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Das Lachen hielt eine Weile vor, aber nicht allzulange, dann wurde es wieder düster in Bismarcks Inwendigem. Das kam zum Teil von der Wetterwand im Westen, vielleicht war es aber auch zum Teil ein Schatten von der großen Tribüne her, die haushoch über das Gewimmel ragte und nichts als schwarze Fräcke trug. Sie hob sich aus der allgemeinen Sommerbuntheit wie ein Felsen besonnenen Ernstes und unantastbarer Würdigkeit und unterschied sich auch dadurch von den anderen Landschaften des Siegesrittes, daß an ihrem kühlen, prüfenden Dastehen der Jubel gleichsam seine Temperatur verlor und kleinlauter wurde. Das hölzerne Schiff, das die schwarzbefiederten Vertreter des Volkes trug, schwamm nicht mit dem reißenden Gefälle dieser Stunde, es hatte Männer an Bord, die sich verpflichtet fühlten, den Kopf oben zu behalten und nicht Mithandelnde zu sein, sondern Zuschauer zu bleiben. Es war, als schaue an dieser einzigen Stelle das alte, kahle, nüchterne Berlin durch den Festmantel der Stadt.
Während Bismarck unten dahinritt und die vereinzelten Zurufe, die aus der Höhe auf ihn niederfielen, mit verbindlichem Nicken erwiderte, wandte sich ein kleines Männlein der ersten Sitzreihe mit einem vergnügt klugen Lächeln an seinen Nachbar, dem ein grauer Bart kantig gegen das Kinn hin geschnitten war.
»Sehen Sie, lieber Mallinckrodt«, sagte der zwerghafte Kleine aus seiner Tiefe zu dem ragenden Genossen, »ich weiß jetzt genau, was Sie denken.«
»Haben Sie bei Mister Home Unterricht genommen?« lächelte der Nachbar zurück.
Das gescheite Schmunzeln verließ das bartlose Gesicht des Kleinen nicht. Ein paar Fältchen jagten einander um den Mund. Hinter Brillengläsern sprühte ein elektrisches Feuerwerk. »Ohne Home, lieber Mallinckrodt! Sie denken: ›Wie komisch wäre das, wenn statt des Bismarck der Doktor Windthorst da unten auf dem Riesenvieh säße.‹«
Es mochte nicht weit vorbeigeraten sein, denn Mallinckrodt erwiderte allzu eifrig: »Es ist nicht unsere Aufgabe, Parade zu reiten. Das können wir anderen überlassen.«
Windthorsts schmale Lippen schoben sich vor, sein Mund bekam einen kindlichen Trotz. Mit einem leise schmatzenden Laut klafften sie wieder auf. Er hob die Stimme ein ganz klein wenig, gerade genug, um noch ein paar gleichgesinnten Genossen links und rechts verständlich zu sein. »Wir wollen aber auch nicht geritten sein, nicht von Bismarck und nicht von einem anderen.« -
Einige Sitzreihen weiter oben und hinten hatte Lasker vor zwei Stunden das Wort genommen und noch nicht wieder hergegeben. Seine Aufregung wurde ihm immer zu Gießbächen von Beredsamkeit, der er selbst nicht Einhalt tun zu können schien; sein Inneres begann zu glühen und zu dampfen, daß ihm der Schweiß unter den schwarzen Ringellöckchen auf die Stirn trat. Über ein Nichts konnte er so ins Reden geraten, um wieviel mehr über das, was heute vorging, über dieses Schauspiel, das vor allem seinem Helden zu gelten schien. Er verbreitete sich eben über die Lage der Dinge in Frankreich und erzählte, daß es den Deutschen dort nicht zum besten gehe, und daß man ihnen mit allen möglichen großen und kleinen Quälereien zusetze, davon zu schweigen, daß offenbare Rechtsverletzungen vorkämen, für die den französischen Richtern die Augen fehlten. »Und was sagen Sie«, fuhr er fort, »wie die Leute ihre Milliarden zahlen? Sie wollen uns loswerden. Gut! Aber hat jemand gewußt, daß Frankreich so reich ist? Sie werden früher gezahlt haben, als wir unsere Besatzungen zurückziehen können. Haben Sie gehört, daß sieben neue Aktiengesellschaften in Berlin gegründet worden sind. Ja - Geld kommt ins Land, man muß irgend etwas damit anfangen. Sie werden sehen, wie der Bodenwert und die Grundrente steigen, wir haben eine neue Zeit vor uns. Hübsche Dotationen haben die Generale bekommen, was? Übrigens, der Kronprinz hat sie nicht angenommen. Wissen Sie, was er gesagt haben soll: es ist traurig genug für die Generale, daß ihnen die Prinzen die höheren Kommanden weggeschnappt haben, er will sie nicht auch noch in dieser Weise verkürzen, und wenn man ihm die Dotation aufzwingt, so wird er sie Blumenthal abtreten. Prinz Friedrich Karl aber hat genommen und war ganz bös, daß man ihn überhaupt gefragt hat, ob er will. Er wird neue Pelze für die Ziethenhusaren machen lassen.«
