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Der kleine rundliche Herr schnellte auf und schwang sein strammes Bäuchlein um den Tisch: »Köstlich … köstlich … nein, wirklich, dolle Sache … Kerl verlangt allen Ernstes, Durchlaucht sollen goldene Uhr auslösen, die er versetzt hat? Auf welche Einfälle die Leute doch kommen … fabuleske Einfälle.«
»Der Pfandschein liegt bei … zu meiner gefälligen Bedienung … er macht's mir wenigstens bequem«, sagte der Fürst, indem er dem Brief das schmutzige Zettelchen entnahm.
»Nein, wirklich? Darf man sehen?« krähte der rundliche Herr. »Wahrhaftig, richtigjehender Pfandschein. Kommt wohl öfter vor, wie? was? Belästigungen … sind sozusachen Unkraut auf dem Beet der Berühmtheit, was? Nicht? Kann man doch sagen …?« Er wandte sich mit seinen Fragen an Schweninger, aber der hauchte eine solch schwarze Kälte von sich, daß sich der Professor zurückzog.
»Muß doch auch irgendwie begründen? Nicht?« wandte er sich wieder an den Fürsten, »kann doch nicht so mirnixdirnix, wie Bundesbruder saacht, Pfandschein schicken: ›Da lösen Sie mir mal den Chronometer ein?‹«
»Er meint«, sagte der Fürst sanftmütig, »er hätte vor zwei Jahren, an meinem achtzigsten Geburtstag, an so viel Festen teilnehmen müssen, daß er sich bisher noch nicht hätte wieder erholen können. Das ist doch wenigstens eine Begründung.« Bismarck hatte schon wieder einen anderen Brief von umfänglicher Gestalt geöffnet und betrachtete ein Bild, das ihm beigelegen hatte. Eine schwärzliche Dame, aus der Verwandtschaft der sieben mageren Jahre Ägyptens, saß inmitten ihrer sieben Söhne, von denen der älteste in Freiwilligenuniform den Arm hinter ihr auf die Stuhllehne gelehnt hatte, während der jüngste auf ihrem Schoß saß. Die mittleren waren nach dem Geschmack der Kundschaft mit anderen beliebten Haltungen beteilt.
»Frau Pastor Graßling findet es für nötig, mir ihren Familiensegen vorzuführen. Es ist allerdings erstaunlich: eine so dürre Scholle und solche Fruchtbarkeit.«
»Was will die Frau, Durchlaucht?« verwunderte sich der Professor Hahnenkamp-Diestelweg, »sollen Durchlaucht Patenschaft übernehmen? Wie? Mein Gott, Familienstolz, ja, ganz begreiflich, sieben Bengels … na du meine Jüte … aber wenn alle Mütter mit sieben Söhnen Durchlaucht Photographien einsenden wollten, dann müßten Durchlaucht eigens neuen Flügel anbauen lassen, nich? Wie?« Er schmetterte sein Wie der Gräfin Rantzau an den Kopf, aber die erhob sich im selben Augenblick und ging mit Hausfraueneile hinaus.
