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In den letzten Märztagen des Jahres 1895 erlebte Frau Thusnelda, geborene Strahofer, seit mehreren Jahrzehnten Gattin des Advokaten und Gemeinderates Josef Rohregger in Mürzzuschlag in Steiermark, eine Überraschung, durch welche die in diesen Jahrzehnten eingeführte und erprobte gemeinschaftliche Lebens- und Eheordnung gänzlich auf den Kopf gestellt zu werden drohte, und zwar einfach durch die antipodische Tatsache, daß sich Herr Josef Rohregger auf die Füße stellte.

Das Staunen riß ihr die Augen auf und den Kochlöffel beinahe aus der Hand, als Herr Rohregger in die Küche kam und nach einigem einleitenden und lobpreisenden Herumschnüffeln mit verdächtiger Beiläufigkeit äußerte, es möchten ihm die guten Hemden ehestens aus der Wäsche gehoben werden, da er zu verreisen beabsichtige. Im ersten Augenblick verfiel Frau Thusnelda natürlich auf Wien, und da die letzte, durch einen Geschäftsvorwand vorbereitete, babylonische Sündenfahrt kurzerhand durch einen Gegenangriff abgeschlagen worden war, glaubte Frau Thusnelda, auch diesmal wieder die wilden Johannistriebe durch kaltes Blut und scharfes Eisen abschneiden zu können. »Das gibt's nicht«, sagte sie schlagfertig, mit jenem Blick, der Armeen je nachdem aus der Erde stampfte oder vernichtete, und fügte bei, so ein alter Esel könne endlich seinen Lebensabend geruhsam zwischen seinen vier Wänden ohne weitere Dummheiten verbringen. Sie mußte jedoch erfahren, daß der Besitz eines guten Gewissens unzweifelhaft nicht nur den eines guten Ruhekissens ersetzt, sondern auch einen Ausweis gegen alle eheliche Grenzgendarmerie und Zollwächterei, ja sogar eine Art siegfriedische Hürnenheit bedeutet. Im Besitz dieser für alle Gattungen von Drachenkämpfen hochwichtigen Eigenschaft hob sich der Doktor Rohregger in den Bügeln und schimmerte förmlich im Sonnenlicht, ein durchaus heldischer Heiliger. »Das deutsche Volk von Österreich wallfahrtet zu Bismarck in den Sachsenwald. Es ist meine völkische Pflicht, mit dabeizusein. Hier … lies!« Und mit weiter Geste reichte er der Gattin in den Palatschinkenbereich einen Brief als Akten- und Beweisstück, damit auch etwas Geschriebenes dabei sei, wie es sich für einen hürnenen Ritter schickte, der nebenher Advokat war.

Der Brief berichtete, daß die Grazer Burschenschaft »Pannonia« beschlossen habe, sich an der großen Huldigungsfahrt Deutsch-Österreichs in den Sachsenwald zu beteiligen, und daß aus diesem Anlaß eine außerordentliche Zuwendung von fünfzig Gulden an den Schreiber dringend notwendig sei, als welcher unterzeichnet war »euer dankbarer Sohn Fritz«.

Gegen diesen Beleg war nichts einzuwenden, und daß hier keinerlei Fälschung vorliegen konnte, ersah das Mutterauge an den geliebten Schriftzügen, insbesondere aber an der den Einzigen so durchaus kennzeichnenden Wendung von den fünfzig Gulden. »Du willst also mitfahren?« fragte Frau Thusnelda, indem sie ihren Flammenblick in ein gemildertes Brodeln abdämpfte. Denn mit der ihr eigenen Geistesgegenwart hatte sie sofort erfaßt, daß, wenn auch etwa Rohregger sen. durch unmittelbare Einwirkung vom Verlassen des Heimischen Herdes abzuhalten gewesen wäre, doch Rohregger jun., in Graz befindlich, Jurist im fünften Semester und Fuchsmajor der »Pannonia«, keineswegs durch eine mütterliche Bulle zu bannen sein würde; und daß selbst die Verweigerung der fünfzig Gulden nur zu gewissen geschäftlichen Verwickelungen mit schließlicher Lösung durch eine Postanweisung führen müßte. Wenn aber beide miteinander losgelassen würden, Vater und Sohn an derselben Leine, so würde der eine das Ungestüm des anderen zügeln und das wechselseitige Beisein die Leidenschaften erblassen machen.

