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Seit ein paar Tagen begann der Palmenstrand von Honduras wieder nachdrücklicher jenseits von des Doktors Bucher trübseligen Gegenwartsgewässern aufzusteigen. Es war freilich vorerst mehr ein inneres Gesicht, als daß sich die amerikanische Freiheitsgloria schon nach äußerer Gelegenheit und Erreichbarkeit deutlich abgezeichnet hatte. Immerhin trieb ihm wie weiland dem unternehmenden Genueser in der Strömung seiner Tage doch schon dies und jenes Zweiglein oder Rindenstück oder sonstiges Landmerkmal, von dem er seine Einbildung nährte, daß nun sein Lebensschifflein vielleicht doch bald an den Strand stoßen werde, und das ihm dazu diente, dieses Fahrzeuges etwas schwierig gewordene Besatzung zu beschwichtigen. Ja, es war nicht zu leugnen, daß die ganze Matrosenschaft von Gedanken und Wünschen, die seine nun bald sechzigjährige Karavelle bevölkerte, einigermaßen rebellisch geworden war und über einen Dienst zu murren begann, in dem es Tag und Nacht fast kein Ausspannen gab. Es war an der Zeit, der Schinderei ein Ende zu machen, auf daß die Gasten die verschwitzten Hemden einmal ausziehen, waschen und in der Sonne trocknen und bleichen können, um für die letzte Fahrt ins Abendrot ordentlich angezogen zu sein. Wobei für die Palmen- und Mangrovelandschaft von Honduras eine gewisse, nicht unbehagliche Vorstellung einer biederen Romantik im Stil von Onkel Toms Hütte mitspielte, mit irgendeiner vollgeratenen Kreolin, die von der selbstherrlichen Anmaßung europäischer Frauenzimmer nicht einmal dem Namen nach etwas wußte, einem guten, sattgetönten Tier mit dem Talent, sich in die Ecke schicken zu lassen, wenn man seiner nicht weiter bedurfte.
Kurz und gut, man war willens, auf den Patriarchen- und Feierabendstandpunkt überzugehen oder, in Gottes Namen hegelianisch gesprochen, nach der revolutionären These des Tugendhelden aus dem roten Quartal und der Antithese des treuen und unentwegten Helfers Bismärckischer Regierungsmacherei die Synthese des wahrhaft Freien, auf sich selbst Gestellten zu gewinnen. Denn schließlich: wer war man denn eigentlich? Es war ja gewiß eine liebliche und heitere Beschäftigung, ein Geschlecht von Kanarienvögeln nach dem anderen aufzuziehen und darauf zu achten, welche von ihnen sich zu besonders begnadeten Sängern auswachsen würden; oder allerlei Pflanzenzeug zusammenzutragen, ihm zwischen grauen Löschblättern den Lebenssaft auszuquetschen und es dann nach Klassen und Familien in eine gründliche deutsche Herbariumsordnung zu bringen. Aber diese Spitzwegische Betätigungsweise schmeckte allzusehr nach der Nachtmütze und dem Schlafrock, sie war nur ein unbedeutsames Schnörkelwerk, wuchs gewissermaßen nur als Moos und Algenüberzug auf einer grauen, zyklopischen Mauer, in der war jede Quader eine schwere Arbeit von Tag zu Tag und ohne Unterlaß. Man stöhnte unter der Mühe, aber der Baumeister gab nicht nach und kannte keine Müdigkeit und wurde täglich nur mißtrauischer und grimmiger bei jedem Verschnaufenwollen.