Inzwischen war der Fürst in seinen Briefhaufen tiefer eingedrungen und lachte in einen Bogen hinein, der oben einen großen Firmenaufdruck trug. Darunter war die Abbildung einer Fabrik mit vielen rauchenden Schornsteinen und je einem ganzen Kranz von Ausstellungsmedaillen links und rechts. »Da haben wir's«, sagte Bismarck; »nun kriegen wir auch noch einen Bismarckhering zu dem Bismarcktuch, dem Bismarckkragen, dem Bismarckhut, der Bismarckzigarre und den zweihundertsiebzehn anderen Dingen, die meinen Namen eitel nennen.«
»Ist's möglich?« Der Professor preßte seinen Bauch gegen die Tischkante und reckte sich so sehr, daß die Beine hinten den Fußboden verließen und er auf den Zehenspitzen schweben blieb wie irgendeine Viktoria oder sonstige Flügelgöttin: »So 'ne Post bringt Ihnen doch immer Überraschungen! Durchlaucht haben morgens sozusaachen jedesmal ein kleines Museum menschlicher Schwächen auf dem Frühstückstisch liegen, wie? Nich? Mit immer neuen Nummern, was? Praktische Psychologie … Anthroposophie, haha … ungemein belehrend.«
Pinnow war aufgetreten und begann den Frühstückstisch abzuräumen. Bei seinem Rundblick traf Professor Hahnenkamp-Diestelweg auf ein düsterdrohendes Wettergesicht, das gehörte Schweninger an und war so schrecklich, daß der Professor seinen Bauch sogleich um fünfundvierzig Grad weiterschwang, bis er auf Graf Herbert traf. »Menschenkunde«, krähte er in der neuen Richtung, »interessantestes Studium? Nich? Grundlegend für alle Fächer der Wissenschaft. Meine Bücher sind allesamt, ohne Ausnahme, auf Menschenkunde begründet. Können Sie sich vorstellen: Historiker ohne Analyse des menschlichen Herzens? Mein Verleger saacht immer: ›Menschenskind, wo nehmen Sie bloß diese wunderbaren Analysen her?‹ Sehr einfach, saach ich dann, man muß eben in die Seelen eindringen, nich wahr? Nich so oben rum, sondern mittenrin in die psychologische Chose.«
Bismarck sah von einem Telegramm auf, das sich unter das wieder dringende Briefzeug verkrochen hatte: »Hören Sie, Schweninger, was sagen Sie dazu? Ein Mister Mac Kennan drahtet mir aus Philadelphia, ich solle ihm meine Meinung über den kubanischen Krieg sagen. Mit bezahlter Rückantwort.«
»Man sollte solchen unnützen Fragern Pechpflaster auf die Mäuler pappen dürfen oder Papagenoschlösser vorhängen.« Das war mit einem dreimal geschwefelten Ingrimmsblick auf den rundlichen Professor begleitet.
Aber der schwang unverwundbar sein Bäuchlein: »Find' ich nich! Find' ich jar nich! Welt hat ein Recht darauf, zu wissen, was Fürst Bismarck denkt. Alle griechische Kultur bestand hauptsächlich aus Fragen. Beim pythischen Orakel in Delphi natürlich! Gott Apollo ließ sich interviewen und leitete griechische Politik. Ganz wie Fürst Bismarck deutsche Politik leitet. Muß man sich klar machen. Übrigens neuestens doch wieder bedeutsame Annäherung von S. M. an Durchlaucht festzustellen, alle Differenzen ausgeglichen. Nich?« Das Bäuchlein drehte sich im Kreise von einem zum anderen. »Kurs war ja bis in jüngste Zeit noch immer sehr schwankend. Zum Beispiel hat es allgemeines Mißfallen erregt, daß Durchlaucht zur Eröffnung von Nordostseekanal nicht einmal eingeladen wurden. Wo doch Durchlaucht Anreger gewesen sind und am Zustandekommen größtes Verdienst haben.« Der Bauch wanderte weiter von Herbert fort und machte vor dem Fürsten halt: »Deutschland ist glücklich, seinen Kaiser und den Kanzler, den Kanzler saach ich, wieder Hand in Hand zu sehen. Werden Sie noch einmal das Steuer ergreifen, Durchlaucht?« fragte er plötzlich geradeswegs wie aus der Pistole heraus.
Der Fürst legte die letzten Briefe und die Pfeife weg und sah den Professor sanft an: »Fragen ist schon recht. Aber Fragen und Brunnenbohren ist zweierlei. Und auf die Pythia und Apoll dürfen Sie sich nicht berufen, Professor, ich glaube kaum, daß die jemals so - ungeschickt gefragt worden sind.«
Durch das Wettergesicht Schweningers platzte der Blitz eines Lachens und leuchtete auf den Mienen Herberts, des Grafen Rantzau und Mariens, die eben eingetreten war, als Schmunzeln weiter.