Die schimmernde Reiterwolke zog vorbei, und Lasker erhob sich. Sein Herz schwoll an, feucht stieg es ihm in die Augen; wäre er dieses hölzernen Schiffes von Schwarzbefrackten Kapitän gewesen, so hätte er jetzt dreimal die Flagge gesenkt. Verklärt starrte er seinen Helden an: »Da reitet er! Wissen Sie, daß ihm der Kaiser hat zum Fürsten ein neues Wappen geben wollen, mit einem Adler darin? Und wissen Sie, was er geantwortet hat? ›Ich möchte nicht, daß mir der Adler meinen Klee frißt‹, hat er gesagt. Hat er gesagt!! Und ist bei seinem Dreiblatt geblieben. In trinitate robur.« Er war voll von Aussprüchen Bismarcks und von Geschichten über ihn. »Kennen Sie die Antwort, die er dem Kellner in Frankfurt gegeben hat? Sagt der Mensch, der ihn von früher her kennt, er hätte den Fürsten in Zivil nicht wiedererkannt. Was sagt Bismarck? ›Ja, das ist den Franzosen ähnlich gegangen. Die haben uns auch erst erkannt, wie wir die Uniform angezogen haben.‹ Was sagen Sie?«
Bennigsen nützte die Fragepause. »Setzen«, schrien hinten einige, deren Ausblick durch Laskers aufgeregtes Gefuchtel geschmälert war. Sanft zog Bennigsen den Parteigenossen auf die Bank. »Wir wissen«, sagte er, »daß Bismarck Ihre unglückliche Liebe ist.«
Ehrliche Kümmernis stieg in Laskers Gesicht, er schluckte an einer kleinen Bitterkeit: »Mein Gott …«, sagte er, und die Worte blieben ihm diesmal aus.
»Er soll Ihnen übrigens gesagt haben, Lasker«, fuhr Bennigsen fort, »er wette, er und Sie würden noch einmal Kollegen werden.«
»Ja, das hat er gesagt«, Laskers Stimme schwankte ein wenig zwischen Glück und Unglück, »aber, was kann das sein als Witz? Wie kann ein Jude sein Kollege werden? Sie, Bennigsen, ja. Aber ich? Wissen Sie auch, was ich ihm geantwortet habe? ›Sollten Durchlaucht die Absicht haben, Rechtsanwalt zu werden?‹ Das hab' ich gesagt. Was soll ich antworten auf einen Witz, als wieder mit einem Witz? Aber Sie, Bennigsen! Sie!! Schauen Sie, er regiert jetzt mit uns. Er braucht die Nationalliberalen. Da vorne Windthorst und die, das sind die Reichsfeinde. Polen, Welfen, Katholiken, alle, denen es nicht paßt, daß Preußen in die Höhe gekommen ist. Die großen katholischen Mächte sind besiegt, Österreich - übrigens, haben Sie gesehen: Gablenz reitet mit? - und jetzt auch Frankreich. Das paßt ihnen nicht, und jetzt führen sie selber Krieg gegen uns. Er braucht uns, Bennigsen, sag' ich Ihnen! Er muß uns haben.«
Mit ruhiger Gelassenheit sah Bennigsen auf seine vornehmen Schreibhände nieder. »Wie lange, Lasker? Wir sind sein Heute, weil wir es sein müssen; wer wird sein Morgen sein? Dieser Mann ist keiner von denen, deren Wesen ein ständiges Handeln erlaubt. Wenn wir ausgespielt haben, wird er uns davonjagen wie Hunde.«
Die Truppen marschierten, ein endloses Gleißen; es war ja keine ernsthafte Ordnung mehr; auf dem stundenlangen Wege hatte sich Bekanntes zu Bekanntem gefunden, Gleiches zu Gleichem, wie die Atome auf ihrem Tanz durch das Weltall das Verwandte anziehen und zu Molekülen zusammenklumpen. Das waren nun freilich höchst unmilitärische Molekülklumpen, der Landwehrmann im wilden Bart, mit dem Kleinsten auf dem einen, der Gattin am anderen Arm und noch sechs Rangen hinterdrein, und der Alte Dessauer im Preußenhimmel schüttelte über dieses Schauspiel den Kopf, als sei es die Einleitung zum Weltuntergang. In dem Durcheinander von Familienglück und Wiedersehen und Freudengewimmel kümmerte sich keiner um den andern und am wenigsten um die unbeweibten und alleingängerischen Unteroffiziere, die händeringend und wetternd der allgemeinen Auflösung zu steuern suchten.