Rohregger nahm seinen Vorteil wahr. »Achtzig Jahre … Bismarck, der eiserne Kanzler, der Alte im Sachsenwald, Deutschlands getreuer Eckart … achtzig Jahre! Ganz Deutschland rüstet sich zur Feier … Hunderttausende, Millionen werden diesen Tag als völkischen Feiertag begehen … Feuer flammen von Berg zu Berg … sollen wir Österreicher dahintenbleiben … bei Neidigen und Meineidigen? Schmach und Schande über den deutschen Reichstag, der sich geweigert hat, Bismarck zum Geburtstag zu beglückwünschen. Sie säßen nicht beisammen in Berlin, diese traurige Gesellschaft, wenn sie Bismarck nicht zusammengebracht hätte.« So sprach Herr Rohregger vor Frau Thusnelda und der Magd Cäcilie Wimmerl aus Aflenz, er sprach es mit eherner Mannhaftigkeit, daß alles Küchengeschirr klirrte, und es war eine Stegreifansprache mit Bruchstücken aus der letzten Julrede, weil Herr Rohregger nicht bloß Gemeinderat, sondern auch Vorstandsmitglied der Ortsgruppe des Germanenbundes zu Mürzzuschlag war.

Nein, sie sollten nicht dahintenbleiben, die Deutsch-Österreicher, das war inzwischen auch Frau Thusneldas Meinung geworden, zumal sie, was Frau Thusneldas eigenen Machtbereich anlangte, auch schwer zu halten gewesen wären. Überdies hatte ja auch sie ihr eigenes völkisches Bewußtsein, denn Frau Thusnelda, geborene Strahofer, Tochter des weiland Gymnasialprofessors aus Brünn, war in Geschichte und Sage und Mythologie gründlich bewandert, sie war in Pettau bei der großen Turnerschlacht gegen die Slowenen dabeigewesen, und schließlich: hatte sie nicht ganz dahinten, in ihren Nikolsburger Burgfräuleintagen, selbst eine wunderlich durchsonnte und durchwetterte höchstpersönliche Bismarckerinnerung?

»Hast du ihm nicht selbst in Nikolsburg Rosen an das Bett gestellt?« fragte Herr Rohregger, indem er Thusneldas Hände über den Palatschinken wegfing, die sie eben kunstgerecht mit Marmelade zu bestreichen begonnen hatte.

Da war die Erinnerung mit einem Male so deutlich beschworen, daß man darüber beinahe erschrecken konnte. Rot überflogen, als sei die den ganzen Küchenvormittag über eingesogene Herdglut mit einem plötzlichen Rückschlag wieder hervorgebrochen, mußte man den Blick auf Cäcilie Wimmerl aus Aflenz richten, wie wenn vor Magdohren etwas Unrechtes gesagt worden wäre. War man wirklich einmal das romantische Ritterfräulein mit geheimen Gängen und der Rosenspende einer Bekehrung gewesen, als welches man sich durch das trübe Glas der fast dreißig Jahre da plötzlich erblickte, Backfisch mit Hängezöpfen und kurzen Röcken?

»Und hast du nicht damals …?« begann sie, fortgerissen und gutmütig ränkesüchtig; aber Herr Rohregger, Sieger auf allen Linien, verschloß ihr rasch den Mund mit der Hand.

So war alles in Ordnung, und breiter noch als sonst saß Rohregger abends auf der Germanenmetbank am Stammtisch im »Eisenhut« und konnte aus gutem Gewissen mit obrigkeitlicher Genehmigung für eine Beteiligung an der Bismarckfahrt seine eindringlichste Beredsamkeit walten lassen. Sie zündete, und da solche Zündungen sich in der Regel höchst feuchtfröhlich auszuleben pflegen, sang man vom Lied der alten Eichen, mit der Frage, ob ihm das deutsche Volk nicht oft gelauscht habe, und kurz vor der Sperrstunde noch das Lied vom Krug zum grünen Kranze mit dem Bekenntnis über die schwarzgelbe Grenze hinweg:

