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5

Der Herr Geheime Legationsrat Bucher lag dem Leibe nach auf dem schmalbäuchigen Sofa seiner Arbeitszelle, sein ermüdeter Geist aber wanderte zur Erholung unter Palmen von Honduras. Das Sofa war ein Überbleibsel aus der Zeit, da dieses Haus Nummer 76 der Wilhelmstraße zu Berlin noch dem russischen Gesandten Alopäus gehört hatte, und war mit der antikischen Strenge und Herbheit seiner Linien mehr auf Haltung als auf Bequemlichkeit bedacht, als ein richtiges Kind seiner Zeit, die auch dem Alltag einen heroischen Stil zu geben beflissen gewesen war. Mit seiner geraden, steifen Lehne und den beiden Rollen siebenten Härtegrades vorne und hinten sah es wie eine stygische Gondel aus und war überhaupt, rund heraus gesagt, ein Instrument zum Abgewöhnen.

Seit zehn Uhr morgens aber hatte der Kanzler seine Augenbrauen gedreht, der rotgebänderte Klingelzug im ersten Stockwerk hatte fast ununterbrochen gerufen, zwölfmal war der Doktor Bucher oben vor dem Schreibtisch, vor diesem Belagerungsgeschütz, dieser Arche Noah gestanden, im glühenden Anhauch des Vulkans, und am Abend eines solchen Tages konnte auch das alopäische Marterbrett nicht hindern, darauf in Schlaf zu verfallen. Die zehn mageren Londoner Verbannungsjahre hatten dem einstigen Revoluzzer den Feuergeist ausgetrieben, der Spiritus des Jahres achtundvierzig war verflogen, und indem Bucher der gepriesenen Freiheit Englands in die unsauberen Hinterkämmerchen schaute, gewann er gleichzeitig die richtige Fernsicht auf das deutsche Vaterland und überzeugte sich dabei, daß Einreißen ganz gewiß ein leichteres Geschäft sei als Aufbauen. Dabei war in der Kümmerlichkeit jener Zeit freilich auch ein gut Stück Kraft draufgegangen, und der Mann, der nach zehn Jahren in die Heimat zurückkehren durfte, um beim Bauen mitzuhelfen, war ein schmächtiger Junggeselle mit schwachem Magen und enger Kehle. Aber was ihm verblieben war, das hatte er dem großen Baumeister dargeboten, bereit, sich für ihn totzuarbeiten, und manchmal schien es, als sei es gar nicht weit davon.

Was aber die Mangrovewälder und Zuckerrohrfelder von Honduras anlangte, so war ein Stück davon nicht etwa bloß Traumland, sondern richtige, dem Doktor Lothar Bucher eigentümlich zugehörige Wirklichkeit zufolge eines verbrieften, versiegelten und beglaubigten Kaufaktes. Dort drüben bei den Mestizen und Kreolen lag seit mehr als zehn Jahren ein Abschnitt Welt, den man noch niemals gesehen hatte, auf den man sich aber jederzeit zurückziehen konnte, wenn es hier irgendwie schief ging. Vorläufig genügte er als Zuflucht in den Hintergründen der Zeit, als letzter Rest jugendlicher Freiheitsromantik und zusammen mit der Botanisiertrommel und den Kanarienvögeln als farbige Verzierung dieses steinigen Gebirges von unablässiger, zermalmender Arbeit.

Mitten in die exotische Landschaft hinein krachte von jenseits des Schlafraumes ein unmißverständliches Räuspern der Wachheit. Doktor Bucher tat die Augen auf, zog die Beine mit der Vorsicht an sich, die auf der stygischen Gondel vor schnellen Bewegungen warnte, und stand auf den Füßen vor Moritz von Blanckenburg.

