. Es waren vier ungemein ordentlich eingewurzelte Zähne, deren morsche Kronen in einem sehr peinlichen Gegensatz zu dem gediegenen Untergestell standen, vier böse Stundenzerquäler und Nachtzerwühler, deren Entfernung durchaus angebracht war. Daß die Gräfin sie aber auf einen Sitz loswerden wollte, und daß sie bei dem blutigen Geschäft nicht einmal eine Narkose oder sonstige Linderungsmittel litt, hatte seinen besonderen Grund in dem Wunsch, den Vater davon zu überzeugen, es sei gar nicht so viel dahinter. Gleich Johanna und Bill und Herbert und dem Pfarrer Mulert und wer sonst noch einigermaßen in Betracht kam, war nämlich Marie davon überzeugt, daß auch in des Vaters Kinnbacken ein solch nervenzerrüttender Unhold Ursache der Qual seiner Nächte und seiner Gesichtsschmerzen sei. Aber die heroische Tat, die den Mannesmut durch das Beispiel eines schwachen Weibes aufrütteln wollte, war umsonst vertan, denn der Fürst äußerte zwar das lebhafte Mitempfinden mit dem Opfer ihrer Kindesliebe und staunte ihren Heldenmut an, bezog aber das Beispiel weiter nicht als nachahmenswert auf sich.
Eines Tages aber fuhr ein fremder Besucher im Schloßhof von Varzin vor, ein Herr Doktor Schweninger; an dem war weiter nichts bemerkenswert, als der schön-schwarze Vollbart um den unteren Teil des Bauerngesichtes und vom oberen die beiden handfesten Beulen links und rechts an der Stirn, hinter der eine gehörige Menge Eigensinn stecken mochte.
Bill stand schon an der Treppe, und nach einigem Flüstern wurde der Gast vor den Herrn des Hauses gebracht, wo er wohlwollende Aufnahme fand, als einer, der dem Ruf nach bereits familienbekannt war. Die Gicht Bills, die sich in dem wohlgenährten und etwas umfänglichen Körper eingenistet hatte, war vor seinen vernünftigen Ratschlägen gewichen.
»Sie kommen eben zum Erntefest zurecht«, sagte der Fürst, »gleich werden sie anrücken.« Mariechen, die sanfte Heldin, lief alle Augenblicke zum Fenster, um nachzusehen, ob der Regen, der seit dem Morgen über den Wäldern hing, nicht zur Unzeit loszubrechen beabsichtige. Die Wolken hielten vorläufig noch zusammen, und nach einer kleinen Weile konnte man schon die Musik aus dem Dorfe hören und die Jauchzer, die in der Luft ihre schrillen Purzelbäume schlugen.
Man begab sich zum Empfang in den Hof, Bismarck und die Fürstin voran, dahinter die anderen, Marie in Ehefrömmigkeit dem stattlichen Grafen angeschmiegt, Bill mit der weißen Weste und dem Strohhut, der alte Pastor Mulert, der Gutsinspektor und zwei eingeschnurrte Nachbarsdamen; und dem fremden Doktor, der sich seitwärts aufgestellt hatte, blieb Zeit, in den welken Zügen des Fürsten die Schriftzeichen der Verwüstung zu lesen.