Gewiß, er machte es sich auch nicht leicht und hatte seinen Ärger, aber auch seine Rechthaberei und rannte mit seinem Kopf gegen manche Wand, die er besser hätte untergraben und zu Fall bringen können. Manchmal wandte er dann freilich diese Würmer- und Diplomatenweisheit an, aber es wollte auch nicht recht gelingen, weil diese verdammten Wände oft so tief in die feste Erde allerhöchsten Wohlwollens gesetzt standen, daß ihnen auch von unten her nicht ohne weiteres beizukommen war. Da marschierten dann die Klagen über den Verlust des kaiserlichen Vertrauens an mit allerlei verärgerten Sprüchlein, die sehr wenig nach Ergebenheit klangen, und die Donnergewitter über unfähige und ungehorsame Minister und Gehilfen, diesen dreifach widerspenstigen Harry von Arnim etwa, die immer hintenherum irgendwie ins feindliche Lager liefen und dort die Stimmung stärkten. Vielleicht war auch mancher gar nicht so schwarz, als er angemalt wurde, und es färbte bloß ein immer mehr ins Pechfinstere und Gallenbittere sich entfernendes Weltbild auf ihn ab. Gewiß, nirgends auf der Erde war das Selbstverständliche so wenig selbstverständlich als in Deutschland, und was nicht mindestens auf dem Umweg durch das Ding an sich bewiesen und durch zwölf Eideshelfer aus dem deutschen Ideenhimmel gestärkt war, galt nicht. Und wenn es schon galt, dann galt es nur für die betreffende Partei, die ihre eigenen Ideen darin erkannte, zumal ja jede ordentliche deutsche Partei ihre eigene Abteilung in diesem Ideenhimmel für sich hatte und die anderen Abteilungen für durchaus idiotische und verbrecherische Veranstaltungen erklärte. Also daß einer, der wie Bismarck ein Gemeinsames und Verbindendes herausholen wollte, bald von diesen, bald von jenen, je nach Gelegenheit, für das Narrenhaus oder das Zuchthaus reif erklärt wurde, bis sich aus all diesen vereinzelten Gehirn- und Meinungsdünsten ein schweres Gewölk zusammenballte, wie das, unter dem er jetzt unstreitig wandelte.
Es reichte von einem Ende Deutschlands bis zum anderen und war fahl, wie Hagel, der noch am Himmel hängt, und wenn Bismarck selbst es nicht merken wollte, so merkten es die um ihn desto drohender. All diese Spannung zu ertragen und dabei immer nur noch wütender die Arbeit an sich zu reißen, dazu mußte man aus dem Geschlecht der Riesen sein wie Bismarck und nicht ein magenkrankes Menschlein wie der Doktor Bucher.
Da hatte man den Doktor nach Kissingen gerufen, und er war mit einer Vorstellung von Badeleben und ein wenig leichter Schreiberei gekommen, wie sie von einem Mann zu erwarten war, dem der Arzt nach einem rheumatischen Fieber den Salinengebrauch verordnet hatte. Aber mit diesen Bismarckschen Krankheiten war es eine eigene Sache; man mochte glauben, nun sei er niedergeworfen und werde sich unter Monaten nicht erholen, und am nächsten Morgen war irgendein gewaltiger Ärger da, der machte ihn so gesund, daß er im Augenblick auf den Beinen war und mörderisch mit flammendem Hammer auf seinem Ziegenbockwagen über Land und Leute hinwetterte. So saß man denn täglich auch hier seine zwölf Stunden am Schreibtisch, und ringsum auf den bayrischen Bergen wuchsen sicher die schönsten der noch nie gewonnenen Sommergewächse, und der Traum von Badeleben war eine ganz niederträchtige Wirklichkeit von Akten, in denen eine Unmenge neuer und alter Fäden gröber und feiner geknüpft und gesponnen wurden.
Von allen diesen Dingen war der Doktor Bucher so voll, daß er sie nicht ganz bei sich behalten konnte und wenigstens zum Teil herauslassen mußte. Das geschah im Wirtshause »zum Mohrenkopf« bei der oberen Saline, wo er allabendlich mit zwei Unbedingten beisammensaß, denen gegenüber er ein freies Wort schon vom Stapel lassen durfte. Man saß im Hinterzimmer, weil die anderen Gäste an diesem schönen Sommerabend draußen im Freien saßen und man sich nicht mehr unter die Leute mischen mochte, die dem Gehilfen des Kanzlers immer große Augen und lange Ohren machten; es war also niemand weiter da als der Mohrenkopf unter seinem Glassturz, nach dem das Wirtshaus seinen Namen hatte, und der von der zweiten Türkenbelagerung Wiens stammen sollte, aber der war balsamiert und insofern auch unbedingt.