Plötzlich gab es vorn irgend etwas. Die Moleküle hatten sich irgendwie festgekeilt, die Masse war aus trägem Fluß in Erstarrung geraten, die ganze Straßenbreite war angefüllt, und wer keine Turnergeschicklichkeit anwenden konnte, anderen Menschen auf den Schultern oder dem Kopf zu stehen, mußte das Fortkommen aufgeben.
Solange man geritten war, hatte Bismarck seine Unruhe meistern können. Aber dieser plötzliche Halt machte sie so drängend wie einen körperlichen Schmerz. Sie schoß gleichsam über ihn hinaus, wie eine Kraft bei plötzlichem Abbruch der Bewegung sich irgendwie als Fortsetzung äußert. Sengend roch die Lunte an der Pulvermine in seiner Tasche. Da saß der Kaiser auf seinem Roß, und das Volk war durch keine Schutzmannschaft zurückzuhalten, ihm ganz aus der Nähe mit Hüteschwenken und Gebrüll zuzusetzen. Ein schon etwas ermüdetes Lächeln auf dem Gesicht des alten Herrn wehrte ab und sagte sein bescheidenes: Genug, genug! Bitter empfand es Bismarck, daß er dieses rührende Lächeln töten sollte. Er trieb sein Pferd an, zwischen Moltke und Roon, verwundert sah der Kaiser auf den ungestümen Dränger.
Schwer pumpte Bismarck die Worte hoch: »Majestät … eine Meldung ist eingelaufen … die französischen Vorposten vor Paris haben an einzelnen Punkten die Demarkationslinie verlassen und sich unseren Stellungen bis auf wenige Schritte genähert.«
Es war schmerzlich zu sehen, wie das Lächeln zusammenschrumpfte und erlosch. »Was meinen Sie?« fragte der Kaiser nach einer Weile.
Das Bitterste war vorüber. Bismarcks Pferd stieß ein langes Wiehern aus und biß nach dem rehbraunen Hinterbacken von Moltkes Stute. »Schießen!« sagte Bismarck.
Der Kaiser nickte, ein großer Rosenstrauß traf seinen Sattel und fiel zwischen die Hufe der Pferde; der Kaiser grüßte dankend nach dem Wagen, in dem die Schützin aufrecht stand, eine Dame mit einem großen, gelben Strohhut über hellblauem, nach unten verbreitertem Faltengeriesel.
Bismarck hob sich in den Bügeln, in die Menge spähend. »Durchlaucht wünschen?« fragte ein Schutzmann dicht neben dem Kopf des Pferdes.
»Haben Sie Papier und Bleistift?«
Beim saftigsten Fang war das Notizbuch nicht so schnell zur Hand gewesen, ein zackig gerissenes Blatt flatterte hoch. Ein Reitstiefel ist keine gute Unterlage und ein aufgeregter Gaul kein ruhiger Schreibtisch, die Züge von Bismarcks Handschrift verzerrten und verschoben sich und bekamen seltsame Schnörkel. Aber schließlich stand doch fest und klar da, was zu sagen war: »Dem Herrn Kommandanten der Vorpostentruppen vor Paris. Wenn die französischen Vorposten nicht zurückgehen, so greifen Sie an. Depesche an französische Regierung folgt.«
Bismarck sah von seiner Sattelhöhe in das unbewegte Gesicht unter dem Helm. »Können Sie das sogleich in das Auswärtige Amt bringen?«
»Jawoll«, sagte der Mann; das war wie ein Schwur, sich, wenn nötig, durch alle vier Elemente zu schlagen.
Aber es war keine solche Gewaltprobe nötig, denn als hätte alles bis hierher geduldig gewartet, so löste sich in diesem Augenblick der Knoten in dem breiten Menschenband, es hob sich ein neues Rufen und Farbengeflacker, und die ganze Masse setzte sich mit einem Druck von Gigantenkräften in Bewegung.
Durch die gelockerte Mauer wand sich ein Mann und war verschlungen.