»Sind Sie endlich gekommen?« fragte er mit der raschen Gesammeltheit eines, dessen Schlaf Unterbrechungen aller Art gewöhnt ist. »Der Chef hat schon dreimal nach Ihnen gefragt.«

Blanckenburg murmelte etwas von Verhinderung und Sitzungen und schloß die Frage an, ob der Herr Geheime Legationsrat wisse, um was es dem Fürsten zu tun sei; darum habe er zuerst hier vorgesprochen, damit er vorbereitet komme. Aber Bucher machte sein aufrichtigstes Verheimlichungsgesicht, wußte von gar nichts, zog den schlaftrunkenen Rock zurecht und bat zu folgen. Sie durchschritten die engen Kammern, in denen um diese späte Stunde die Lampen auf den Schreibtischen trübsinnig einsam vor sich hin stanken, stiegen die Treppen hinan und traten durch die Glastür, hinter der Theiß mit einem Federmesser an seinen Nägeln herumschnitt. Das Federmesser verschwand in der Westentasche, die Brust warf sich dienstlich streng in die weiße Hemdbrust im Frackausschnitt. Blanckenburg hatte noch einiges Fragebedürfnis, aber Bucher hatte sich bereits hinterhältig diplomatenhaft verzogen, war einfach ohne Abschied von dannen geklinkt, und da war ja auch Theiß schon wieder, eine Tür öffnete sich breit, man trieb ohne Gnade und Barmherzigkeit im kleinen Kahn auf brausenden Wassern.

Nun gut und justament, und man war auch wer, und das Bockshorn war noch nicht gewachsen, in das man gejagt werden konnte.

Bismarck aber schien gar nicht der grimme Hagen und heimliche Heide, als den ihn die Kreuzzeitung von Partei wegen hinstellte, sondern sah eher wie ein überwachter und geplagter Professor aus, mit seinem Stubenhockergesicht und seinen zerzausten Augenbrauen und der denkerisch zugekanteten Stirn. Freilich, als er aufstand und hinter seiner Verschanzung von Zeitungen hervorkam, da merkte man schon, daß er für einen Professor etwas zu überlebensgroß geraten, und daß nicht etwa der Mann nach dem Schreibtisch, sondern der Schreibtisch nach dem Mann gemacht war, und daß dieser jenes zweieinhalb Meter Breite und zwei Meter Tiefe ohne alle Anstrengung vertrug.

»Gut, daß du gekommen bist, Moritz«, sagte er, und das war wie einst in den Kniephofer und Kardeminer Zeiten, wenn es etwa um eine schwärmerische Mondscheinbowle oder ein niederländisch gefräßiges Schweineschlachtfest ging. »Es war eben recht einsam geworden … bei Papier und nichts als Papier … und noch dazu so üblem wie dem da.« Er warf einen rechten pommerschen Junkerblick nach dem verachtungswerten Zeitungszeug, das da neben dem Schreibtisch hingeworfen lag, nicht etwa sorglich zusammengelegt und wieder in die Brüche gefaltet, wie es ein frommer Zeitungsleser tut, der mit Behagen und Einverständnis sein Blatt bis ans Ende gekostet hat, sondern irrtümlich zusammengeballt und zerknödelt, als seien die Fäuste darüber zu heiß geworden.

Moritz von Blanckenburg bemerkte, daß in diesem grausigen Papiertumult der blaue und rote Stift wacker gefochten hatten, und daß mancher Artikel mit einem dicken Strich zur Strecke gebracht war, andere aber wieder durch ein Zeichen an der Stirn gesondert waren, man wußte nur nicht, ob wie Kain oder wie der heilige Franziskus.

Eine Freundeshand lag auf Blanckenburgs Arm. »Du hast dir die Mähne nehmen lassen, Moritz, und den weißen Bart? Brav! Es ist die rechte Zeit zum Haareschneiden: zunehmender Mond. Nein, wirklich, darauf soll man sehen. Mein Oberförster in Varzin schlägt keinen Baum, der aus dem Stumpf noch treiben soll, anders als im ersten Viertel. Wenn der Stock aber gerodet wird, dann kriegt der Baum im letzten Viertel die Axt. Försterweisheit! Bei mir freilich hilft alle Försterweisheit nichts mehr, und in keiner Hexenküche der Welt gibt's einen Balsam für dieses Haupt.« Er fuhr wehmütig über die Kahlheit seines Kopfes, dem nur im weiten Kranz um den Scheitel noch ein wenig mühselig dünner Flaum wucherte.

»Na ja! … Nicht hier«, er drängte Moritz von dem Stuhl ab, nach dem dunkelroten Schlafsofa unter den Kaiserbildern, »dort sitzen die Gesandten, Botschafter, Abgeordneten, Finanzleute und sonstiges Besucherzeug. Es ist noch kein Freund dort gesessen … wollen nur immer was … Ja, was meinen strahlenden Gipfel betrifft, da hilft kein zunehmender Mond mehr!«

Moritz rührte sich nicht, er saß da, hielt die Ohren steif und krampfte die Hände um das Steuer seines kleinen Kahnes, daß er ihn sicher durch die Wirbel brächte.