Die beiden anderen Unbedingten aber konnten sich nicht genug verwundern, daß der Doktor heute soviel aus sich laut werden ließ, da er doch sonst eher nach dem Moltkeschen als nach dem Laskerschen Grundsatz über seine Sprachwerkzeuge verfügte.
»Heeren Sie«, sagte der Professor der höheren Magie Bellachini, indem er die Röllchen aus den Ärmeln zupfte, »ich finde Sie das aber nicht scheene, daß Sie äben jetzt ausreißen wollen, wo ihm das Wasser sozusachen in den Mund laufen dhut.« Pirna, die berühmte Sachsenstadt, war dieses zauberkundigen Mannes Heimatsort, obwohl nur verschämterweise, wie er denn auch den Namen Bauchwitz, den seine ungelehrte Jugend getragen hatte, hinter der italienisch großartigen Klangschönheit seines gewandelten verbarg. Aber beim Sprechen sah man immer wieder ein Stückchen Pirna; es war genau so, wie man bei seinen Zauberstücken an die Sächsische Schweiz denken mußte, die ja die richtige Gegend ist, um das Hexen zu erlernen, wenn dort schon die Berge ausschauen wie die Torten und Felsen, wie Bären oder Pudelhunde und an den unwahrscheinlichsten Orten plötzlich blecherne Gemsen stehen, wie aus dem Hut gezaubert.
Der zweite Unbedingte sagte gar nichts, sondern trommelte bloß auf den Tisch. Er hieß Karl Wilhelm und war ein Musiker, der vor nun gerade zwanzig Jahren zu der silbernen Hochzeit des Prinzen von Preußen ein Lied vertont hatte. Der Prinz war inzwischen Kaiser von Deutschland geworden, und dieses Lied war inzwischen in die Unsterblichkeit eingegangen, es war der Schlachtgesang und der Sturmdonner eines Volkes geworden, so, als ob alles Herzhafte und Tollkühne der Nation bis dahin nur stammelnd gesprochen worden und in diesen Tönen erst zu sich selbst gekommen sei. Alle andere kleine, ehrgeizige Notenschreiberei des Mannes war Notenschreiberei und unter jenem marschtaktigen Brandungsgang der Elemente ein mildes Gesäusel und Gezirpe geblieben. Der Musiker war ein feiner und weicher Mensch und litt schwer darunter, daß jene rasche Eingebung einer Stunde eine Armee von Hunderttausenden bedeutete und in den Lüften gegen den Feind focht, wie die Geister der Kämpfer auf den katalaunischen Feldern, während seine hundertundeins sonstigen mühsam ersonnenen Tonwerke ihr flüchtiges Leben schwindsüchtig dahinhauchten. Übrigens war er mit einem Nationalgeschenk von jährlich tausend Talern bedacht; aber nicht deshalb trommelte er auf den Tisch, sondern aus ehrlicher Mißbilligung der Bucherschen Zweifelsüchtigkeit, und das war immerhin die schärfste Äußerung von Feindseligkeit, die seiner zahmen Natur anstand.
