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Über den Reichskanzlerpalast in der Wilhelmstraße war das jüngste Gericht hereingebrochen, alle Gräber hatten sich geöffnet, und alle längst vergessenen Dinge waren auferstanden; aus dem Grund der Truhen und Kasten, aus Laden und Schränken quollen sie hervor, um in die Seligkeit des dauernden Ruhestandes auf einem der Bismarckschen Schlösser überführt zu werden. Es war aber keine Zeit, sie nach Böcken und Schafen zu sondern, sie mußten vielmehr Hals über Kopf in die Kisten getan werden, wie sie einem eben in die Hand gerieten, denn man hatte es ungemein eilig, den abgesägten Reichskanzler vor der Tür zu sehen.
Schon saß der neue Mann oben an Bismarcks Schreibtisch, General von Caprivi, schon hatte er die Zügel mit sanfter Ungeduld in die Hand genommen und wünschte, alles möglichst bald in Ordnung gebracht zu sehen, damit der Empfang der Minister und Botschafter ehestens stattfinden könne.
So war Bismarck mit seinen Habseligkeiten auf Flur und Treppe hinausgedrängt worden, wie ein lästiger Mieter, der wegen Zahlungsunfähigkeit ausgewiesen werden muß. Durch das ganze Haus ging ein Dröhnen und Hämmern, ein Schieben von Kisten, ein Stürzen und Poltern, und während noch der Auszug sich immer mehr ins Unlösliche zu verwirren schien, begann bereits der Einzug die Treppen hinan, Ächzen und Befehlsrufe, und die Seile, mit dem die Möbel hinaufgezogen und hinabgelassen wurden, begegneten einander auf den Stufen und knäuelten sich zusammen wie Schlangen, die sich beißen wollen.
Pinnow ging mit einem Farbtopf und einem Pinsel in Händen von einer Kiste zur anderen und murmelte geistesgestört: »Zweihundertsiebzehn … zweihundertneunzehn … zweihundertzwanzig … wo ist zweihundertachtzehn?« Er war Engels Nachfolger geworden, als diesem die Jahre den Rücken krumm und die Hände zitterig zu machen begonnen hatten, und er war kein geringerer Eiferer im Dienste, nur daß ihm nicht die englische Langmut und Überlegenheit in allen Lebenslagen zur Seite standen, sondern daß ihm außerordentliche Ereignisse leicht den Geist verrückten.
Da sich die Kiste zweihundertachtzehn auf dringenden und wiederholten Anruf nicht melden wollte, ging Pinnow zur Verzweiflung über und tauchte in das Geheimkabinett, wo die allerunentbehrlichsten Unentbehrlichkeiten bis zum allerletzten Kistenschluß zurückbehalten wurden, und unter diesen befand sich die Flasche Nordhäuser Korn, die des Allerunentbehrlichsten obersten Gipfel darstellte, weil sie zur öfteren Anfeuchtung des Lebensmutes notwendig war.
»Pinnow!« rief die Stimme der Gräfin Rantzau durch einige halbgeleerte Zimmer. Pinnow hauchte zweimal stark von sich und lief.
»Pinnow, wo ist die große Serpentinvase der Kaiserin von Rußland?« Die Gräfin leitete den Auszug, denn die Fürstin war krank vor Entrüstung und Angst um den Geliebten, ihr Herz schlug dünn und schwach, und es mangelte ihr in der beklommenen Brust an Atem.
»Zweihundertachtzehn«, murmelte Pinnow.
»Schon verpackt?« fragte die Gräfin erleichtert.
»Nein! - Ich weiß es nicht …«, bekannte Pinnow verstört.
»Ach, Sie werden sehen«, klagte die Gräfin, »es wird eine Menge verlorengehen und zerschlagen werden.« Und sie prallten auseinander und liefen jedes nach seiner Seite davon, die Gräfin auf der Suche nach der Serpentinvase, Pinnow auf der Suche nach der Kiste zweihundertachtzehn.
