Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7

Die Dohlen spazierten in kleinen Gruppen über die Wiesen des Parkes, äugten bisweilen schief in die Regenwurmlöcher hinein, wandten mit dem Schnabel die herbstlichen Blätter um, mit denen der Rasen sich zu bedecken anfing, und gaben so Bismarck Anlaß, in seinen Gedanken über sie fortzufahren. »Da wächst ein Geschlecht nach dem anderen kräftig heran«, dachte er; »es ist eine Erziehung, wie es sich gehört, Freiheit und Gesetzlichkeit in rechter Verteilung; bei uns muß es immer irgendwohin übertrieben oder zugespitzt werden; so bekommen wir auf der einen Seite die Paragraphenangst oder auf der anderen den roten Koller und dorren entweder auf der einen ab und schrumpfen ein oder verdünnen uns auf der anderen ins Uferlose vor lauter freier Geistigkeit und Umstürzlerei.«

Sultl kam auf dem Kriegspfad angesaust und sprengte wie ein apokalyptisches Getier mitten in den ehrbarlichen Dohlenwandel, worauf dieser sogleich abgebrochen und mit lebhaftem Flügelgeknatter in die Baumwipfel verpflanzt wurde. Da saßen sie oben und schauten kühl und zugeknöpft auf die ebenerdigen Begebenheiten herab, während Sultl von seinem letzten Sprung her mit vier gespreizten Beinen wie eingewurzelt stand und die Zunge seitwärts aus dem Maule hängen ließ; wobei es ihm offenbar durch den viereckigen Kopf ging, daß es mit dem Fliegen doch eine besondere Schöpfungsbosheit auf sich habe.

Bismarck setzte den Knotenstock ein, den hartgeschnitzten Fuchskopf der Krücke fühlte er in der inneren Handfläche und schritt den Weg entlang, der zur Baumschule führte. Das war auch eine Art von Erziehung, aber mehr eine königlich preußische von der Plamannschen Spartanerweise, wie man sie selber mitgemacht hatte. Man wuchs in Reihen heran, dann aber wurde man, wenn man die nötige Stärke erreicht hatte, in gutes Erdreich versetzt, wo man nach eigener Kraft und Gelegenheit von Sonne und Wind wachsen konnte. Und auch hier war das Menschenwesen wieder anders als das Baumwesen, insofern diesem durch einen sorgsamen Förster das erstickende Unkraut ferngehalten wurde, während über jenes kein Wildhüter gesetzt war, der das unnütze Gerank und Gewucher ausrodete und fortwarf, wie es sich um jedes begnadete Wachstum schlang und den gesundesten Stämmen das Mark aussog.

Es war dieses Jahr ein richtiges und echtes Jahr der Wende und Entscheidung, in dem allerlei Altes sich schuppte und abstreifte und allerlei Neues, das schon länger in Blut und Hirn gelegen hatte, zu dunkeln Formen sich in der Stille bildete, als wolle man aus dem alten Menschen durchaus in einen neuen hinein. Das war aber eine recht schmerzhafte Bildung, und empfindlicher als je stachen alle Härten und Spitzen der Welt; bedürftiger war man der Wüste und des Berges Sinai, wenn auch nicht zu Fasten und Bußetun, so doch zu Alleinsein und Gesprächen mit Gott. Die Kugeln des Böttchergesellen Kullmann waren zwar vorbeigegangen, aber man hatte doch eine Herzenswunde davongetragen; die kam aus keinem leibhaftigen Mordgewehr, sondern von dem übeln Geläut der »Reichsglocke«, und Herr Joachim Gehlsen, der Reichsglöckner, konnte sich rühmen, seine breitmäulige Verleumdung recht wirksam hinausgeschwungen zu haben. Diesmal hatte man Herrn von Bleichröder zusammen mit Bismarck an den Klöppel gebunden und hatte die alte Mär ausgeläutet, daß den beiden der große Krieg ein großes Geschäft gewesen wäre. Von den Franzosen gesagt, war das nur ein Zorn und ein Fäusteballen und ein übler Gestank; von deutschen Landsleuten gesagt und geglaubt, war es ein bitteres Weh im Herzen, und der letzte Rest der Freundschaft mit Moritz war bei diesem Geläute in Trümmer gegangen. Dann war dieses Jahr mit einem Zusammenstoß eingeleitet worden, bei dem es sich nicht wie früher oft um ein Vorgehen und Zurückweichen gehandelt hatte, sondern in allem Ernst um Bleiben oder Gehen. Aber es war zum Bleiben entschieden worden, der Kaiser hatte auf Bismarcks Entlassungsgesuch sein »Niemals« geschrieben, man blieb an sein Werk geschmiedet und rüstete sich zu ihm in Einsamkeit.