»Wir schielen nicht, wir schauen
Hinüber frank und frei.«

Niemand ahnte dabei, daß Herr Doktor Josef Rohregger, der so um und um nichts als gutes Gewissen schien, im tiefsten Grunde seines Wesens ganz schwarz war vor schlechtem Gewissen, und zwar vor niemand anderem als Bismarck selbst, und daß die Wallfahrt in den Sachsenwald für ihn auch einigermaßen als eine Bußfahrt nach Canossa angezettelt war. -

Im Sonderzug fuhr man ins Schwarz-weiß-rote hinein, und auf jedem Bahnhof, wo man hielt, gab es Fahnengeflatter, Sangessprüche aus wacker dröhnenden Männerkehlen, Hoch und Heil, Festjungfrauen, Bier und Würste. Nach und nach füllte sich der Zug, also daß die Huldigungsreisenden bei Tage aus allen Fenstern und Türen höchst betriebsvorschriftswidrig hinaushingen, bei Nacht aber heringsmäßig auf- und nebeneinander lagen, wobei aber angemerkt werden muß, daß die Abordnung der steirischen Frauen und Jungfrauen ihre eigene, abgesonderte Tonne bekam. Man nahm aber diese Unbilden als Dazugehörigkeit und zog sie weder von der Begeisterung noch von der Empörung ab, man rechnete sie vielmehr einfach in die gangbarste aller Festempfindungen um: den Durst. Also daß, wie hinter den Zügen der Wanderheuschrecken entlaubte Bäume und entgraste Wiesen zurückbleiben, hinter dem Sonder- und Schnellzug der Bismarckpilger eine allgemeine Trockenheit und bierlose Wüstenei den Nachfahren entgegenstarrte.

Am Morgen aber war man im heiligen Reich der Sehnsucht, bei den deutschen Brüdern, die sich das starke Haus gebaut hatten, keine so baufällige Reichs- und Stiftshütte, wie man selber hatte, in der die Parteien einander Fußangeln vor die Türen legten und die Klinken mit Pech und anderen Unannehmlichkeiten beschmierten, auch bisweilen sogar die Fenster mit Steinen einschmissen oder in der Finsternis bei gelegentlichem Aufeinanderprallen einander mit Ohrfeigen bewirteten. Die Gedanken wurden immer beschwingter und trotziger und liefen zu Bismarck voran und dann wieder in die Heimat zurück, und immer dringender wurde der Wunsch nach einem Bismarck auch für Österreich.

Ganz Deutschland schien in diesen Apriltagen auf der Wanderschaft zu sein; wenn man auch schon keineswegs mehr zum Geburtstag zurechtkam, so war der Strom der Beglückwünschenden doch noch kaum geringer geworden. Alle Zeitungen, die in den Zug geworfen wurden, waren voll von den Begebnissen im Sachsenwald, man sah sämtliche deutsche Stämme wie zu einer Musterung und Heerschau anmarschieren und wieder zurückfluten. In Dresden traf man die zurückkehrenden Deutschen aus Odessa und begrüßte sich von Zug zu Zug.

»Was hat er gesagt?« fragte Herr Foißner, ein Leinwandhändler aus Mährisch-Schönberg, mit halbem Leib aus dem Fenster. »Wir sollen gute Deutsche bleiben und gute Russen auch«, schrie ein dicker Bierbrauer zurück.

»Kann man das?« zweifelte Doktor Rohregger. »Uns wird er das nicht sagen …!« und summte: »Wir schielen nicht, wir schauen …«

»Ist kein Abgeordneter da?« brüllte der Turner Trawnitschek, indem er sein Bierglas schwang, und man lachte in beiden Zügen. Zum Glück war keiner da, denn Cyrill Trawnitschek, genannt Hagen, Schwergewichtsathlet des Turnerbundes »Eiche«, wäre imstande gewesen, einem solchen Glückwunschverweigerer eine Vorlesung mit Experimenten darüber zu halten, wie die Germanen ihre großen Männer zu ehren und den kleinen zu wehren hätten.

Je näher man dem Sachsenwald kam und der Beichte, die dort dem Doktor Rohregger an höchster Stelle bevorstand, desto drangvoller wurde es in ihm, und er begann sich nach dem Busen umzusehen, tief und würdig genug, um sein Vertrauen aufzunehmen, und ehrlich genug, um die Generalprobe an ihm zu machen. Der nächste dazu wäre Rohregger jun. gewesen; aber der schien seinerseits den diesbezüglichen Busen bereits gefunden zu haben; und zwar unter der steirischen Weiblichkeit, unter der er sich mit einer Jungfrau zusammengetan hatte, die, als flüchtige Bekanntschaft vorgestellt, jetzt zu gründlicherer fortzuschreiten willens schien.