Aus den Kellern stieg ein Poltern in die Oberwelt, als wären der Gott Bacchus und der Zwerg Perkeo ins Raufen gekommen und würfen einander sämtliche Jahrgänge von Anno Orpheus bis Rüdesheimer Auslese 1888 an den Kopf. Der unterweltliche Rumor war aber durchaus friedlich - insofern nämlich diese ganze plötzliche Veranstaltung als eine friedliche zu bezeichnen war - und galt der Bergung köstlichsten Weingutes. Aus den Gewölben tauchte der fürstliche Kellermeister, ein überaus gelehrter Weindoktor, für den die wahre Wissenschaft nur vom Kellerhals abwärts führte, ein Sternkundiger, aber nicht etwa am gestirnten Himmel, sondern an Kognakflaschen.
»Dreizehntausend Flaschen, Pinnow!« sagte er verklärten Gesichtes, »das soll uns einer nachmachen! Was der Neue da drin haben wird, möchte ich sehen: Hungersdorfer Krätzer, Dürrkräutler Ausbruch, Teufelsdrecker Halswürger …« Dionysischer Stolz blähte ihn auf, es war eine alexandrinische Bibliothek von Weinen, die da den Reichskanzlerpalast verließ; und das konnten sie sich nur selbst zuschreiben, daß sie jetzt auswanderte.
Pinnow wollte bezüglich seines Bereiches nicht zurückbleiben: »Ich habe dreihundert Kisten«, sagte er und begann zu stöhnen, denn eben war ihm die verzauberte Nummer zweihundertachtzehn wieder mit voller Wucht auf die Seele gefallen. »Man wirft uns ja hinaus«, schnaufte er plötzlich wutentbrannt, »man wirft uns auf die Straße, man läßt uns nicht einmal Zeit, ordentlich einzupacken.«
Er wich verstummend vom Treppengeländer zurück, über das er mit dem Weindoktor und Keller-Sternkundigen Rede gepflogen hatte, denn eben kam der Fürst aus einem der Zimmer, und es war anzunehmen, daß er fragen würde, woher Pinnow die Zeit zu Lustbarkeiten und Unterhaltungen nehme, wo man doch morgen unter allen Umständen draußen sein mußte.
Bismarck ging aber an Pinnow vorbei und schien ihn überhaupt nicht zu sehen. Vom frühen Morgen an wanderte der Fürst durch den Zusammenbruch und das Bersten seiner Welt, als der überflüssigste aller Menschen, seit Tagen schon, denn er, der gewohnt war, jede Stunde bis an den Rand mit Arbeit zu füllen, stand urplötzlich mit leeren Händen und ruhendem Gehirn. Ringsum war das Krachen und Dröhnen seiner einstürzenden Lebenskreise, das Getöse einer untergehenden Vergangenheit, Donner hereinbrechender Sintfluten, mit Kisten und Geräten als Wrackstücken und Strandgut auf den Wogen, aber ohne Arche Noäh, ohne Regenbogen und Taube mit dem Ölzweig. Er sah das Unterste zuoberst gekehrt, wunderte sich bisweilen im Vorüberkommen, was da aufgewühlt zum Vorschein geriet; er wechselte aus dem neptunischen Gleichnis bisweilen in ein plutonisches, denn es war ebensogut auch ein Erdbeben, bei dem die Rinde bis zum Abgründigen hin von Spalten zerschlissen war, so daß man sehen konnte, wie die Kruste, auf der man gestanden hatte, im Laufe der Zeiten langsam gebildet worden war.