Bucher aber war heute nun schon einmal ordentlich aufgezogen und weder durch Röllchenzupfen noch durch Trommeln von seinem Kontrapunkt abzubringen. »Er ist ein großer Mann, ja!« sagte er, »aber ein Menschenfresser!«
»Himmelherrgott!« sagte Bellachini, und Karl Wilhelms Getrommel wurde zum Generalmarsch. »Jawohl, ein Menschenfresser«, beharrte der Doktor, »das heißt, er nagt uns alle bis auf die Knochen ab, und die wirft er fort … auf den Schindanger. Es schaut um ihn aus wie auf dem Sirenenfelsen, wo hinten die Gerippe bleichen. Oder, wenn es Ihnen so besser gefällt, er ist eine Zitronenpresse, und wir sind die leeren Schalen. Den Saft hat er in seinen Unsterblichkeitsbecher geträufelt. Prosit den Gestirnen!«
Bellachini ließ ganz in Gedanken ein Brotkügelchen, das er zwischen den Fingern gedreht hatte, im Rockärmel verschwinden; dafür war er Professor der höheren Magie, und das Zaubern war ihm so geläufig, daß es ihm aus dem Unbewußten geschah, wie anderen das Husten. »Heeren Sie«, sagte er mit Erbosung, »es will mer gar nicht gefallen, daß Sie so daherreden dhun. Sie ham doch ooch sozusachen e Abonnemang auf die Unsterblichkeit. Es weeß Sie doch jedermann im deitschen Reiche, daß Sie dabei sozusachen mitgeholfen ham. Verfassung des Norddeutschen Bundes, die für de Reichsverfassung 's Beispiel gegäm hat und so.«
Nein, der Kurs stand geradeaus auf Honduras, und keinerlei Gesang vom braven Mann und bescheidenen Anteil konnte ihn irre machen. »Er ist ein Mensch, für den man sich totarbeiten könnte, ja! Aber ich will mich nicht totarbeiten: nein. Ich gehe beizeiten ab. Ich bin auch wer, jetzt bin ich sieben Achtel Bismarck, aber ich möchte wieder ganz der Doktor Bucher sein.«
Nach solchen Explosionen konnte der Abend freilich nicht mehr in der gewohnten sanften Vergnügtheit verlaufen, und nach einigen stimmungslosen Hin und Wider nahm der Doktor den Hut und ließ die beiden Unbedingten mit ihrem neuen Groll allein. Sein Triumphgefühl war freilich etwas mangelhafter Art, aber gerade weil in seinen Seelenwänden irgendwo ein Wurm saß und Bohrlöcher hineinfraß, gedachte er sich um so fester zusammenzuhalten, und der morgige Tag sollte den großen Entschluß ans Licht treten sehen. Es war ihm jetzt freilich, als habe er unter dem Mohrenkopf etwas zuviel gesagt, aber die Unbedingten waren in Treuen fest, und auf den Mohrenkopf konnte man sich auch verlassen. Die Hauptsache war jetzt ein ordentliches Rückgrat, das weder durch die Faust Bismarcks zu brechen, noch durch sein Lächeln zu biegen war.
Unter diesen Gedanken kam er in die Saalestraße und sah vor dem Hause des Doktors Diruf die üblichen zwei Schattenwandler. »Er wird bewacht wie ein Pulverturm«, dachte er, indem er zu den immer noch erleuchteten Fenstern aufschaute, »na ja, wenn er in die Luft fliegt, so geht manches mit.« Da er aber in Angelegenheit der nötigen Versteifung des Rückgrates bereits so weit war, auch einige Ungerechtigkeit in seine Seele zu gießen, fuhr er sogleich mit machiavellistischer Kaltblütigkeit fort: es sei übrigens eine recht geschickte Veranstaltung für den deutschen Spießer, so zu tun als ob, damit die Anteilnahme immer hübsch lebendig bleibe. Wobei er absichtlich vergaß, daß Bismarck von den beiden nachtwandelnden Pulverturmswächtern keine Ahnung hatte.