Nach dem Durchschreiten der letzten Buchenbreite sah Bismarck die Fuchsmühle vor sich, wo ihm der Wald zu Papier gewandelt wurde. Das gestaute Wasser stürzte über die Räder, dumpf schlugen die Stampfen auf. Er trat unter die Tür, kein Mensch war zwischen den Bottichen mit Holzbrei zu sehen, ganz allein machte das Mahlwerk seine Gänge. »Ist es nicht schade«, dachte er, »lebende Bäume in Papier zu zerstampfen, Welten von Sonnenwachstum und Erdsäften zu zerkneten, um darauf Lügen zu drucken?« Dabei aber sagte fast zugleich ein kleines Männchen, das wie eine Ziffer aussah, mit recht unangenehmer Deutlichkeit in ihm: »Belieben Euere Durchlaucht zu bedenken, daß dieses schöne Varzin fast nichts einträgt, daß diese und die andere Mühle für die fürstliche Kasse durchaus notwendig sind, denn das Holz, mein Gott, es wächst Holz genug in Pommern, und wer Masten, Balken oder Bretter braucht, fragt nicht, ob sie in einem fürstlichen Forst gewachsen sind oder nicht. Und was das Getreide anlangt, so wissen Euere Durchlaucht selbst am besten, wie es mit unseren Eisenbahnen steht, und daß sie Frachtsätze haben, mit deren Hilfe das ausländische Korn auf unseren Märkten billiger zu haben ist als das einheimische.«

Das Peinliche war, daß das Ziffermännlein mit seinem dürren Exkurs traurig recht hatte, und darüber schien es dem Fürsten, als sei in dem Gang des Mahlwerkes unter dem schwarzen Mühlgebälk etwas unabwendbar Schicksalsmäßiges, als könne da menschliches Hinzutun oder Abstellen nichts daran ändern, und es müsse ihm eben in der Ode sein Lauf gelassen werden.

Auf schmalem Brett ging er über das Mühlwehr, von Sultl hart bedrängt, der durchaus vorausrennen wollte. Dunkel kam das Wasser daher, mit vielen roten und gelben Herbstblättern auf dem Rücken, die von den Nachtfrösten abgebissen worden waren.

So war es mit dem Getreide, an dem er selbst seine eigenen Erfahrungen hatte, so war es aber auch mit dem Eisen, und so war es mit vielen anderen Dingen, in denen das liebe Deutschland dem Fremden Vorzug und Vorteil gab, und darüber war ein betrübliches Schwächegefühl in seine Knochen gekommen und hakte sich mancher gesunde Betrieb matt hingelegt, um zu sterben. Wie der Fürst so weiter dem Wasser entgegenschritt, da war es, als sprächen aus Busch und Erde und dem Wassergeraun unzählige Stimmen zu ihm, die waren im einzelnen unverständlich, im ganzen aber doch stark vernehmbar durch das, was ihnen aus dem Manne heraus entgegen und gleich mit ihnen klang. »Nein«, sprach er in seinen Tiefen, »wir wollen kein Mühlwerk sein, das ewig im gleichen Takt weiterläuft, ich will in die Räder greifen und sie nach der Uhr der Zeiten stellen.«