»Meinen, Durchlaucht? Meinen? So! Na ja … obzwar: vielleicht sind uns bloß die geschickten Fragen erhalten geblieben.« Der Finger fuhr in den Hals und weitete den engen Kragen, die schwarze Bartfliege am Kinn zitterte ein wenig; aber gleich schwang das Bäuchlein zur Gräfin Marie weiter: »Gnädigste Frau Gräfin sind ja äußerst musikalisch. Künstlerin auf dem Klavier, wie man weiß. Vielleicht darf ich mir erlauben, ich habe gewisse Erfolge in geselligen Kreisen aufzuweisen … man saacht mir nach, mein Bariton könne sich hören lassen … vielleicht, wenn es beliebt, wollen mich gnädigste Frau Gräfin zu einigen Liedern begleiten.«
»Ich muß Sie um Entschuldigung bitten«, sagte die Gräfin, schon wieder auf der Flucht, »meine Zeit … seit dem Tode der Mutter stehe ich dem Hause vor, vielleicht später … am Abend.«
Der Fürst hatte sich erhoben.
»Durchlaucht wollen spazierengehen?« sprang der Professor in die Gelegenheit, »vielleicht darf ich mir erlauben.« Schweninger dolchte wütend in der Gallertenhaftigkeit des Zählebigen herum: »Nein«, brummte er, »Durchlaucht wünschen allein zu sein.«
Der Fürst war gerettet, aber nun hing an Schweninger selbst das ganze Gewicht des unermüdlichen Professors, und als er in den Park ging, hatte er ihn zur Seite, und wenn er seine Schritte recht groß nahm, so beschleunigte der Analytiker seine kurzen, und es kam auf dasselbe heraus. Seit Tagen hatte man diesen Gast im Hause, er war mit einer Empfehlung gekommen, und nun sah man über jedem Wort und jeder Bemerkung sogleich dieses greuliche Fragegespenst aufsteigen wie einen Papierdrachen, und jeder Schnitzel im Schweif war ein Wie? ein Was? und ein Nich-wahr? Jetzt hing der Professor gar an Schweningers Arm und bremste, und vor einem Sandsteinblock am Wege nach der Bahnhaltestelle verankerte er sich schnaufend.
»Das ist wohl der berühmte Block aus dem Teutoburger Wald?« keuchte er, »von der Grotenburg, wo die Hermannschlacht gewesen ist? Nich? Ja … sehr sinnig, wie? Denn auch Bismarck ist ein Befreier gewesen, ganz richtig!« Er hatte nun wieder ein wenig Atemwind, und sogleich stieg der Papierdrache höher: »Hören Sie, Professor! Sie müssen mir einiges über den Fürsten erzählen, Sie sind ja seit Jahren mit ihm zusammen.« Er zog nach einer Bank hin, und aus seiner Tasche stiegen ein Lederbüchlein und ein Bleistift. »Wie lebt der Fürst? Wie spricht er im engsten Kreise über den Kaiser? Er wird sich natürlich vor einem Fremden nicht so aussprechen wie vor seinen Hausgenossen. Was halten Sie von Bismarcks Gesundheit? Wieviel Jahre geben Sie ihm noch?«
Unheilvoll stemmte jetzt Schweninger seinerseits eine Frage entgegen: »Sagen Sie mir erst einmal, wozu wollen Sie das alles wissen?«
Der Professor rückte seinen Bauch vertraulich heran: »Wozu? Im Vertrauen, Herr Professor! Jedem Leben sind doch Grenzen gesetzt, nich? Das weiß ein Arzt am besten, wie? Nu, sehen Sie … ich bin von einer großen Zeitung beauftragt, den Nekrolog über Bismarck vorzubereiten …«
Er erschrak, halb vom Sitz geschleudert durch den Ruck, mit dem Schweninger seinen Arm losriß. »Lassen S' mich in Ruh'«, schrie er mit einem Gesicht wie Gottes Zorn in Oberbayern, »lebt er euch zu lang? Könnt's ihr's net erwarten, Zeilen aus seinem Tod zu schinden? Wo wart's ihr denn, wie er der Eckstein für alle Köter von Deutschland war? Da hat sich ka Feder gerührt, außer, wenn sie Gift und Gall' g'spritzt hat. Ah … wenn der Himmel ein Einsehen hätt', wenn der Himmel ein Einsehen hätt' …« und der Doktor entschwand mit einer flatternden Gebärde, die sich zwischen Racheblitz und Ohrfeige hielt, ohne genauer anzudeuten, was der Himmel eigentlich tun sollte, wenn er ein Einsehen hätte. Er entschwand mit wehenden Rockschößen hinter dem Sandsteinblock aus dem Teutoburger Wald und ließ den Frager in einem selbst höchst fragwürdigen Zustand auf der Bank zurück.