Mit mächtigem Blechgetön, in dem nach dem allgemeinen Weltrezept zum Richtigen auch nicht wenig Falsches gemengt war, schwenkte die Musik beim Einfahrtstor herein und brach den dörflichen Einzugsmarsch jäh ab, mit ziemlicher Gleichzeitigkeit, nur daß der einen Posaune noch ein Stück B aus dem Halse schoß. Der Obermusikus drehte sich um, blies die Backen auf, und nun gaben sie Gott die Ehre:
»Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren.«
Von den Harken der Mägde flatterten Bänder aus Seide und Papier, der regendrohende Himmel schien über diese spöttisch unbedachte Fröhlichkeit noch schwärzer zu werden. Aber sie war gar nicht so unbedacht, denn der letzte Erntewagen war glücklich unter Fach, so daß die Schnitterlustbarkeit schon nach rechtem Brauch toben konnte. Als der Choral in Würdigkeit, obwohl bei einigen handelnden Personen mit Herzklopfen, zu Ende gebracht war, setzten die Mäher ihre Sensen mit einem Ruck zu Boden, zogen die Schleifsteine aus dem Gurt und begannen die blanken Klingen zu wetzen, daß das Arbeits- und Sommergeräusch zu einem zweiten, nicht minder gottgefälligen Chor vereinigt war. Zum letztenmal in diesem Sonnenjahr, denn Hoch und Tusch und wieder Hoch und Tusch bezeugten und besiegelten das gesegnete Arbeitsende. Die Großmagd stand schon da, vollbusig und breithüftig, die ganze Schar von Kranzjungfern im Halbkreis hinter sich, und begann zunächst mit ein wenig wackelnden Stimmbändern, dann aber mit festerem Gefüge, ihr Sprüchlein herzubeten. Darin wurde vor allem wieder Gott gedankt und sodann der Herrschaft ein Wunschangebinde angehängt: dem Fürsten ein schwarzbraunes Pferd, ein Degen, um für das Vaterland zu kämpfen, ein grüner Tannenwald, um darin spazieren zu fahren, und viele hunderttausend Taler in die durchlauchtigste Kassa; die Fürstin wurde mit einem Haus bedacht, das sollte auf jeder Ecke einen Turm haben, von Rosen das Dach, von Myrten die Tür, von Gold und Silber ein Riegel dafür, drinnen aber einen vergoldeten Tisch, mit einem gebratenen Fisch auf jeder Ecke und zwölf Flaschen Wein in der Mitte; der Gräfin wurde ein goldenes Lineal und unverwelkliche Schönheit und dem Grafen Bill eine hübsche, junge Braut und eine grüne Atlasweste angewunschen, nicht weil seine weiße nicht etwa vornehm genug sei, sondern damit ihn seine Braut niemals verlasse. Was alles in freundliche Verse gebracht war nach dem meistersingerischen Grundsatz: »Reim dich, oder ich freß dich!«, so daß freilich manche Zeile nicht von vorn nach hinten, sondern von hinten nach vorn, vom Reim aus nämlich, gedacht und gewunschen war.
Hierauf bekam der Fürst seine Erntekrone, die war durchaus aus verschiedenem Korn geflochten und schwer von üppiger Fruchtbarkeit; in die kleinere der Fürstin waren Blumen gedreht, auch Bill und der Inspektor nahmen ihre Kornkronen entgegen; was sonst an Gästen auf der Treppe stand, mußte sich mit Kränzen aus Buchsbaum und Blumen begnügen, denn die Ähren galten nur für solche, die dem Acker selbst durch Besitz oder Arbeit verbunden waren.
Der Fürst hielt seinen Ährenkranz in beiden Händen, seine Blicke gingen über Haus und Hof, über Knecht und Magd, über Himmel und Erde, und er fühlte die wunderbar stärkende Gemeinsamkeit mit alledem. Ganz fern wetterleuchtete Stadt und Staat, Politik und Partei, Presse und Parlament, ein düsterroter Brand und Qualm. Er dankte den Leuten mit einigen Worten für die mühevolle Arbeit eines Jahres, für ihre guten Wünsche und setzte den seinen eines vergnügten Festes dawider. Die ersten Regentropfen fielen, aus der Scheune begann die Musik zu rumoren, diesmal aber keinen Einzugsmarsch und auch keinen frommen Choral, sondern einen richtigen Polkatanz.
Der Vormäher hatte seine Sense dem Nachbar gegeben, kratzte vor der Fürstin hinten aus, wischte die Hand an der Hose ab und nahm Johanna um die Hüften; der Fürst hatte seinerseits die Großmagd angepackt, gar nicht hofballmäßig, sondern recht kniehopferisch, wie Anno Kaleb, und damit war die Sache in Gang gebracht. Lachend drehten sie sich vor dem Regen durch das offene Scheunentor unter das Dach und auf blanker Diele unter den Kronleuchtern aus Tonnenreifen weiter.
Die Großmagd machte es dem Fürsten gar nicht leicht, sie nahm ihre Aufgabe ernst und ließ ihn das ganze Stück hindurch nicht los, daß seine alte Tanzgeschmeidigkeit erwachte und er schließlich, je länger es dauerte, desto mehr Ehrgeiz darein setzte, nicht vor dem letzten Takt die Luft zu verlieren.
