Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

24

Der Star Max pfiff leise den Chopinschen Trauermarsch, und der Herr Geheime Legationsrat außer Dienst Lothar Bucher riß das alte Blatt von seinem Kalender. Da stand auf dem neuen Blatt unter dem Wonnemondsdatum:

»Und wer im Frühling bitter ist und hart,
Vergeht sich wider Gott, der sichtbar ward.«

Das war von Jean Paul, also ein Sprüchlein aus dem Lavendelzeitalter, aber es klang so frisch wie am ersten Tag und seltsam heutig in den Maimorgen hinein, als sei es soeben aus Gottes Güte in das Dichterhirn gefallen und von diesem der Welt geschenkt worden.

Mit des Doktor Bucher Kalender hatte es eine seltsame Bewandtnis; es war gar kein gewöhnlicher Abreißkalender, wie man ihn in jeder Papierhandlung kaufen kann, mit dem Datum, den Auf- und Untergängen der Sonne und des Mondes, sowie den protestantischen und katholischen Namenstagen und den kirchlichen Festen christlicher und jüdischer Ordnung und allenfalls noch mit einem poetischen Sprüchlein vorn, sowie meinetwegen einem Küchenzettel hinten, sondern ein nach den Bedürfnissen des Doktor Bucher eigens zurechtgezimmerter. Freilich: das eigentlich Kalendarische, das Astronomische und Kirchliche konnte er nicht nach seinem Belieben verändern und mußte schon die Feste feiern, wie sie fielen; aber die poetischen Auf- und Weckrufe waren durchaus seinem Geschmack angepaßt, insofern er nämlich, wenn er einmal einen gefunden hatte, der ihm zusagte, ihn nicht etwa in den Papierkorb versenkte, sondern ihn aufbewahrte, um ihn dann dem nämlichen Tag des nächsten Jahres wieder auf- und beizukleben. Solcherart hatte der Doktor Bucher keinen Allerweltskalender, sondern ein schönes Schatzkästlein voll geistiger Erbauung und Ermahnung, das ihm vom Jahr selbst im Weiterrollen immer wieder durchgeblättert wurde, und da er nun schon ins fünfundsiebzigste ging, waren einige von seinen poetischen Leibsprüchlein über dem immer wiederholten Ausscheiden und Aufkleben kleine, steife, vergilbte Pappstreifchen geworden.

Da lag nun das neue Kalenderblatt mit dem alten, vergilbten Sprüchlein vor ihm, jung und abgetragen zugleich, und fragte deutlich vernehmbar: »Und du?«

Bucher wandte den Blick von dem Mahner und trat an das Fenster; aber da war im Park ein blühender Kastanienbaum, der fragte ungefähr dasselbe wie das Kalenderblatt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er mußte sich zur Rechenschaft bequemen.

»Ich bin nun bald fünfundsiebzig«, dachte er, »und das Schwabenalter habe ich fast doppelt erreicht. Aber darum bin ich um nichts klüger geworden. Ich habe mich wieder einfangen lassen. Ein gebranntes Kind fürchtet das Feuer, aber ein richtiger Gimpel geht zweimal auf den Leim. Hochansehnliche Festversammlung, die Ähnlichkeit mit dem Gimpel ist unzweideutig festgestellt, denn der Doktor Bucher, der schon außer Dienst war, ist wieder eingerückt. Den kleinen Rest Welt, der mir noch verblieben ist, habe ich preisgegeben, verraten an Papier und Tinte. Was nützt mir Gottes Gegenwart im Frühling, wenn ich die alte Plage wieder auf mich genommen habe, mit Vorsagen und Nachschreiben und Reinschreiben, als läge ich noch immer an der alten Legationsratskette im Auswärtigen Amt. Darüber muß eine Seele wohl mitten im Mai sich verhärten und die Frage tun, warum Gott eigens mir eine solche Gimpelhaftigkeit zum Strafgeschenk gemacht haben mag.«

Die Entgegnung des Kalenderblattes und des Kastanienbaumes wurde durch ein Klopfen abgeschnitten, und Graf Herbert trat ein, mit dem milden, ernsten Gesicht, das er immer trug, wenn nicht die Gegenwart des Vaters seinen inneren Menschen in Spannung hielt.

»Wie geht's, lieber Doktor?« fragte er.

Der Doktor aber war keinen familienhaften Berückungen zugänglich: »Schlimm genug!« Er hielt dem Grafen seine verkrümmte, von Gichtknoten an den Gelenken geschwellte Hand vor Augen. »Da sehen Sie nur. Mit so einem elenden Werkzeug ist die Arbeit kein Vergnügen.«

»Wir wissen es«, sagte Graf Herbert bedrückt, »aber wir dachten, Ihre alte Freundschaft, Ihre bewährte Treue …« Er sah den Redensarten auf den seichten Grund, sein Feingefühl ließ ihn angesichts des mürrischen alten Mannes abschwenken: »Ich denke, es müßte für Sie doch eine Freude sein, an seinem Testament mitzuarbeiten.«