Indessen war Bismarck einsam durch den Wald gegangen, seine geheimen Pfade, auf denen ihm niemand auflauerte. Einmal sah er eine helle Frauenbluse durch schwarzgrüne Stämme. Eine Radfahrerin stand dort im Hinterhalt, das Rad war an eine Buche gelehnt, sie sah krampfhaft nach der anderen Seite in die hellgrüne Aue hinein und wartete auf die Begegnung, um über die Anekdotenhintertreppe in die Bismarckschen Lebensbeschreibungen zu kommen. Es gab genug Ehrgeizige dieser Art, und ein Stück weiter standen wieder zwei von ihnen; gleich zwei, mit verwegenen Strohhüten und Skizzenbüchern unter dem Arm. Aber auch sie waren ausschließlich nach dem Flußweg gespannt, und inzwischen zog Bismarck hinter ihnen vorbei und schlug sich noch tiefer in seinen Wald.
Er hielt die Hände auf dem Rücken, blieb manchmal stehen, um den Bäumen ins Gesicht oder zwischen ihnen hindurch in den Himmel zu sehen. Eine Wiese lag in der Waldumarmung, voll verliebter, sonniger Zärtlichkeit, Bienen läuteten darüber hin. »Es ist bitter, von alledem Abschied zu nehmen«, dachte Bismarck, »es kommt eine Zeit, wo das Hinlegen auch nichts mehr hilft und die Erdströme einen nicht mehr auf die Beine bringen.«
Schilf schwankte um seine Füße, und unter seinen Tritten blieben Löcher im Boden, die sich mit Moorwasser füllten. Wildenten mit schreiend bunten Köpfen und metallisch angelaufenen Flügeln tauchten im Rohr, weiter draußen bog ein Schwan den Hals und segelte in dummstolzer Einbildung über sein Spiegelbild dahin, etwas Schwarzes plätscherte neben Bismarck, eine spitze Schnauze, listige Glanzaugen - eine Wasserratte. »Man glaubt, die Welt muß aus den Fugen gehen, wenn man nicht mehr selbst Ordnung macht … Und schließlich kommt ein anderer und macht's ebenso gut und ebenso schlecht, wie man es selbst getroffen hat.« Die schwarze Rattenschnauze schwamm an der Spitze eines Wasserkegels, der, vorn scharf gegrenzt, mit seinem breiten Ende sänftiglich im Röhricht verplätscherte. »Ordnung?« sann Bismarck weiter in sich und die Welt hinein. »Als ob jemals irgend jemand eine vernünftige Ordnung zusammenbrächte, die alle Teile befriedigt. Da haben wir auf diesem Teich die Schwäne, die sich aufspielen, als seien sie das Vorbild alles Edelmutes und aller adeligen Gesinnung der Schöpfung; dabei sind sie eine streitsüchtige Bande und haben es scharf auf die kleinen, bunten, lustigen Enten. Nach der Schwanenordnung müßte es ihnen erlaubt sein, die Enten und ihre Jungen aufzufressen. Nach der Rattenordnung aber sind die Eier und die jungen Schwäne sowie die jungen Enten nur für die Ratten da. Wer will all diese Ansprüche und Ansichten überein bringen …? Wie soll man es machen, daß alle zufrieden sind, besonders die Ratten?«
Trotz dieser allgemeinen Moritatenstimmung der Natur waren Himmel und Erde heute inniger ineinander verliebt als sonst. Der Schatten, den Bismarck warf, schmiegte sich vertraulicher als sonst neben oder hinter ihm an den Boden und glitt sachter über Gras oder Sand hinweg. Ein kupferfarbener Laufkäfer hastete vor Bismarcks Fuß seinem räuberischen Handwerk nach und war dabei so schön wie ein kleiner, krabbelnder Funkelstein. Durch jugendlich grünes Gestrüpp sah Bismarck hohe braune Dächer. Das Kirchdorf Brunstorf lag in der Sonne und teilte den Glanz mit spitzen Giebeln, über deren Schrägen ein glitzerndes Lichtgeriesel rann. Die geschnitzten Pferdeköpfe bliesen ein Wiehern von sich. Langsam kam Bismarck den Sandweg entlang, er verspürte den Gang im kranken Bein. »Mit dem Reiten ist's nun schon lange nichts mehr … das Pferd spürt meine Schenkel nicht! Es scheint, nun soll auch das Gehen eingestellt werden. Der Rollstuhl wartet schon auf mich.«
Ganz einsam lag das Dorf, ein gelber Köter schlief auf einer Steinschwelle, ein Kind grub neben ihm ganz spielversunken im Sand. Durch die offenen Fenster der Schule plapperten fünfzig Bubenmäuler im Fibeltakt:
»Wem - Gott - will - rech-te - Gunst er-wei-sen,
Den - schickt - er - in - die - wei-te - Welt.«
Eins, zwei, wie im Marschschritt.