Nicht unbewacht wanderte er durch die Räume, die sich allmählich mit immer mehr fremden Dingen anzufüllen begannen, er sah die besorgten Mienen der Seinen an seinem ratlosen Weg, er begegnete den Angstaugen Johannas und ihrem fragenden Händedruck: Wie ist dir, Liebster? Was denkst du, Liebster? Warum verblutest du so nach innen? Ach, er dachte gar nichts, er dachte wirklich nichts, er hätte niemandem darüber Rechenschaft geben können, es war nur ein Trieb, umherzugehen und zu sehen, wie die Sphären einstürzten und das Chaos dunkel anschwoll. Am ehesten hätte er vielleicht sagen können, daß er dachte: »Wo ist denn nur all dieser alte Kram verborgen gewesen? Wo haben alle diese Dinge die Jahre über gesteckt?« Da waren die bekanntesten: der Hirsch und das Wildschwein aus Gußeisen, die auf dem Sekretär gestanden hatten. - Da war ein Stück des ungeheuren Zinklöwen vom Flensburger Friedhof, der bis 1864 als dänisches Siegesdenkmal dagestanden hatte und dann ein Stück zu einem Briefbeschwerer für Bismarck hatte hergeben müssen. - Da war eine runde Scheibe, die von einer 1866 erbeuteten Kanone stammte. - Da war Bazaines Schreibzeug und ein anderes aus schwarzem Stein, das ihm sein alter Herr einmal in schwerer Krankheit geschenkt hatte. - Da war das Petschaft eines französischen Ingenieurkommandos. - Und da war ja auch der Tisch, der einst im Hause der Madame Jessé gestanden hatte, ein Mahagonitischlein mit vier Beinen und einer Platte wie jeder andere Tisch auch: aber es war ihm eine Inschrift auf Metall eingesenkt worden, die erzählte: »Auf diesem Tisch ist der Präliminarfriede zwischen Deutschland und Frankreich am 26. Februar 1871 zu Versailles, Rue de Provence Nr. 14, unterzeichnet worden.«
Neben diesen alle Tage gesehenen und benützten Dingen aber wie viele vergessene aus dem Schutt der Jahre! Wie dann alle aber mehr und mehr wieder in die Kisten verstaut wurden und unter den zugenagelten Deckeln verschwanden, da blieb ihm nur noch ein einziger, dumpf im Leeren rasselnder Gedanke: Kehraus! Feierabend! und der war nicht einmal irgendwie peinlich, denn umgewendet sah er aus wie Abendröte über dem Sachsenwald und ließ sich auch so aussprechen: Gottlob, ich bin aus allem heraus.
Und da war wieder die Fürstin an seinem Weg, mit einem Strauß wundervoller Rosen, die waren, als könnten sie den tiefsten Schmerz überblühen und überduften. »Die Fürstin Odescalchi ist hier gewesen«, sagte sie, innig an seinem Arm, »sie hat dir Rosen gebracht. Sie hat sehr geweint, aber sie hat sich geweigert, dich zu sehen und zu sprechen. Sie ist zu erregt, hat sie gesagt. Aber ich glaube«, fügte sie mit einem rührenden Versuch zu scherzen hinzu, »es ist bloß deshalb, weil sie vom Weinen eine rote Nase hat.«
Bismarck sah auf das leuchtende Blumenglühen in seiner Hand herab und löste drei rote langstielige Rosen aus dem Gebinde, die er nachdenklich schwanken und wiegen ließ. »Er sitzt schon oben an meinem Schreibtisch fest, Johanna«, sagte er, »er klebt an ihm. Ich habe ihm angeboten, ihn in die Geschäfte einzuführen, aber er hat es dankend abgelehnt. Er will alles von Grund auf anders machen.«
Da war es, als sei in die sanfte, kleine, hagere Frau plötzlich ein grimmer Zornteufel eingefahren, so ein richtiger springgiftiger, wutschnäuziger, fäusteballender Püsterich: »Ach, laß du sie machen, was sie wollen! Sie sollen sehen, wie sie ohne dich fertig werden. Sie sollen nur ihre Dummheiten machen, aber sie sollen dann auch nur auslöffeln, was sie eingebrockt haben.« Solchen stürmischen Wallungen war aber ihr krankes Herz nicht gewachsen, der Atem blieb ihr aus, sie verstummte und rang um Luft, einen halben Schritt hinter Bismarck, damit er von ihrer Qual nichts merke.
Pinnow schob glückstrahlend um eine Ecke: »Zweihundertachtzehn gibt es nicht, Durchlaucht, es gibt überhaupt kein zweihundertachtzehn. Ich habe die Nummer übersprungen.«
»Wie?« fragte der Fürst, und die drei roten Rosen nickten in seiner Hand.
Es war aber gar nicht das, was Pinnow hatte melden wollen, sondern die Freudennachricht war nur so aus ihm herausgesprungen, wie der reife Samen aus dem Storchschnabel, und nun kam er über allerlei Brücken von nämlich und außerdem zu dem Eigentlichen, daß der Wagen unten bereit stehe.
»Du willst ausfahren?« fragte Johanna besorgt.