Der Fürst hatte die Hände auf den Rücken gelegt und sah dem Kaiserbild über Moritz ins Gesicht. »Hast du das auch bemerkt, daß die Jahre immer kürzer werden? Zuerst tanzten sie schön langsam mit uns rundum, ein gelassener Reigen von Monaten, jetzt haben sie Beine wie die Windhunde und hetzen den armen Hasen vom Leben zu Tode. Weiß Gott, wie sich saubere Frauenzimmer in solch bissige Köder verwandeln können. Ich bin verbraucht, Moritz, meine Kraft ist aus, ich ducke mich in den Krautacker und warte, bis mir der nächste Jahreshund oder das nächste Hundejahr, wenn es so besser klingt, das Genick durchbeißt. Meine Gesundheit ist wurmstichig geworden; wir hatten so einen alten Kasten auf Kniephof; jedesmal, wenn man die Tür öffnete, wunderte man sich über die Haufen von Holzmehl, die da lagen. Das waren die Würmer, Moritz, die den Kasten zerfraßen. Du ahnst nicht, wieviel Holzmehl ich täglich vor meinem Bette finde. In diesen schlaflosen Nächten nagen sie mit Inbrunst an mir.«

Welcher Schauspieler, dachte Moritz, er beginnt mit Klagen, um mich mürbe zu machen. Er verhärtete sich, legte die Hände auf die Knie und sah Bismarck fest von unten an. Der Fürst nahm den Blick nicht vom Gesicht seines Kaisers. »Das Alter, Moritz, ist ein abscheulicher Feind, und die andern merken es vielleicht noch genauer, was es anrichtet, als man selber. Mein alter Herr - du ahnst nicht, wie alt der geworden ist. Das ist ein Ächzen und Stöhnen über jeden frischen Luftzug; am liebsten würde er alles sorgsam abschließen, und wenn er sich doch rühren muß, dann geschieht es so langsam, daß man fast immer zu spät kommt. Was für eine Mühe war das, ihn zu überzeugen, daß so ein Minister wie Mühler in dieser Kampfzeit nicht zu brauchen ist. Ich bin der Störenfried, der Quälgeist, der Unheilstifter, sie halten dort alle fest gegen mich zusammen, die Unterröcke machen Politik gegen mich, eine alte süße Gewohnheit, von der sie nicht lassen können. Wen ich nicht mag, den lobpreisen sie in allen Tonarten, und wen ich brauchen kann, den putzen sie zu, daß seine eigene Mutter vor ihm erschrecken könnte. Es gibt bei Hof keine schlechtere Empfehlung als die, bei mir gut angeschrieben zu sein. Und ich selber stolpere immer nur so am Rand der Ungnade dahin; wenn ich nur schon, in drei Teufels Namen, einmal fiele, daß das Getanze ein Ende hat. Da ist so ein Blättchen, das nennt sich ›Reichsglocke‹, dem bin ich an den Klöppel gebunden und soll zu Tode geschwungen werden. Das Ding hat einen recht übeln Klang, aber es läutet überall bei den hohen und höchsten Herrschaften, und, Moritz - es läutet auch im Schloß, sogar in zwei Exemplaren.«

Moritz sah auf die Teppichwiese zu seinen Füßen nieder, auf der in dunkelrotem Grund blaue, grüne und hellrote Streublümchen wuchsen, und preßte den rechten Arm fest an sich, damit nicht etwa die neue Nummer der hier so übel angesehenen Glocke herausfalle, die er dort in der Innentasche verwahrte. Es war Zeit, um die gefährliche Ecke herumzusteuern. »Warum hast du mich kommen lassen?« fragte er verstockt, um nur ja gleich deutlich anzuzeigen, daß er von all dem geheimen Regierungsjammer nicht im mindesten angegriffen sei.

Mit Befremden kam Bismarcks Blick von seinem alten Herrn auf den Freund herab. Was für ein bitterer, fremder Klang da an das innere Ohr gedrungen war, was für ein parteisteifer Klang von Unentwegtheit und Rechthaberei: »Ja so!« sagte er beklommen, stand in schmerzlich heller Blendung und tat dann die zwei Schritte zum Schreibtisch. Auf der Unterlage von rosarotem Löschpapier schnitt ein beschriebener Briefbogen ein schiefes Viereck aus. Moritz reckte sich ein wenig; das waren, weiß Gott, wohlbekannte Züge.