»Schade«, dachte der Doktor Schweninger, der an einem der mit Eichengewinden umschlungenen Pfeiler stand, »schade!«
Die Baßposaune tat ihren dröhnenden Schlußschnaufer, der Fürst entließ die Tänzerin und lockerte die weiße Halsbinde: »Donnerwetter«, sagte er zu dem Gast aus München, »so wie diese Großmagd hat mich noch keine Großmacht herumgeschwenkt und in Schweiß gebracht.«
Simon Dobberuntz stand da, mit seiner Pfeife im Mund, und machte einen Qualm für sieben. Ob er noch etwas von der Sendung habe, fragte der Fürst. Ja, es wäre noch etwas da, aber nicht mehr viel, nur noch zehn Pfeifen vielleicht, aber das sei vom Fürsten nicht recht, daß er jetzt nach Afrika reisen und Varzin verlassen wolle.
Verwundert suchte Bismarck das Gewölk zu durchdringen. Wer denn diese Nachricht erzählt habe? Man rede es so im Dorf herum, meinte Simon Dobberuntz, er wolle nach Afrika reisen, zu den Hottentotten und Menschenfressern, die am ganzen schwarzen Leib nicht einmal eine Faser von christlicher Kleidung hätten.
Aus der Zigarrentasche des Fürsten bohrte sich eine braungoldene Angra Pequena durch den Rauch auf den alten Dorfgelehrten zu. Eine neue Bremer Marke, aber die war auch das einzige Afrikanische an Bismarck. Im übrigen, sagte er, wenn er wirklich nach Afrika reisen sollte, so jedenfalls nur auf dem Kamel, das dem Simon Dobberuntz die Geschichte überbracht habe.
Hierauf hüllte sich Simon Dobberuntz tiefer in sein Gewölk, denn er mochte nicht sagen, daß er sie von einer hochgestellten Persönlichkeit hätte, die sich als Kamel keineswegs gut ausnehmen würde; von Fritz Hochgesandt nämlich, des Herrn Pastors Schwiegersohn, der jetzt schon Direktorstellvertreter seines Bankhauses war, aber immer noch gern nach Wussow kam, um das Dorf und Menschen mit dem allerneuesten Berlinerblau anzumalen.
Sie begannen den Musketanz zu tanzen, die hübschen Mäuse sprangen im Takt durch den Reigen, und wenn sie von der Katze gefangen wurden, verloren sie nicht das Leben, wohl aber einen Kuß.
Der Regen hatte sich in ein heftiges Schütten begeben, unter Mänteln und Schirmen liefen die Varziner Herrschaft und ihre Gäste quer über den Hof dem Haus zu.
Bismarck verzog das Gesicht und atmete schwer, während ihm Engel im sechseckigen Vorsaal den Mantel abnahm. »Zuviel«, sagte er, »zuviel für einen alten Herrn.«
»Wie findest du ihn?« fragte Johanna besorgt und zugleich bange um das Gelingen der Verschwörung, »hast du dir ihn angesehen? Ich glaube, du solltest ihn doch einmal befragen, wenn er schon da ist. Hat er nicht an Bill Wunder getan, und ganz ohne Medizinen?«
»Meinst du?« fragte der Fürst und schien sonst der liebevollen Anregung nicht weiter nachzudenken. Sie mochte ihm aber doch durch den Kopf gegangen sein, denn nach dem Abendessen, bei dem vielleicht ein heimliches Prüfen über die Teller hin stattgefunden hatte, bat er den schwarzbärtigen Doktor um eine Unterredung.
Vor den Fenstern der Bücherei rauschte der Regen gleichmäßig nieder, die drei alten Herrn aus der Bismarckschen Familie, die an den Wänden hingen, machten unter den Perücken gespannte Gesichter.