Vor wieviel Jahrzehnten war der Wagen bestellt worden? Bismarck entsann sich des Befehles, wie aus einer weit zurückliegenden Zeit »Ich will einen Besuch machen«, sagte er, und als Johanna sich wieder bittend an sein Herz drängen wollte, löste er sich sachte von ihr: »Nein, allein! …«
Der Märzmorgen hatte einen Himmel wie aus feuchten Tüchern, Frühlingswäsche war über der Stadt ausgehangen, und bisweilen tröpfelte es aus dem nassen Leinen auf die schwarzen Dächer herab. Im Tiergarten hob sich keckes Grün an den Wegrändern aus welkem Laub; lufthungerige Menschen saßen auf den Bänken; da der Schwärmerei in Berlin aber immer die Lebensklugheit beigestellt bleibt, hatten sie Zeitungsblätter unter die Hosenböden und die Faltenröcke gebreitet. Die Viktoria auf der Siegessäule hob ihren Kranz höher als sonst empor, die Schutzleute hatten weiße Handschuhe an und trugen die Hände auf dem Rücken. Bismarck sah dies alles durch die herabgelassenen Fenster seines Wagens; er wollte nicht gesehen und erkannt sein, aber die Stadt kannte seinen Wagen, die Menschen zogen ernst die Hüte, die Schutzleute holten die Hände rasch vom Rücken vor und grüßten, als wäre man noch immer Kanzler und … neigte sich die Viktoria jetzt wirklich mit einem Lächeln von ihrem hohen Stand herab, senkte sie wirklich ihren Kranz?
Drei rote Rosen lagen vor Bismarck auf dem blauen Tuch des Sitzes.
Eine lange Fahrt nach Charlottenburg hinaus … wie hatte sich dieses Berlin gedehnt und war gewachsen von Plamanns Tagen bis heute. Sehr deutlich war plötzlich das Bild des Plamannschen Mosaikhundes im Hausflur mit der klassischen Warnung: Cave canem, und dieser Geschmack von eingebrannter Bitternis mit Salz und Zwiebeln - war das die schwarze Suppe der Frau Adelheid Trh aus Leitomischl in Böhmen, jener prophetischen Suppe aus Jugendtagen, die dann am Tisch des Lebens bei keiner Mahlzeit gefehlt hatte?
Der Wagen hielt, durch die Orangerie und die Tannenallee schritt der Fürst zur Gruft der Hohenzollern, an dem barhäuptigen Beschließer vorbei trat er in das Innere. Im Gemäuer hockte Winterkälte und strömte über die Grüfte hin, daß alle Steine und Grabgestalten vom Frost gehärtet und mitleidloser als sonst schienen. Schönheit, Güte, Strenge, Macht und Ruhm waren hier wesensgleich geworden, unter der Erde im Vergehen der irdischen Erscheinung und über der Erde in der Versteinerung und im langsamen Absterben des Gedächtnisses.
Die letzte Gruft barg Bismarcks alten Herrn, denn Deutschlands zweiter Kaiser hatte an anderem Ort die Ruhe gefunden. Fahl lag der Stein, ein wuchtiges Tor der Ewigkeit.
Die Mütze zitterte in Bismarcks Hand, drei rote Rosen nickten über ihren Rand.
»Verklärter, du!« dachte er, »siehst du mich? Nimm die Schlacken von mir, lösche den Schmerz. Ich zittere für unser Werk, breite du deine Hände darüber, da mir die meinen lahm geschlagen sind.« Er versank in die Regungslosigkeit einer vollkommenen Trauer, dem Abgrund und dem Nichts nahe verwandt. Es war ihm, als hinge er, aller Gestalt beraubt, über einer Tiefe, in der nur ein unerklärlich dunkles Rauschen war. Die Kälte und das Gefühl der Versteinerung durchdrangen ihn, das helle Leben war unbegreiflich fern.
»Vollendung«, dachte er, »wer ist vollendet? Vollendung ist nur hinter jener Tür, durch die du bereits eingetreten bist.«
Regte sich das umschlungene Schwesternpaar? War die Liebe das einzige Trotzdem, das Frost und Stein und Tod überwindet?
»Ich bin gekommen, um Abschied zu nehmen!« sagte Bismarck.
Drei rote Rosen schmiegten sich erschauernd an den kalten Stein.