»Diesen Brief habe ich von Senfft von Pilsach bekommen«, Bismarck hielt das Blatt auf der flachen Hand, »er hat mich zur Buße, zur Demut und Einkehr ermahnt, hat mir das Beispiel des Erlösers vorgehalten und mir das Gericht Gottes angedroht, wenn ich auf meinem Wege fortfahre. Das ganze, liebe Hinterpommern erhebt seine Anklage gegen mich, es ist ein richtiges frommes Traktätchen daraus geworden.«

»Nun?« fragte Moritz, noch tiefer in seinen Parteipanzer verkrochen, daß kaum mehr ein kleines Stückchen Mensch hervorsah.

»Du kannst dir denken, daß er seine Antwort bekommen hat. Soll ich diesen pharisäischen Dünkel gegen mich unwidersprochen hinnehmen und seiner geistlichen Fürsorge meinen zerknirschten Dank abstatten? Auf mein Seelenheil bin ich schon ganz von alleine bedacht und brauche niemanden, der mir die Posaunen des Jüngsten Gerichtes schon in dieser Zeitlichkeit vorbläst. Zum Glück gibt's in der Bibel Sprüche für jede Art von Gelegenheiten, und ich habe ihm eines gefunden, das von Gottes Backenstreichen und von ausgeschlagenen Zähnen handelt.«

Das Briefblatt flatterte zurück und knickte ängstlich gegen das gewölbte Glas, unter dem die vergoldete Uhr ihr Pendelchen hin und her schwenkte, während der vergoldete spanische Maler stumpfsinnig daneben saß und den vergoldeten Pinsel gegen die vergoldete Tafel gezückt hielt.

Wahrhaftig, dieser Schreibtisch war, wie Bucher meinte, zweifach in seiner Wesenheit: Arche Noah, in die alle Drolligkeit und Absonderlichkeit dieser Welt unbedenklich einging, und Wurfmaschine, die alle Arten von Geschossen, groben und kleinen Kalibers, zurückschleuderte.

Bismarck rollte einen Polsterstuhl gegen das Sofa. Er sank zu tiefem Sitz herab, sein Gesicht war nahe an das des Freundes geschoben. »Das habe ich fragen wollen, Moritz, ob ihr alle so denkt wie Senfft von Pilsach? Ob das … sozusagen … konservative Parteimeinung ist?«

Eine Kardinalfrage, die auf ein echt bismärckisches Glatteis führte. Moritz sammelte sich und faßte Fuß: »Ja … gewiß denken viele so wie Senfft von Pilsach. Eine Parteimeinung besteht natürlich über so persönliche Dinge nicht.«

Langsam, wie eine leichte Frühlingswolke, zog ein Name durch Bismarcks Unbewußtes und warf einen rosigen Schein um sich her bis in diese trübe Stunde. Bismarck sann ihm nach, da schwebte er über den Rand, ein Freundschaftsname: »Ademar«, mit einem zierlichen Gewinde von Veilchen und Vergißmeinnicht und einem Geruch nach Jugend und Weltvergessenheit, gemeinsames Gut von vier Menschen, die wie aus gemeinsamer Wurzel aufgegangen waren. Jetzt hieß Ademar unten bei den Geheimen und Wirklichen Legationsräten, bei den Sekretären und Hofräten Gamaliel. Die wußten es nicht besser, aber es war Bismarck, als müsse es ihm gelingen, den alten Namen auf die Lippen des Freundes zu zwingen, durch Anspannung der Seele, als müsse er wie ein geheimes Losungswort auftauchen, das, einmal ausgesprochen, keinen Irrtum und kein Verkennen mehr zuließ.

Moritz aber schwieg, und es blieb dunkel und unbewegt in ihm.

Schwer schatteten die borstigen Brauen über Bismarcks Augen. »Ihr bezweifelt mein Christentum … Alle steht ihr auf der anderen Seite, alle Namen und Erinnerungen meiner Jugend sind von mir abgefallen. Senfft-Pilsach, Savigny, Kleist-Retzow, Gerlach, Thadden und - du …« Zerwühlt brach er ab.

»Deine Bundesgenossen machen dich verdächtig«, setzte Blanckenburg ungefüge hin.