Was die Einsamkeit anging, die zum Heranreifen der Kraft nötig war, die wäre in Varzin zu haben gewesen, und nicht einmal die Nächsten des Lebenskreises störten darin. Vor der Zudringlichkeit der Verehrer entwischte man durch die geheime Ausfallspforte in den Park, und wer denn durchaus nicht vermieden werden konnte, den ließ man so recht glatt über sich hinwegreden, ohne die Poren aufzutun. Johanna verstand mit dem Herzen. An ihrem unbedingten Ja zu allem konnte kein Feuer angerieben werden, an dem irgendeine große Frage hätte geschmolzen oder gehärtet werden können. Zudem gehörte es zu ihren Lebensgewohnheiten, immer um irgendwen in mütterlichen Sorgen zu sein, und zur Zeit war es Bill, dessen Bein von irgendeinem bösartigen Hundevieh zerbissen war und durchaus nicht heilen wollte, wobei noch dazu allen harmlosen Umständen zum Trotz das Gespenst der Hundswut durch die Nächte seufzte. Herbert war ein treuer Helfer, dem alles einmal Beschlossene unbedenklich anvertraut werden konnte, der aber auf einer zu jugendlichen Lebensebene stand, um dem Vater mit Bausteinen dienen zu können. Und Marie, die Arme, war Johannas zweites Sorgenkind, sie litt in ihrem Herzen an einer weit ärgeren Wunde als Bill. Den Geliebten und bereits mit ihrem Verlöbnis Beglückten hatte ihr der Tod genommen; davon trug sie leere Augen und blasse, kalte Hände, und all ihr Tun war von beklemmender Zusammenhangslosigkeit mit ihren sonstigen tapferen Bekenntnissen zum Leben.

Blieben für den in sich Gewandten die Gespräche mit Gott, die waren seinerseits keineswegs demütig und kleinmütig geführt und von seiten Gottes von einer brausenden und gewitterhaften Zornmütigkeit. Nicht etwa darum, weil Gott zur Zentrumspartei gehört und Bismarck auch als diokletianischen Christenverfolger angesehen hätte, dem das Handwerk gelegt werden müßte. Darin war Bismarck mit seinem Gewissen und seinem Schöpfer einig, daß der Glauben unangetastet bleiben solle, wenn auch seine irdische Erscheinung auf dem engen Schauplatz dieser Welt mit anderen irdischen Erscheinungen ins Vertragen und Gleichgewicht gebracht werden müsse. Nicht darum also schwoll Gottes Zornmut gegen den Ringer mit ihm, sondern darum, weil diesem Gotteskind ein anderer Glaube vollständig abhanden gekommen war: der Glaube an den Menschen, welcher trotz aller wohlbedachten Unzulänglichkeiten immerhin als die letzte und beste Form, die aus der Hand des Ewigen hervorgegangen war, geschätzt sein wollte. Bismarck aber war zu einem großen Verächter geworden, der aus seinen Erfahrungen ein spöttisches Tränklein als Quintessenz abgezogen hatte und in diesem Punkte starrsinnig allen Mahnungen der unendlichen Güte entgegenstand.

Stimmen kamen durch den Wald, man war den Mühlgraben entlang zum Teich gelangt, da war eine lebhafte Bewegung und geschäftiges Treiben. Der Teich war zum Herbstfang abgelassen worden, nun wateten die Männer in langen Wasserstiefeln durch den Schlamm und trieben die Fische durch das seichte Wasser in einer Ecke zusammen. Dort war bereits ein dichtes Gewimmel von Schuppenrücken, runde Mäuler schnappten nach Luft, ab und zu schnellte ein Fischkörper in verzweifeltem Fluchtversuch aus dem Gedränge, fiel klatschend zurück und wand sich eine Weile auf dem Rücken der Gefährten, bis er in eine enge Lücke glitt und wieder in der Menge verschwand. Das war nun die dritte besinnliche Ereignung auf diesem Spaziergang, nach Dohlen und Bäumen nun auch die Fische, und vielleicht war hierin die besondere Bezüglichkeit auf die Menschenweise am besten klargestellt. »Kein Entkommen«, dachte Bismarck, »sie werden vom Unbekannten zu einem Haufen zusammengetrieben, und es nützt nichts, gegen den Himmel springen zu wollen, er bleibt unerreichbar, und man fällt wieder in seinen Haufen zurück. Immerhin, es geht alles ohne Beißen und Bosheit vor sich, und insofern hat auch in diesem bildmäßigen Fall der Mensch wieder seinen traurigen Vorzug vor den Brüdern in Gott.«