So kam man nach Hamburg und machte für den Abend in Hafen- und Matrosenleben, mit wissenschaftlicher Bedächtigkeit, nicht nur so oben hin, sondern auch tiefer unten bis zum Pegel von Sankt Pauli, weil man nun schon einmal da war und damit man daheim doch auch etwas erzählen könne. Zuerst trieb man sich im großen Hafen umher, besetzte ganze Spiegelsäle und Marmorhallen, und das war freilich noch ein ganz anderes Leben als daheim in Wien, es hatte alles einen Zug ins Große, man fühlte sich, als sei man aus einem engen Winkel ins Freie gekommen.

»Das macht der Atem des Meeres«, sagte Rohregger der Ältere zu Rohregger dem Jüngeren und dem angegliederten Fräulein Kamilla Schörzhöfer, »des Meeres … und das Meer ist die Freiheit.«

Die großen Haufen zerfielen in kleinere Fähnlein und die wieder in Gruppen, je tiefer es in die Nacht und ins Programm ging, und zuletzt war man ganz urgermanisch in Gefolgschaften oder Sippen aufgelöst, bis Rohregger, Vater und Sohn, nach Abspaltung des Fräuleins Schörzhöfer, mit nur noch drei oder vier wohlgeeichten Bundesbrüdern aus Mürzzuschlag hinter rot verhangenen Fenstern einer echten Matrosenschenke für Fremde saßen. Ganz zuletzt, und noch ein Stockwerk tiefer, waren nur mehr Rohregger Vater und Sohn allein, Hildebrand und Hadubrand, und nun wäre es an der Zeit und Gelegenheit gewesen, den Beichtspiegel vorzunehmen, aber es scheiterte an gewissen technischen Unmöglichkeiten der Verständigung.

Strichregen und Sonne wechselten am anderen Morgen über den Bäumen des Sachsenwaldes, der Atem des Meeres schien auch die gute Eigenschaft zu haben, die Gehirnkammern auszulüften. Rohregger Vater stand an der Spitze der Germanen aus Mürzzuschlag bereit, als gälte es, mit Theoderich in Italien einzufallen. Es war ihm nichts anzumerken, daß sein Inneres ein einziges großes Fragezeichen war: »Wie komme ich über diese Stunde hinweg?« Sein Gewissen schlug ihm wie eine Kuckucksuhr die Viertelstunden; es kam aber kein Kuckuck aus dem Türchen, sondern immer nur der Hahn des Petrus und krähte eine alte Schuld.

Zuletzt krähte es elfmal, da hatte man sich hinter dem Försterhaus aufgestellt, und der Oberförster Lange übernahm wie immer bei solchen Aufmärschen Befehl und Führung. Der Zug der Hunderte ging durch den Park und durch die Reihen der Friedrichsruher Feuerwehr; die stand da, nicht wegen der zündenden Reden, sondern als Bismarcks Ehrenwache und Ordnungspolizei, weil er keine anderen hatte. Bunt flogen die entrollten Fahnen über den Köpfen hin, drängten die Treppe zur Terrasse hinan und reihten sich oben um die Brüstung. Die Fahnenträger ebbten zurück, und man sah den Vater Lange mit dem Hirschfänger um den Jägerrock die Glastür auftun und in das Allerheiligste eingehen.

Alles nahm den Hut ab und hielt den Atem an.

Der Fürst war herausgetreten, groß und aufrecht, im schwarzen Rock, den weichen, großen Hut auf dem Kopf; faltig ruhte der welke Hals und das Kinn auf dem weichen, weißen Kragen. »Das ist er«, dachte jeder, und es wurde ganz feierlich und ernsthaft in den Hunderten, aller Wallfahrerunfug war aus den Seelen gefegt. Hinter dem Fürsten kamen Herbert, Graf Rantzau und seine Frau, Schweninger und Pinnow, lauter Sagengestalten, und nur die zwei größeren Rantzaububen in weißen Matrosenblusen mit blauen Umlegekragen machten, wie sie da gleich an der Brüstung lümmelten, sich anstießen und hinunterlachten, einen Übergang zur Zeitgenossenschaftlichkeit. Ruhig legte der Fürst den Hut auf die steinerne Brüstung und die Hand daneben; der kahle Schädel wurde sichtbar mit den greisen Haarresten an den Schläfen und im Nacken; sein Blick, über die Menge hin, war ein großes beruhigendes Auftun der Herzen.