Nun war man hart aneinander, Leib an Leib. »Meine Bundesgenossen, Moritz? Warum habt ihr mir die Gefolgschaft verweigert? Ihr, meine eigene Partei? Muß ich mir nicht meine Bundesgenossen suchen, wo ich sie finde? Für diesen Kampf um das neue Reich …«

Hörbar klapperte der Parteipanzer. »Es ist der Kampf um den Glauben. Der religionslose heidnische Staat streitet wider die Kirche. Dabei ist es Christenpflicht, ob das Bekenntnis nun römisch oder evangelisch ist, bei der Kirche zu stehen.«

Hatte der magische Name Ademar einen teueren Schatten aus dem Grab beschworen? Er war zwischen sie getreten, in seiner trauerbangen, sehnsüchtigen Schönheit, die Hände nach jedem von ihnen ausstreckend, wie die Lebende zwischen ihnen gestanden hatte, mit einem Übermaß von Seele, die sie Gott aufopferte, indem sie sie ihnen dahingab. Von dieser fast körperlichen Gegenwärtigkeit des Einst bedrängt, atmete Bismarck tief und schwer und wehrte sich durch ein Zurückweichen ins Gegenständliche.

Es trieb ihn von seinem Sitz, er trat zum Schreibtisch. Da stand eine Zigarrenkiste mit einer wunderschönen Göttin in Buntdruck auf der Innenseite des Deckels. Sie hatte ein griechisches Flattergewand an, das von einem unfühlbaren Wind nach hinten geweht war, so daß der schreitende Fuß in seiner wohlgerundeten Nacktheit zum Vorschein kam; lächelnd schwang sie einen Kranz, und damit man über die Bedeutung dieser mythologischen Persönlichkeit nicht im Zweifel sei, stand groß und breit darüber »Viktoria«. Die Zigarre aber, die von diesem klassischen Frauenzimmer überdeckt wurde, sah keinerlei antikem Gerät, sondern eher einer der Keulen ähnlich, wie sie vielleicht von den Chatten in den Teutoburger Wäldern geschwungen worden sein mögen. Bismarck reichte dem Freund die Kiste, der wehrte durch ein Kopfschütteln ab.

»Es ist der alte Kampf«, sagte Bismarck, »der seit Jahrtausenden nicht erlischt. Jedes Jahrhundert sieht ein wechselndes Gesicht und nennt ihn mit einem anderen Namen. Staat und Kirche, Gegenwart und Vergangenheit, Kultur und Rückschritt, oder von der anderen Seite gesehen; Sünde und Seelenheil, Unglauben und Glauben … es läuft alles auf den Gegensatz zwischen Arzt und Priester hinaus oder ins allerletzte vereinfacht: zwischen Leib und Seele. Soll der Arzt, der einem Siechen eben die gebrochenen Glieder zusammengeflickt hat, sich Vorschriften über die orthopädische Behandlung machen lassen? Ich komme von den Schlachtfeldern Frankreichs, Moritz, wo diesem armen Krüppel von Deutschland die durch Jahrhunderte getrennten Knochen durch die allerkostbarste Kur wieder zusammengeleimt und eingerenkt worden sind, und finde hier daheim eine Partei, die gegen den verjüngten Staat mobilgemacht hat. Wie sagt Windthorst? ›Wir sind keine konfessionelle Partei.‹ Was ist das Zentrum dann? die Partei der Besiegten und Unterworfenen, die Verschwörung aller Unzufriedenen. Und ich soll den Staat nicht verteidigen dürfen? Nicht mit leichtem Herzen habe ich den Handschuh aufgenommen, das darfst du mir glauben. Aber ich sehe da die Französlinge, die es nicht wahrhaben wollen, daß Frankreich besiegt ist, die Welfen, die uns das Jahr sechsundsechzig nicht verzeihen können und in ihrer rostigen Rüstung herumspazieren wie eine alte Waffenkammer, und die Polen, die das deutsche Wesen seit jeher hassen. Unsere Katholiken laufen in ihrer Verblendung mit, weil sie dem Reich unter Preußens Führung nichts Gutes zutrauen. Welches Schauspiel für unsere guten Freunde in Europa, welches Händereiben allenthalben, daß die Sieger untereinander zu raufen begonnen haben wie die geharnischten Männer, die aus den Drachenzähnen aufsprossen.«

Er schob die Keule, der Siegesgöttin in das kleine Rundloch einer eisernen Säule und kürzte das dünnere Ende durch einen festen Schlag. Blauer Rauch wolkte heftig vom Keulenkopf.