Inzwischen griffen die bestiefelten Männer mit beiden Armen in das Gezappel, warfen die Gefangenen in Körbe und trugen sie dann zu den wassergefüllten Bottichen am Teichrand. Sultl glaubte sich berufen, bei dieser aufregenden Angelegenheit in seiner Weise mitzuwirken; er rannte rund um den Teich, und wenn er irgendwo einen Fisch auf dem Trocknen sah, wie er in seiner schwanzschlagenden Hilflosigkeit dalag, spreizte er die Beine und bellte das fremdartige Gebilde gesinnungstüchtig an.

Der Oberförster zog den Hut vor dem Fürsten und steckte die Pfeife in die Tasche der Lodenjoppe. »Im vorigen Jahr war's besser. Die Ottern haben bös gewirtschaftet.«

»Lassen Sie die Ottern«, sagte der Fürst, »das sind tüchtige Kerle, und sie haben ihre Aufgabe.« Nach dieser für einen Förster nicht ohne weiteres verständlichen Äußerung rief er Sultl zu sich und schritt auf dem Damm wieder in den Wald. Von einer kleinen Lichtung sah er auf den Teich zurück, und der Hund stellte sich neben ihn und tat dasselbe, nicht ohne weiteres davon überzeugt, daß er seine Aufgabe da drüben voll und ganz erfüllt habe, ja sogar mit einem leisen Zweifel, ob es nicht angebracht sei, noch einmal zurückzulaufen und sich noch einmal und mit mehr Nachdruck an der Begebenheit zu beteiligen. Aber da fühlte er sich am Halsband gefaßt und hörte die Stimme des Herrn. »Paß auf, Sultl!« sagte der Herr, »kannst du mir sagen, ob Schurke ein Injurie ist? Ich meine nicht dich -«

Sultl hatte den Kopf gehoben und verstand soviel, daß da etwas nicht ganz in Ordnung war. Er ließ sich auf die Hinterbeine nieder, aber das Sitzen vertrug sich schlecht mit seiner augenblicklichen Verfassung, die mehr auf Bellen und Herumteufeln gerichtet war; unruhig wetzte er mit dem Hinterteil, und während seine dreieckig gestutzten Ohren dem Herrn zugewandt blieben, konnten seine lichtblauen Augen nicht von der außerordentlichen Veranstaltung im Teich abkommen.

Bismarck aber ließ das Halsband nicht los. »Wir fahren zwischen Klippen dahin, und sie wollen, daß man den Kurs unverrückt festhalte. Ich soll das Steuer nicht herumwerfen dürfen, denn sie haben ihre Theorien darüber, wie man am besten durchkommt, und es gibt nicht wenige, die glauben, so einer richtigen und fein zugespitzten Theorie müßten die Klippen ausweichen. Und die ganz Großartigen sagen, eher dürfte man an den Klippen Schiffbruch leiden, als sie klug vermeiden, und darin erblicken sie den deutschen Charakter. Sie werden über Feigheit schreien - ich höre, wie sie über Feigheit schreien werden - bin ich feig, Sultl? Sie werden sagen, ich sei doch nach Canossa gegangen, und ich hätte die Farbe gewechselt. Aber es war mir nur um feste Grenzen zu tun, und wo so wichtige Dinge auf dem Spiele stehen …«

In diesem Augenblick fühlte Sultl den Griff an seinem Halsband sich lösen; und da in diesem selben Augenblick eben einem Korb der Henkel riß, und ein ganz wahnwitziges und silbern springlebendiges Getue entstand, mit viel Geschrei und Gelächter am Teichrand, übermannte ihn das Bewußtsein seiner höchsteigenpersönlichen Sendung so sehr, daß er aufsprang und, sich selber immer um einen ganzen Hund voraus, hinuntersauste.

Bismarck sah ihm ärgerlich nach, dann lächelte er und ließ den Rest seiner Gedanken lautlos in den Frieden des Waldes verrinnen.


 << zurück weiter >>