Es gab noch einige Spätarbeit für den nächsten Morgen abzutun, und erst nach Mitternacht kam der Doktor in sein Zimmer. Der Mond lag darin und spielte mit den schönen, alten Überfanggläsern in der Vitrine; übrigens, wenn man aus dem Fenster schaute, konnte man über den krummen Dächern die weichgeschwungenen Begleithöhen der Saale sehen mit ihren Wäldern, in denen es jetzt, Gott mochte wissen welche seltenen Pflanzen gab, wie ja doch in ganz Deutschland um diese sommernächtliche Stunde die verwickeltsten Wachstumsgeheimnisse vor sich gingen, mit Wurzeln, Blüten und Samen. Und in Honduras erst recht! Wie der Doktor Bucher das alles so gründlich bedachte, fühlte er sich geradezu fürchterlich entschlossen; es war wie Anno achtundvierzig, als es um die allgemeine Freiheit ging, und in diesem umstürzlerischen, aber außerordentlich stärkenden Bewußtsein begab er sich zu Bett und schlief bis in den Morgen hinein.
Da saß er freilich zunächst im Arbeitszimmer über den Akten, denn man mußte seine Pflicht bis zum letzten Tage tun, man war kein Dienstbote, der davonlaufen konnte, sondern man wollte in allem Anstand um ehrlichen Abschied bitten. Bismarck kam gegen Mittag und sah heute wirklich wie eine gereizte Bulldogge aus; und es war im Interesse des steifen Rückgrates sehr angemessen, dies dem französischen Botschafter Gontaut-Biron in sich hinein einige Male nachzusagen. Ob der Bericht über den eigenen unbotmäßigen Botschafter, diesen Herrn von Arnim, fertig sei, mit welchem dem hohen Herrn mitgeteilt werden sollte, daß im Archiv zu Paris einige wichtige Aktenstücke fehlten, womit also wohl Armins Absägung endgültig vollendet und seine Tätigkeit bei den Franzosen in das sonderbarste aller Lichter gestellt werden könnte? Ob man die Informationen für die Ministerien im Kampf um die Heeresvermehrung abgehen lassen könne, damit den Nationalliberalen endlich klargemacht werde, sie müßten ihren verbohrten Advokatenwiderstand gegen ein Gesetz aufgeben, und damit den Franzosen gewiesen werde, daß Deutschland auf ihren Trumpf einen anderen setzen könne? Ob man das vorsichtig tastende Schreiben an den österreichischen Außenminister Andrassy abgefaßt habe, in dem einiges und dies und das über die unbedingte Notwendigkeit des Bestandes dieses Mosaikbildes Österreich gesagt sei - »haben Sie, daß ich der Ansicht bin, der deutsche Minister, der von Österreich etwas wegnehmen wollte, verdiente gehängt zu werden?« Vor allem, ob der Brief an den Kultusminister Falk fertig sei, in dem über das kulturkämpferische Mailüftchen dieses Jahres, über das Zivilehegesetz, wichtige Darlegungen enthalten seien?
Der Doktor Bucher gab seine guten und raschen Auskünfte wie ein Nachschlagebuch und dachte dabei, jetzt sei wohl keineswegs der geeignete Augenblick, sein versteiftes Rückgrat zu erweisen und die fürchterliche Entschlossenheit darzutun. Damit müßte wohl gewartet werden, bis der Fürst von der Saline zurückkam, denn mit einer solchen Unannehmlichkeit, als welche der Doktor seinen Abgang immerhin anzusehen begann, war einem dermalen kurbedürftigen Menschen das Bad schlecht gesegnet; soviel Rücksicht mußte man schon üben, wenn er auch ein Menschenfresser war. Der Doktor übte also Rücksicht, schwieg auch während des Mittagessens, obzwar ihm allerlei deutungsschwere Bemerkungen über die tropische Pflanzenwelt auf dem Wege vom Herzen zur Zunge waren, und setzte sich nachher wieder hinter seine Akten. Ehe er das aber tat, warf er einen Blick aus dem Fenster: da stand der königlich bayerische Hofwagen vor der Tür, wie alltäglich um halb zwei, und wie alltäglich war die Straße voll Menschen, die den Fürsten sehen und grüßen wollten. Einen Augenblick war es Bucher, als treibe auf dem Schwarm des sächsischen Magiers Gesicht einher; alles das waren aber keine Eindrücke, die ihn hindern konnten, gewisse Wendungen des Briefes an Andrassy noch geschmeidiger zurechtzufeilen.