»Wir werden darin nicht übereinkommen«, sagte Blanckenburg, indem er sich erhob. »Es mag das sein, wie es will, dies steht fest, daß die Gesetze deines neuen Ministers Falk diokletianische Gesetze sind. Die Entziehung der Schulaufsicht öffnet dem Unglauben die Türen der Schule. Es ist eine neue Christenverfolgung.«

Traurig sah der Schatten von einem zum andern, seine gerungenen Hände flehten um ein wenig Verstehen von Mensch zu Mensch, aber er war in seiner reingeistigen Wesenheit machtlos gegen dieses Fremde, das plumpe Scheusal Mißtrauen mit seinen tausend scheelen Augen und seinen schleimigen Fühlern, die vortasteten und vor jeder Berührung zurückschnellten. Es hatte sich im Freundschaftstempel eingerichtet und spann graue Schleier zwischen die einst so heiteren Säulen. Die Wehmut hatte einen bitteren Geschmack von Zorn, die Jahre fletschten die Zähne und zerbissen das mürbe gewordene Band. Es war nichts mehr zu halten und zu bessern, alles nahm seinen mißfarbenen Weg, und als hätte das der Schatten endlich begriffen, so gab er das Wenige an Dichtigkeit, das er um sich zusammengerafft hatte, auf und wich mit einer wehklagend in der Luft zurückbleibenden Gebärde in sein heimisches Jenseits von allem Wissen.

»Ich frage mich umsonst«, sagte Bismarck in den Zusammenbruch, »was ihr da drüben macht, ihr preußischen Junker, ihr Pommern, Protestanten und Hüter des Staates? Ich bin wie der Mann vom Syrerland, über mir das wütende Kamel, unten im Brunnen der Drache und die Mäuse, die mir den Strick zernagen. Ihr könnt euch in der Gesellschaft aussuchen, was euch am besten zusagt.«

Das war kein mit Honig bestrichener Bissen, und Blanckenburg lehnte ihn ab: »Ich ziehe es vor«, sagte er klingenscharf, »auf dein Bild nicht näher einzugehen.«

Bismarck warf die Zigarre hinter sich, sie fuhr geradeswegs auf das porzellanene Schreibzeug zu und verzischte röchelnd in der Tinte. »Ihr seid Leute, die zu wenig zu tun haben. Es ist ein Jammer, wenn einer die Tage um und um dreht und nichts Gescheites mit ihnen anzufangen weiß; da kommt man leicht auf den Gedanken, sich die Zeit mit Rechthaben zu vertreiben. Euere Welt ist um einige Breitengrade zu klein, ihr habt Angst vor den Liberalen, als seien sie noch immer die Vorposten des Teufels in Deutschland. Ihr habt Angst um euere Partei und ihre Macht.«

Das war dem Pommern zu arg, denn er war einer von denen, die um so härter werden, je mehr man ihm mit Feuer zusetzt, selber einer vom Schlag derer, die sich im Widerstandslosen gern treiben lassen und an den Wehren und Schleusen heftig aufbäumen. »Das mußt du wissen, denn du hast selber Angst um deine Macht. Was heißt das, wenn du sagst, daß der Staat gefährdet ist? Es heißt: ich will nicht, daß man mir in die Töpfe guckt. Du sagst das Reich und meinst: Bismarck. Du bist ein Gewaltmensch, ein Tyrann, der unter Freiheit eben das versteht, was ihm paßt, dafür gelten zu lassen. Wir sind dir dahintergekommen, wir wissen, was wir von deinen Phrasen zu halten haben, du hast dich den Liberalen verschrieben, mit Haut und Haaren. Wir sehen es mit Schaudern, aber wir werden nicht zugeben, daß Thron und Altar verraten werden, daß wir vielleicht anstatt Gottes einen Demokratenhut anbeten und anstatt des Vaterunsers das liberale Glaubensbekenntnis hersagen müssen.«

So, das war einmal gründlich und bündig geredet, ohne jedes Blatt vor dem Mund, und somit war klar geworden, daß es keine weichliche Freundschaftsduselei gab, wo es um die höchsten Güter der Überzeugung ging. Zwei harte Pommernschädel krachten zusammen, und das Feuerwerk dabei war nicht von schlechten Eltern. Immerhin, es war etwas daran, wenn einer so brav auf der Mensur stand und für seine Farben focht. Im Studenten steckte doch noch immer ein kernhaftes Stück vom deutschen Menschen, und ein rechter Kerl tritt allerwege auch für den Blödsinn ein, den die Senioren gemacht haben, und wenn es der buntest gestreifte und gesprenkelte Blödsinn ist, und wenn er auch bis in die Tupfen als solcher erkennbar ist. Das war so üble Gewohnheit aus der taciteischen Zeit her, und daran war nichts zu ändern, basta und Streusand darauf.