Inmitten der allgemeinen Erhebung fühlte nun der Doktor Rohregger seine nun schon über ihn hinhauchende Not, er sah dunkel den Sprecher die Stufen hinanschreiten, sah ihn vor dem Fürsten stehen und hörte bisweilen einzelne Worte seiner Rede, wie polternde Steine im Brunnenschacht. »Jetzt kommen die Studenten«, sagte jemand neben ihm. In voller Wichs, mit Koller und Kanonen, Schläger, Schärpen und goldgesticktem Cerevis gingen sie klirrend zu zweit die Treppe hinan. Es kam Rohregger vor, als sähe er vorn im Gewühl für einen Augenblick das Profil seines Sohnes; dann, unbegreiflich schnell, war auch dieser Auftritt vorbei, und schon stand eine Frau oben, mit einem Strauß aus Heidekraut und Edelweiß.

Sie hatte Bismarck die Blumen in die Hand gegeben und leuchtete schon wieder weiß und leicht die Treppe hinab. Eine Weile stand der Fürst, den Blick in die Blumen gesenkt, die Ebene und Berge einander gesellt hatten, das leicht Ergreifbare und die Blume der Sehnsucht und Gefahr, den weiten Blick und den tiefen Blick, das Gewöhnliche und das Seltene, Lebensgrundfestigkeit und Todesbereitschaft, das deutsche Westreich und den deutschen Kern des Ostreichs. So waren die ersten Worte, die der Fürst sprach, mit seiner hohen dünnen Rednerstimme, die erst im Strom ihrer selbst Gewicht und Fülle bekam. Um Herrn Rohregger war bald Heiterkeit, bald eine stillvergnügte, bald eine laut ausbrechende, dann wieder hochgeschwungene Begeisterung, und zuletzt blieb es bei der Heiterkeit, als der Fürst aus dem empfangenen Kelch den steirischen Wein trank. Der Wein war gut, aber der Kelch war groß; auch stand der Doktor Schweninger daneben; also sah der Fürst nach einem Blick auf ihn davon ab, einen Schwedentrunk zu tun. Wenn es so auch nicht zur Nagelprobe kam, so war es doch auch kein zimperliches Nippen gewesen, sondern ein herzhaftes Schlucken.

»Da zeigt sich, ob aner a großer Mann is«, sagte der Bundesbruder Fingerl neben Rohregger, »da is nix fürs Aug, wie bei die anderen Fürschten, sondern alles wirklich.«

Rohregger schrak zusammen, denn der Fürst verließ den auf die Terrasse gepflanzten Fahnenwald und kam die Treppe herab. Die Zylinder wogten hin und her, die Schärpen auf den schwarzen Röcken hoben sich, die Frühlingsfarben der Frauenkleider flammten. Rohregger hatte eine Sehnsucht nach hinten, aber die Vorstandschaft der Germanen schob ihn unnachsichtlich nach vorn, und plötzlich stand der Fürst vor ihm, den breitkrämpigen Hut tief in der Stirn, die buschigen Augenbrauen hingen irgendwo über Rohregger in der Unendlichkeit, und zugleich war dieser Blick irgendwo tief drinnen in Rohregger, als ein Stück seines eigenen Wesens.

»Advokat Rohregger …« keuchte er, »Durchlaucht, ich bin derjenige, welcher …«, da war der Atem fort.

Der Fürst wartete eine Weile auf weitere Aufklärungen, aber als der Atem durch alle Gänge und Winkel von Herrn Rohreggers Persönlichkeit blies, nur nicht dort, wo er ihn am dringendsten gebraucht hatte, sagte er mit einem Blick auf das Germanenbanner: »Aus Mürzzuschlag … Das ist dort, wo die Steiermark am grünsten ist! Grüßen Sie mir Ihre Berge.«

Und war vorbei, und da war der Atem, aber zu spät, und Herr Rohregger blieb mit ungelöstem Beichtgeheimnis zurück. Noch einmal stand der Fürst am Altan, noch einmal ein Schwenken des breiten Hutes, Herr Rohregger brüllte aus der Tiefe mit der Stimme eines erzenen Stieres: Heil! dann setzte ein linder Regen ein, der auf diesen Augenblick nur gewartet zu haben schien, und half den Park leeren.