Mit dem lachenden Sonnenschein kam das Geschwurbel der Menschenstimmen beim offenen Fenster herein, das war alles durchaus aufs Fröhliche gestimmt, und das Hufstampfen der hafersatten Pferde hatte dazwischen etwas von Pulsschlag der lieben Ungeduld; ein heiterer Widerschein dieses klaren und losgelösten Sommerwesens wollte durchaus unter Buchers entschlußdüsteren Seelenhimmel, so daß er Mühe hatte, seine Ränder rundherum festzuhalten, daß sie nicht gelüftet würden. Er war eben dabei, auszukosten, ob an einer gewissen Stelle das Wort »Sicherheit« oder das Wort »Gewißheit« mit besserem Geschmack hingesetzt würde, als in seine auf fünf Dezimalstellen des Gehörs genauen Erwägungen plötzlich ein sehr grober und klobiger Knall hereinbrach.
Es schleuderte ihn wie mit einem Katapult vom Schreibtisch zum Fenster. Was er zunächst unten sah, waren zwei hochsteigende und auf den Hinterbeinen tanzende Gäule, der Fürst, der verwundert seine rechte Hand zu betrachten schien, rundherum aber war irgendeine wimmelnde Unverständlichkeit, die beiläufig nach einer Art von Rauferei aussah. In ihrem Kern schlug jemand mit Händen und Füßen um sich, wurde von zwanzig Fäusten gepackt, riß sich los, um mit dem Kopf gegen die Menschenwand Mauerbrecher zu spielen, und hing schließlich ohnmächtig und um sich schnappend wie ein wütender Hund im Griff von fünf oder sechs Männern, während ein Gefuchtel von Stöcken und Sonnenschirmen über seinen Körper als ein Platzregen von Schlägen niederging. Jetzt erhob sich der Fürst im Wagen und stand dem ganzen wildbewegten Auflauf sichtbar da: »Lassen Sie ihn … wir wollen den Behörden nicht vorgreifen … beruhigen Sie sich. Es ist nichts Besonderes geschehen, nur die Hand ist gestreift.«
Bucher sah noch, wie der Doktor Diruf aus seinem Hause gestürzt kam, und da er den Fürsten dermalen außer Gefahr und in der Fürstin und Mariens sicherer Hut wußte, meinte er, es sei Zeit, sich vorderhand mit sich selbst zu beschäftigen. »Hm«, dachte er, »so hat man doch versucht, den Pulverturm in die Luft zu sprengen, und es ist kein Zweifel darüber, wo die Lunte angezündet worden ist.« Es hatte sich ja allerlei Unerfreuliches wirklich zugetragen, wie es eben beim Reiben zweier Hölzer schließlich immer Rauch und Gebrandel gibt; darüber hinaus aber hatte man den Leuten noch recht viel Blitzblaues weisgemacht, wie etwa dies, daß Bismarck den Papst gefangennehmen, und die Liberalen dem Heiligen Vater den Bauch aufschneiden wollten. Oder die Mär, die man in der Rheinprovinz auf die Beine gebracht hatte, daß an einem gewissen Tage alle katholischen Kirchen gesperrt werden würden und wer nicht protestantisch werden wolle, ins Gefängnis wandern müsse; worüber denn sämtliche älteren Jungfrauen des Landes ins Zittern kamen und ihre Sparkassenbücher hervorholten, soweit solche vorhanden waren, um mit ihrer Hilfe noch vor dem verhängnisvollen Tage in den Stand der Ehe zu treten.