So dachte Bismarck und sagte mit tunlichster Sanftmut, indem er der Siegesgöttin eine neue Viktoriazigarre fortnahm: »Weißt du, Moritz … man will ja doch Herr in seinem Hause sein …«

Aber Moritz von Blanckenburg war allzusehr in den konservativen Saft geschossen, als daß er noch zu bändigen gewesen wäre, er ging mit einer steifen Sekundantenverbeugung, ohne Händedruck, und Bismarck blieb die Einsamkeit mit dem Gefühl verbrämt, daß von den zwei Pommernschädeln sich der seine diesmal nicht als der härtere erwiesen habe.

Tiefsinnig hielt er die glimmende Siegeskeule zwischen den Fingern und starrte auf den Tintensumpf, in dem ihre Vorgängerin nach kurzem Kometenflug verzischt war. Dabei hing ihm das Band des Klingelzuges gerade vor der Nase herab wie ein rotwollenes Ausrufungszeichen; und als das Gesicht Bismarcks von den inneren Betrachtungen wieder zu den auswärtigen Angelegenheiten zurückkehrte, da nahm er besagten Klingelzug als eine Mahnung wahr, daß es spät in der Nacht und das Tagewerk noch keineswegs beendet sei.

Ob der Herr Geheime Legationsrat Bucher noch da sei, fragte er den schlafumflorten Theiß. Gewiß, der Doktor Bucher war noch da, und er wäre auch nicht nach Hause gegangen, solange der Fürst in seinem Arbeitszimmer war, und wenn er bis zum hellen Morgen auf der stygischen Gondel hätte schaukeln müssen.

»Hören Sie, Doktor«, sagte er, »das Ministerium Hohenwart in Österreich hat eine merkwürdige Richtung eingeschlagen. Die Slawen kommen dort auf Kosten der Deutschen immer mehr empor. In Rußland, wo man vor unseren angeblichen Absichten auf die baltischen Provinzen Angst hat, wird das natürlich gern gesehen, daß Österreich seine schlimmsten inneren Feinde stärkt. Fürst Gortschakow, der alte Geck, lacht sich ins Fäustchen. Ich möchte, daß diese Verhältnisse in unserer Presse ein wenig besprochen werden. Nicht in der offiziösen … da dürfen wir dem Ministerium Hohenwart nicht dazwischenfahren, aber sonstwo kann man sich darüber schon recht kräftig auslassen …«

Der Doktor Bucher stand da und huschte mit dem Stift in kleinen Flüchtigkeitszeichen über den Notizblock; der Fürst kramte das Geheimfach seiner Gedanken aus und rührte dabei träumerisch mit dem Zigarrenstumpf in der Tinte. Denn, dachte er so zwischen dem politischen Gespinst hindurch, wenn so ein Dreck einmal angerichtet ist, so hilft es nichts, ihn etwa durchs Tüchlein seihen zu wollen.

»Und das bitte ich mir aus«, fuhr er plötzlich herum, »daß mir künftig nichts lateinisch Geschriebenes mehr auf den Tisch kommt. Ich mag dieses steife, nüchterne Buchstabenzeug nicht, das daherkommt wie eine Gesellschaft befischbeinter Exzellenzen beim Ordensfest. Man soll mir auch die Depeschen in deutscher Schrift vorlegen. Die ist ein wenig verschnörkelt und unbequem, aber es wimmelt so fröhlich auf dem Papier, daß man seine Freude hat.«

Hierauf schlug die Uhr unter dem gewölbten Sturz die elfte Stunde, Bismarck zündete eine neue Siegeszigarre an und fuhr fort, dem Doktor Bucher, ohne Rücksicht auf dessen wankende Knie, seine Gedanken herunterzureden.


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