»Sie haben bei der Fürstin einen Stein im Brett«, sagte der Fürst, »als eine Art Wundertäter. Ich solle Sie einmal meinetwegen befragen, meint sie. Nun, zum erstenmal hat's mich in Petersburg hingeworfen, wie sie daheim den Unsinn machen wollten, für Österreich vom Leder zu ziehen, was ihnen damals nicht gedankt worden wäre, dann im Jahre sechsundsechzig, später in Versailles, wie die Kanonen durchaus nicht losgehen wollten, im Jahre vierundsiebzig, wo mir die Reichsglocke nachsagte, ich hätte zusammen mit Bleichröder Durchstechereien gemacht, und wo das preußische Hausministerium zehn Stücke dieses Blättchens bezog, dann wieder siebenundsiebzig, wo man ganz besonders liebenswürdig gegen mich war, dort, wo man unter keinen Umständen von den Umständen absehen darf. Und nun seit einigen Jahren überhaupt in Permanenz … mit ein paar Pausen, die kaum der Rede wert sind. Da haben Sie mein ganzes Elend. Meine Zeitgenossen machen Dummheiten, und ich kriege davon das Reißen im Gesicht; meine Beamten sind widerspenstig, und ich habe Atembeklemmungen; meine Feinde im Parlament schießen mit vergifteten Pfeilen und zwingen mich, sie eine ganze schlaflose Nacht hindurch zu hassen. Wissen Sie ein Mittel gegen Dummheit, Widerspenstigkeit und Feindseligkeit, dann könnte mir geholfen werden.«
Der Doktor Schweninger war kein Umstandsmeier und kein Leisetreter, er ging vielmehr auf die menschlichen Unvollkommenheiten zu und nicht hinten herum, als ein unverdrossener Jünger des ärztlichen Glaubensbekenntnisses »Drauf und dran«, dem vor allen Dingen um klare Sachlage zu tun war. Der Mann, der vor ihm saß, war ihm weder der verehrte noch der begeiferte Kanzler, sondern ein Kranker, der um kein Haar anders zu behandeln war als etwa der Herr Joachim Tuchgewand aus Aschaffenburg. Er faßte diesen kranken Mann fest ins Auge und sagte ruhig: »Es liegt nicht an den Zeitgenossen, Durchlaucht, sondern an Ihrer ungesunden Lebensweise.«
»Inwiefern?« fragte der Fürst in spöttischer Kürze.
»Es ist ungesund, die Nacht zum Tag zu machen und ohne Rücksicht auf seine Kräfte die von der Natur der Ruhe zugedachten Stunden durchzuarbeiten und dafür in den hellen Tag hinein zu schlafen. Es ist ungesund, so viele und so schwere Speisen vor dem Schlafengehen zu sich zu nehmen. Es ist ungesund, so viel und so schwere Getränke in sich zu füllen, wenn ich auch zugeben muß, daß Durchlaucht im Punkte des Vertragenkönnens vor anderen Menschen ausgezeichnet sind.«
»So, so!« sagte der Fürst und hielt das spöttische Lächeln fest, das ihm infolge einer gewissen Unsicherheit zu entgleiten drohte. »Und woher wissen Sie alles das, wenn ich fragen darf?«
Doktor Schweninger war nicht gesonnen, den Chevalier Saint Germain oder irgendeinen anderen Wunderarzt zu spielen, dem seine Wissenschaft von übersinnlichen Mächten zugetragen wird. Er habe es vom Grafen Bill, sagte er; überdies stehe der Fürst auf einem Platz, der von allen Seiten besehen werde und dessen kleinste Ereignisse sehr wichtig genommen würden, und zuletzt habe ihm seine eigene heutige Beobachtung alles in vollem Maß bestätigt. »Es ist schade«, sagte er nach soviel Klarheit etwas dunkel, »es ist schade.«
Ein wurmartiges Unbehagen regte sich in des Fürsten Herzkammern. »Was ist schade?«
»Euere Durchlaucht haben eine eiserne Gesundheit. Eine andere Natur wäre unter solchen ständigen Schädigungen längst zusammengebrochen. Sie müßten einsehen lernen, daß Sie eine schwere Verantwortung vor der Gegenwart und der Zukunft Deutschlands tragen.«
Eine kabbalistische Zahlenreihe tauchte vor Bismarck auf, halb Spiel, halb Ernst, eine mystische Rechnung um Leben und Tod. Sein abschweifender Blick, der den festen Augen des Doktors nicht standhielt, traf die drei alten Herren an der Wand. Da war es, als öffne Christoph Friedrich von Bismarck, der unter dem Großen Kurfürsten bei Fehrbellin gefochten hatte, den Mund und flüstere dem späten Enkel zu: »Drei Jahre … noch drei Jahre!« Hatte er es nicht selbst so errechnet, und sah es jetzt nicht so aus, als solle das Exempel stimmen? Kleinlaut kehrte der Fürst zurück, das heimliche Geräusch des Regens wandelte sich ins Unheimliche, das ganze Haus wurde in diesem Schweigen zwischen den Männern voll von bohrendem, nagendem Knistern und Ticken. »Was meinen Sie also, Doktor, was zu geschehen hätte?«