Hinter der offenen Kirchentür lockte kühle Dämmerung, wohlanständig braungerieben glänzten die frommen Beterbänke mit kleinen Spiegeleien von Fensterlicht. Mit abgezogenem Hut war Bismarck nach vorn gekommen, wo neben dem Altar die Marmortafel eingelassen war. Um die Goldbuchstaben wand sich Geschnörkel, und die vornehmeren von ihnen waren zu ganzen phantastischen Bäumchen ausgewachsen. »Edle Saat zu himmlischer Freude«, las Bismarck, wie schon so oft: »Friedrich Karl August Graf und edler Herr zu Lippe, geb. 20. Januar 1706, gest. 31. Juli 1781, alt 75 Jahr 6 Monat 12 Tag.«
Durch eine zerschlagene Fensterscheibe drang Vogelgeschmetter. Draußen auf dem Birnbaum wippte ein kleines Stück Sangesglück und Gotteslächeln, und es war, als wollte es hier auf der Stelle vor Lust sein Leben lassen.
»Die weite Welt …«, dachte Bismarck, »die weite Welt!«
»Hier unter dem ernsten und stillen Volk der alten Sachsen«, las der Fürst die Marmorinschrift weiter, »schläft ein Ritter von deutscher Vaterlandssitte, treu und wahrhaft. Reif zur Vollendung durch unvergängliche Saat, ging er ein als Freund Gottes und der Menschen zur ewigen Heimat. Tausende von Armen setzen klagend ihm Zypressen, kindliche Liebe den Marmor.«
Die Inschrift galt dem Gründer von Friedrichsruh, und man sagte, daß die Worte von Klopstock verfaßt seien. Das alte Jagdhaus Friedrichsruh war spurlos vergangen, aber sein Name und diese Inschrift waren geblieben.
Aus überschauernder Kühle trat Bismarck wieder auf die Dorfstraße, die leer war wie vorhin; noch immer spielte das Kind neben dem schlafenden Hund, auf einem Zaun jubelte ein Vogel in schwärzlichem und gelbem Gefieder. Er hob sich vor Bismarck in die Luft und flog waldwärts, mit einem Wirbel von Klang und Getriller hinter sich. Unangefochten kam Bismarck aus dem Dorf; es war, als hätten heute alle Menschen die Welt verlassen, seltsam still rann die Sonne auf die Felder. Die Zeit wich zeichenlos, nur der Raum wirkte auf den schweren und schmerzhaften Klumpen des kranken Beines.
Am Weg nach Friedrichsruh wuchtete ein uraltes Grab. Auf Steinplatten im Hügelrund lag ein gewaltiger Granit über der Totenkammer, und rundum im langgestreckten Kreise waren hohe Steine aufgerichtet, Wächter aus Granit um die toten Helden und Fürsten der Vorzeit. Das Riesenbett nannten es die Urenkel der Hünen im Sachsenwald. Bismarck verließ den Weg, betrat zwischen zwei ragenden Steinen den heiligen Grund und stand vor dem Grab.
Ein kleiner Schatten überflog ihn, ein Vogel wippte auf dem lastenden Granitdeckel und sang. Das zarte Federding belebte den ganzen ungeheuren Stein, eine einzige Stimme der Sehnsucht und der Zuversicht besiegte die Starrheit, keine Düsterkeit war mehr um Tod und Vergessenheit.