Drüben beim Zeughaus stand eine sonderbare Heilige. Sie war eine Französin, aber keineswegs leicht und lustig und flattersinnig, wie die welschen Weibsbilder manchmal sind, sondern gewaltig anzusehen wie ein Ungetüm der Vorzeit; um und um war sie aus blanker Bronze gefügt und reckte aus einem dicken Hinterteil ein sehr in die Länge gezogenes Vorderteil, dessen Inneres mit nachdrücklichen Schraubenzügen wohl versehen war, wie es sich für ein Frauenzimmer schickt, das auf der Welt etwas durchsetzen will. Mit Namen hieß sie Sainte Valérie und war der heiligen Barbara Base, aber zugleich, wie dies schon unter Verwandten zu gehen pflegt, ihre grimmigste Feindin. Auf dem bewußten Mont Baldrian bei Paris hausend, hatte sie vor noch nicht langer Zeit heftig zu den Deutschen hinübergebellt, bis diese des ärgerlichen Keifens satt waren, anrückten, sie mit Seilen fesselten und hinwegführten. Nun stand sie, mit Eichenlaub um die Hüften, vor dem Zeughaus, reckte das mit einem Rosenkränzlein umwundene Maul voll Bitternis zu dem fremden Himmel und tat, als sehe sie von dem ganzen Tausendgetümmel ringsum nicht das mindeste.
Dabei krabbelte ihr das lästige Volk allenthalben um den Leib und, wie es durch Zug und Druck einer lebendigen Masse leicht erklärlich, war einiges von dem Gewürm ihr sogar halbwege das Rohr hinaufgeschoben worden. Da hockten sie nun, ein wenig über den Köpfen der Menge, und quatschten, und weil sie ihr so dicht an den Leib gepflanzt waren, konnte die gefangene Heilige gar nicht anders, als hören, was sie sprachen.
»Bequem ist anders«, sagte einer, der von dem glatten Bronzefleisch immer wieder abzugleiten schien.
»Sie hätten ja drüben auf der Tribüne Ihren Platz haben können«, sagte ein anderer.
»Unter den Profitlern, Blutsaugern und Wucherern, unter der Meute der Kapitalisten, wie ein dressierter Jasager zu alledem. Damit sie lachen können, wir waren dabei und haben so noch nachträglich zu diesem Krieg unser Amen gegeben. Sollen wir sie verherrlichen helfen, diese Banditen und Einbrecher auf Befehl, die auf der Freiheit der Völker herumstampfen. Und dabei für wen? Um die Geschäfte eines Königs zu besorgen, für den der Mensch beim Leutnant anfängt.« Das war für einen Drechsler ein wenig ungefüge und rauh geantwortet, als sei zwischen seinem bossierenden Handwerk und seinem grobianischen Denken ein brückenloser Riß, und ein wenig laut war es dazu und kühn inmitten einer freudebebenden Menschheit.
Der ältere Genosse mit der Sturmmähne und dem stacheligen Bart um das Untergesicht warnte den Fürchtenichts mit einem Blick: »Es ist der letzte Krieg«, sagte er, »es wird anders sein, bis die Wenigen unten und die Vielen oben sind.« Er hatte eine tiefe und schwerflüssig süße Stimme, die wie aus gesponnenem Zucker gemacht war, und sein Blick ging mit tapferer Schwärmerei und einem edeln Eigensinn über die Menge hin, als sähe er wie Moses jenseits der kriegerischen, waffenklirrenden Gegenwart das Land der Verheißung.
»Dazu muß erst alles um und um gedreht werden«, knurrte der dritte, dem über das Kindergesicht ein ganz gefährlicher Räuberhut gepflanzt war, auf daß man sogleich wisse, daß es diesem Gesinnungstüchtigen mit dem Umsturz des Bestehenden voller Ernst sei. Das war Karl Most, und wenn es nach ihm gegangen wäre, so hätte man schon die Linden unterwühlen und mit hunderttausend Tonnen Pulver gegen den Himmel streuen müssen. »Siehst du, August«, fuhr er fort, »da mimt er Reichskanzler. Immer in Geschäften, immer tätig fürs Vaterland, hat nicht einmal im Siegesrummel sein Vergnügen, muß vom Sattel herab die Welt regieren. Alles Schwindel, sag' ich euch, Komödie, Schwindel, Theater für den Bürger in Parkett und Loge. Na, Sie müssen ihn ja kennen, Brand, Sie sind ja sein Jugendgespiele … nicht?«
Karl Brand, der als vierter auf das Hintergestell der Sainte Valérie gedrückt war, sagte langsam: »Ja … aber wir sind etwas weit auseinandergekommen.«
Most schob den breitkrempigen Verwegenheitsfilz mit einem Ruck nach hinten. »Das ist es ja. Der Fluch unserer Gesellschaftsordnung! Ein gutes Beispiel! Wär's anders, so säßen vielleicht Sie dort drüben auf dem Gaul, und er könnte sich hier herumquetschen.« Wie ein hörnertragender, schuppenschwänziger Greif stieg sein dräuender Zorn. »Aber es ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Und manches kommt vielleicht anders, als es sich der und jener denkt.«
Das alles hörte die verschleppte Heilige, und sie freute sich bis tief in ihre stählerne, schraubig geriefte Seele hinein.