Ja, solche Betriebsamkeiten konnten letzten Endes ganz leicht in den Lauf einer Pistole geladen und abgeschossen werden, wie man das am Beispiel sah, und das war nicht weiter verwunderlich. Verwunderlicher war in diesem Augenblicke, daß sich der Doktor, der sich mit dem ausdrücklichen Vorsatz auf sich zurückgezogen hatte, sich mit sich selbst zu beschäftigen, nun mit allen Gedanken mit dem Menschenfresser und dessen besonderen und allgemeinen Angelegenheiten abgab. Von Doktor Lothar Bucher war ganz und gar nicht weiter die Rede, außer es wäre anzunehmen gewesen, daß durch die obige Materie hindurch seine eigene erfaßt und, von ihr eingeschlossen, irgendwie miterörtert und miterledigt zu werden im Begriffe sei. Was vom Herrn Geheimen Legationsrat nicht in diese Gedankengänge hineinverwoben war, das horchte so nebenher auf die Geräusche im Hause, auf dieses Laufen und Türenschlagen; da er aber ein bescheidener Mensch war und nicht gern irgendwo im Wege herumstand, beteiligte er sich vorerst nicht an dieser aufgeregten Geschäftstätigkeit, sondern wartete im Hintergrunde auf seine angemessene Zeit. Er kam erst zum Vorschein, als er die Abordnung auf der Treppe hörte, schloß sich ihr hinten an und betrat das Empfangszimmer. Die Abordnung bestand aus dem Bürgermeister, der Gemeindevertretung und einem rasch zusammengesetzten Entrüstungsausschuß der Badegäste, unter dem auch der zauberkundige Professor seinen Zylinder schwenkte.
Sie hatten kaum Zeit gefunden, sich zu einem anmutig geschwungenen Halbkreis mit dem Bürgermeister als Schwerpunkt zu ordnen, als auch schon der Fürst eintrat. Die rechte Hand mit dem weißumwundenen Handgelenk hing ihm in einer schwarzen Schlinge, und daß er wie eine Bulldogge aussah, das war eine echt französische Verleumdung, er sah aus wie ein Soldat nach einer Schlacht, ja, wahrhaftig, mit einem Siegerlächeln auf dem Gesicht.
Was der Bürgermeister von tiefer Empörung und flammender Zornesglut der Gutgesinnten und von irregeleiteten Mordbuben vorbrachte, das hörte Bismarck mit diesem ein wenig über den Dingen schwebenden Lächeln, mit einer wie aus Pulvergewölk vorbrechenden Sonnenhaftigkeit. Sein Dank war kurz. »Und keine Umstände, meine Herren! Es ist ja nichts geschehen, zwei Rehposten links und rechts neben die Pulsader. Ein Böttchergeselle aus Neustadt-Magdeburg, wie ich höre, bei den Faßdauben wächst kein Wilhelm Tell! Es gehört ja nicht gerade zum Kurgebrauch, aber das Geschäft bringt das nun einmal so mit sich.«
Sogleich brach er die feierliche Allgemeinheit in zwangloses Einzelgespräch auseinander. »Professor!« sagte er, indem er mit der Linken den Knopf von Bellachinis Frack faßte, »ist das schön von Ihnen? Wo war Ihre Geistesgegenwart? Sie sind ja dabeigestanden, warum haben Sie die Kugel nicht aufgefangen und mir zwischen den Fingerspitzen überreicht?«
Während sich der Magier aus Sachsen noch um eine Antwort mühte, war der Fürst schon bei Bucher, der sich vergebens hinten bei den Tertiariern barg: »Doktor … ich kann Ihnen nicht helfen … Sie sind nun meine einzige brauchbare rechte Hand!«
Engel öffnete die Flügeltüren des anstoßenden Raumes, als wäre er zum Erzengel ernannt, und dahinter wartete nicht ein Imbiß, sondern die ewige Seligkeit. Bellachini schob seinen Arm unter den Buchers: »Was sachen Sie, mei Kutester …? Ist das ein Mensch? Er ist Sie äben e Gigant. Wollen Sie ihm noch echappieren?«
»Ich?« fragte Bucher verwundert, als habe sich der Hexenmeister erkundigt, ob er darauf bestehe, von nun an die Erde um den Mond laufen zu lasten.