»Testament? Testament?« brummte Bucher, gegen alle Werbungen ankämpfend, »es wird Zeit, an mein eigenes zu denken. Ein Tag geht nach dem anderen hin«, sagte er mit einem Blick nach dem Kastanienbaum, und mit einem zweiten nach dem Kalender setzte er hinzu: »Wer weiß, ob ich noch einmal das Blatt dieses Tages abreißen werde.«

Die Züge des Grafen nahmen Zurückhaltung an, sein Stolz auf den Vater verbot allzu scharfes Drängen: »Es ist doch sein Vermächtnis an Deutschland«, sagte er und schied damit einigermaßen dieses Vermächtnis von jedem anderen Testament eines Sterblichen. »Es ist für die Geschlechter nach uns bestimmt.«

»Es wird aber nichts daraus«, fuhr der Doktor los, »ich fürchte, es wird nichts Rechtes«, mäßigte er sich selbst sogleich, »sehen Sie, es sind keine Akten da; die braucht man doch, wenn man für die geschichtliche Richtigkeit einstehen will. Die Aufzeichnungen des Fürsten genügen nicht; so gut sein Gedächtnis ist, so hat er doch nicht alle Einzelheiten behalten. Er wiederholt sich, schweift ab, verliert sich in Nebendinge.« Er spitzte die Finger und stach nach Professorenart alle Fehler an: »Diese Gedanken und Erinnerungen sind voll von prächtigen Einzelheiten, aber es fehlt die Komposition … es wird nichts Ganzes.« Er unterbrach sich, mit einem Blick nach der Zeugenschaft des Himmels: »Dieser Doktor Schweninger hat etwas Schönes angerichtet.«

Graf Herbert wich noch weiter in seine Zurückhaltung: »Es soll doch kein Roman werden, sondern ein Brevier. Nennen Sie es eine politische Bibel, wenn Sie wollen. Und dann«, fuhr er, wieder näherkommend, fort: »wäre es auch wirklich nichts … wäre es auch eine unnütze Arbeit … es ist doch eine Arbeit im alten Stil … Gestaltung der Weltbegebenheiten … nicht mehr vorschauend, aber doch rückschauend … eine Arbeit, Doktor, und die mußte dem Vater gegeben werden … verstehen Sie? Es stand schlimm um ihn … er hatte einen starren Blick bekommen … wir sahen die Risse und Sprünge im Bau. Irgend etwas …! Die Geestemünder haben ihn als ihren Abgeordneten in den Reichstag schicken wollen. Aber sollte er als Wilder umherlaufen, ohne Anhang, ein Gespött seinen alten und neuen Feinden? Oder sollte er in einer Partei unterkriechen, er, der sein Leben lang alles Parteiunwesen so bekämpft hat?«

Der Doktor Bucher hatte dem Grafen gänzlich ungesittet den Rücken zugekehrt; aber es war ihm lieber, ungesittet zu erscheinen, als sehen zu lassen, was ihm angetan wurde. Angesichts der schmalen Schultern des alten Mannes, seines gekrümmten Rückens und der schlaffen Haut seines Nackens kam plötzlich ein brennendes Mitleid über Herbert. Nicht jeder trug das Alter und den Verfall so wie sein Vater, und es war auch eine Art von Heldentum, sein letztes Lichtstümpfchen auf einem Arbeitstisch für einen anderen auszubrennen. »Wir haben auch unser Opfer gebracht«, sagte er mit einer unbeholfenen Handbewegung, die niemand sah, als ein kleiner goldgerahmter Spiegel, »Rantzau und ich … wir sind aus unserer Laufbahn getreten … der Kaiser wollte mich nicht gehen lassen … aber es war mein Vater, den er weggeschickt hat …!« Es war ihm schwer, viele Worte von sich zu machen, denn er hatte den Schlagschatten eines riesenhaften Lebens über seinem Dasein gefühlt; aber hier galt es einem anderen, nicht sich selbst: »Es war nicht leicht, Bucher … Rantzau und ich … man will wirken, man will dieses bißchen Verbrennungsprozeß in Taten umsetzen … wir haben unsere Tat geopfert … im Umkreis eines Großen muß vieles untergehen … von Ihnen wird nur Ihre Ruhe verlangt …«

Es war kein Wort hinzuzufügen, Herbert wußte es, er sah es an der Haltung der Schultern, an den Händen, die auf dem Rücken lagen, diesen verkrümmten, gichtisch geschwollenen Händen, an dem Hineinsinken des ganzen Körpers in den Boden, als sei ihm eine Last aufgelegt worden. Grün leuchtete der Kastanienbaum ins Zimmer, und der Star Max, der die ganze Zeit über auf einem Bein gesessen hatte, mit kleinen Wendungen des spitzen Schnabels von einem der Sprechenden zum andern, tat einen unvermuteten Hopser zum Futternapf, als sei er ein plötzlich herabfallender Schlußpunkt.

Sachte verließ Herbert den Raum, stand vor der Tür und sah nach der Nummer am oberen Balken, die noch aus den Spechtschen Zeiten stammte, aus den Gasthofszeiten des Baues. Er lauschte, aber er hörte keinen Laut, als das Schnabelwetzen des Stares an den Gitterstäben des Käfigs. -


 << zurück weiter >>