Abends, in Hamburg, wurde das große Erlebnis zerstückt und gemeinverständlich gemacht und selbstverständlich begossen, damit es wurzelfest werde. Finger! meinte, wer ein großer Mann sei, sei ein großer Mann, und daran sei nichts zu ändern, und es wäre ergreifend gewesen, was er über die Freundschaft zwischen Deutschland und Österreich gesagt habe.

Herr Foißner aus Mährisch-Schönberg war nicht ganz zufrieden: »Er hat uns ja dasselbe gesagt wie den Deutschen aus Odessa … wir sollen mit den Slawen in Eintracht und Frieden leben.«

»Ja, aber wir als der männliche Teil und die Slawen als der weibliche Teil«, sagte der Bürgerschullehrer Willig, der genau aufgepaßt hatte.

»Freilich, nur daß es öfter vorkommt, daß die Weiber gern die Hosen anziehen möchten«, wandte der Apotheker März aus Graz ein, und er offenbarte damit vielleicht den Grund seiner Junggesellenschaft.

Der Vater Rohregger brütete dumpf. Ihm gegenüber saß Rohregger der Sohn und brütete gleichfalls, aber nicht Bismarcks wegen, sondern wegen des Fräuleins Kamilla, die nach kurzer Flittergunst zu einem Arminen aus Wien übergegangen war, der sie ins Theater entführt hatte. Gegen Mitternacht war das Geständnis reif und fiel aus dem Herzen des Vaters in das des Sohnes.

»Ich hab' es ja sagen wollen«, bekannte der Vater, »aber auf einmal! … Was hätte er wohl gesagt? Ich habe im Jahre sechsundsechzig …«, er schluckte und fing den ausreißerischen Atem rasch wieder ein, »damals habe ich … es war Krieg, weißt du … und kein Mensch so gehaßt wie Bismarck … da hab' ich einen Preis von hundert Gulden auf seine Gefangennahme ausgesetzt: lebendig oder tot, mit ganzem oder durchlöchertem Fell … der bin ich … der das getan hat.«

Er suchte auf dem düsteren Gesicht des Sohnes sein Urteil. Der sah auf: »Wie?« Seine Gedanken waren hinter der entflohenen Kamilla her gewesen.

Rohregger wiederholte das Geständnis; aber solche zweiten Auflagen schwächen das Gefühl, und der Büßer kam sich in der Wiederholung schon halbwegs entsühnt vor. Der Apotheker März hatte mitgehört und beugte sich vor: »Glauben Sie, er weiß es nicht? Er schaut einen Mann bloß an und weiß alles von ihm.« Er war ein verstehender Mensch und ein Freund versöhnlicher Ausgänge: »Wir alle haben etwas gegen ihn auf dem Gewissen … es handelt sich nicht um die alten Schulden, sondern um den neuen Glauben. Und den haben wir … den haben wir.«

Da war Rohregger der Ältere losgesprochen und schlug auf den Tisch: »Ein Hundsfott, wer ihn schimpfen soll!« ganz, als ob er eben mit Bismarck Brüderschaft getrunken hätte; am Nebentisch saßen Wiener Teutonen mit Grazer Alemannen beisammen, Schwarz neben Grün, und rieben einen gemeinsamen Salamander, daß die Tische krachten; und im weiteren Verlauf der Begebenheiten erwies sich, daß Frau Thusneldas wohlerwogene Reisepolitik insofern Schiffbruch zu leiden bestimmt war, als die gemeinsame Leine für Vater und Sohn keineswegs das beiderseitige Ungestüm zu zügeln vermochte. Es erging ihnen vielmehr, dem einen aus noch gärendem, dem anderen aus glücklich überstandenem Seelenschmerz, wie weiland Hildebrand und Hadubrand, als sie selbander die Seestadt Venedig suchten und nicht finden konnten.


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