»Wer bist du, Vöglein?« staunte Bismarck, »bist du das verflogene Zeisiglein aus meinem Park? Hast du dir aus der Himmelshöhe Kraft geholt? Singst du Leichtsinn oder tiefes Wissen?«
Der Vogel saß vor Bismarck und sang unentwegt sein helles Sommerlied.
»Nackt und bloß und hilflos lagst du in meiner Hand: nun bist du stärker als ich, du hast mich überwunden.«
Tänzelnd und mit wippendem Schweif machte das Vöglein einige Schritte über den Granit.
»Ich möchte im Sachsenwald begraben sein«, sagte Bismarck.
»Sachsenwald! Sachsenwald!« klang der Vogelsang.
»Gib Antwort! ›Ein Ritter von deutscher Vaterlandssitte‹ steht auf dem Marmorstein. Ist das auch mein Ehrentitel?«
»O Bäume! O Sonne!« sang der Vogel.
»›Freund Gottes und der Menschen‹ steht auf dem Marmorstein. Was soll auf meinem zu lesen sein?«
»Die Bäume wissen es«, sang der Vogel.
»Meine Ehre war, ein treuer deutscher Diener meines Herrn zu sein. Das soll auf meinem Grab stehen.«
Der Vogel schwang die Flügel, flog auf und war ein kleines Stücklein weiter, im Lindengeäst. Bismarck verließ den Steinkreis und folgte ihm. »Was singst du von der ewigen Heimat?«
»Sternenwiesen und Sonnenwein! Ewiger Sommer und Liebe! Seliges Verstehen und Glück des Eins!«
»So wird die ewige Heimat sein! Was soll ich noch? Meine Tage sind ohne Sein und Zweck … Becher, die nichts mehr fassen. Meine Arbeit ist getan, die Welt rollt weiter, die Kinder gehen eigene Wege, die Freunde tot. Und sie? … Und sie? … Und sie!?«
»Sie ist da! Sie ist da!« jubelte der Vogel und schwang sich zur Buche am Waldrand.
Bismarck folgte ihm mit einem törichten Glücksempfinden, das plötzlich aus Tiefen aufbrach. »Johanna? Ist sie da?«
Der Vogel war schon weiter, im Fichtengeäst, und Bismarck mit vorgestreckten Händen, geblendet von einer Fülle von Glück und Licht, hinter ihm her: »Die Welt ist Liebe! Der Tod ist ein Traum! Sie ist da!«
»Ich bin nichts ohne sie. Ein wenig Pflicht, ein wenig Gewohnheit, ein wenig Licht. Ist sie da?«
»Liebe ist Ewigkeit«, jauchzte der Vogel aus dem hellgrünen Lärchenwipfel, »ewige Heimat ist in der Liebe!«
Bismarck stand vor dem Baum, seine Arme waren ausgebreitet: »Nicht einsam mehr! Nicht einsam mehr!«
»Alles ist eines«, klang der Lärchenwipfel wunderselig.
»Bist du das Vöglein des Mönches von Heisterbach? Nicht falschverstandener Führer über Jahrhunderte hin in Fremdheit und Verfall, sondern in Gewesenes und Vertrautes zurück? Rundet sich das Leben zum Kreise? Kommt wieder, was war, in tausend neuen Geburten?«
Das Vöglein gab keine Antwort, mit einem letzten kleinen Glücksschrei warf es sich empor und zerfloß im Flimmern der Luft über den Bäumen, im heißen Lichtgezitter des Mittags.
Jenseits der sonnenhellen Wiese sah Bismarck die Parkseite seines Hauses. Betäubt schritt er die Treppe empor, es war ihm, als müsse ihm Johanna entgegentreten, verjüngt und voll von Jubel, wie er selber war. Die Rantzaububen spielten auf der Terrasse, Frau Marie war über die laute Gesellschaft gebeugt. Nun erhob sie sich, und Bismarck sah in ihr gutes Gesicht, das voll sanft hausmütterlichen Vorwurfes war: »Kommst du endlich, Vater? Das war ein langer Spaziergang!«
Bismarck deckte die Hand über die Augen: ein langer Spaziergang; aber das Vöglein von Heisterbach hatte doch nicht in die Vergangenheit zurückgesungen, und es hieß noch ein wenig warten, aber nicht lange mehr, nicht lange mehr.