»Es müßte alles von Grund auf anders werden. Sie müßten sich darein finden, mäßig und nur leicht verdauliche Dinge zu essen. Sie müßten dem starken Pokulieren absagen. Und Sie müßten Ihre Arbeit vernünftig einrichten.«
Das war allerdings sehr unverblümt gesprochen, ohne Verzierung und Verzuckerung, eine keineswegs wohlschmeckende Medizin, die man da zu schlucken bekam. Alles, was in Bismarck noch Student, pommerscher Junker, Soldat, Reiter und Jäger war, empörte sich gegen diese ärztliche Besserwisserei. »Sie wollen mich darauf aufmerksam machen, daß ich bald siebenzig bin«, sagte er ungehalten, »kurz gesagt, ich soll ein Pfründnerdasein führen. Ich soll auf das Restchen Leichtsinn und Übermut verzichten, das mir noch geblieben ist. Das bißchen Freude an guten Dingen soll abgetan sein, damit ich um ein Jahr oder zwei länger lebe. Ich will aber kein Siechenhäusler sein, Herr, ich will mir die Bissen nicht zuwägen und die Gläser nicht zumessen lassen. Sie verleumden meinen guten Magen, Herr!«
Da war man, trotz allen Widerständen, im Gefühl und auch den Tatsachen nach, ein Stück europäisches Bewußtsein und Herr über eine ganze Welt voll Kampf und Liebe; da hatte man den ehernen Schritt und den Sockel der Geschichte, und plötzlich warf einem dieser Mensch da, einer, der auf Hochschulbänken und vor zerlegten Leichen den Doktortitel erworben hatte, den Strick um den Hals, um daran zu mahnen, daß alle Großartigkeit in einer höchst unzulänglichen Leiblichkeit steckte. Und noch etwas war da, die Besorgnis, daß ein Nachgeben als Furcht vor dem Tode gedeutet werden könnte, etwas, das man nicht kannte, ganz und gar nicht kannte.
Der Doktor war aber nicht bloß ein Doktor außen herum, sondern auch innen hinein, und er sah dies alles mit einiger Deutlichkeit auf dem grimmigen Gesicht des Fürsten gespiegelt. Er fühlte die Entscheidung drohend vor sich, und sein Bedauern, daß sie gegen ihn und seine Einsicht fallen werde, wuchs in einem sekundenkurzen Zögern zu einem Schmerz in Hirn und Augen. Mit einem Lockern des Strickes, mit einer versuchsweisen Ausgleicherei war nichts getan, Nachgeben war Verbrechen, das wußte er. Er stand hier auf seinen festen zwei Beinen als Sendling eines Volkes, die Dicke seines Schädels war die Bürgschaft der Besonnenheit. Jetzt kam es zum letzten Ruck am gespannten Seil.
»Dann muß ich bitten, die ärztliche Befragung als beendet ansehen zu dürfen«, sagte er, indem er Miene machte, sich zu erheben.
Bismarck drehte die buschigen Augenbrauen. »Bleiben Sie«, sagte er mit mürrischer Verbindlichkeit, »laufen Sie immer Ihren Kranken gleich davon?« Und nach einem kurzen Schweigen mit einem ergebenen Seufzer: »Was wollen Sie also von mir?«
Es war also gebogen und nicht gebrochen, aber man durfte nur um Gottes willen nichts von ärztlichem Triumph merken lassen. Ganz konnte es der Doktor doch nicht verhüten, daß ihm das Siegesfeuer aus den Augen fuhr. »Sie müssen mir ohne Rückhalt vertrauen«, sagte er, »Sie müssen mir gestatten, Ihr Leben zu regeln, und sich genau nach meinen Maßnahmen richten. Und Sie müssen mir versprechen, Einflüssen von anderer Seite, und seien es welche immer, Widerstand zu leisten.«
Er meint Johanna, dachte Bismarck, und es schwante ihm mit trauriger Deutlichkeit, daß es nun auch mit ihren schönen Gegenmitteln gegen Mangel an Eßlust, als mit den Borchardtschen Gänseleber- oder Krammetsvogelpasteten, ein jähes Ende genommen habe.
»Ich will Ihnen vertrauen und folgen«, sagte er trotzdem, indem er dem Doktor die Hand gab. Der packte diese Hand mit seinen kurzen, trockenen Fingern. »Noch eins: wenn sich meine Maßregeln nicht durchführen lassen sollten, dann müßten mir Durchlaucht gestatten, mich in aller Freundschaft zurückzuziehen.«
Der Strick! Der Strick! Der Fürst nickte mit zugeschnürtem Hals, aber er hielt sich an diese Hand, die wie ein festes Versprechen war.