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In Stettin, wo sie zu Zeiten des alten Herrn von Bismarck das Wollenwetter gemacht hatten, war eine lustige Manöverwirtschaft, Soldatengetümmel in den Straßen und allerlei beziehungsreiche Verbrüderungen und Verschwesterungen zwischen Volk und Heer. Dann fanden die gewaltigen Schlachten statt; nach den großen strategischen Winkelzügen und Kreuz- und Quermärschen, Angriff und Verteidigung, Kanonengebrüll, Reiterattacken und Sturmhurra, alles wie wirklich, nur mit, gottlob, blinder Schießerei. Zuletzt nahm der Kaiser den Vorbeimarsch der Truppen ab, nahe dem Dorfe Krekow, im Wagen stehend, und sein Herz schlug den Marschtakt mit, als sollte es niemals zum Stillstand kommen müssen.
Die Fahnen senkten sich vor dem Heerkönig, und er dankte ihrem Gruße in soldatischer Strammheit. Regiment auf Regiment, im Gleichmaße des Muskelspieles, mit leuchtenden Gesichtern, Körper und Seelen in festem Tritt. Regiment auf Regiment, die zweiten Gardegrenadiere mit ihrem jungen Führer, des Kronprinzen Erstgeborenem; so glänzend die Schau war, eine bitter schmerzliche Wallung überkam den Kaiser, daß zwischen seinem Greisenalter und der jungen Kühnheit des Prinzen Wilhelm diese Lücke aufgerissen war. Der Mann, der zwischen ihnen hätte stehen sollen, Höhe des Lebens zwischen Großvater und Enkel, hatte sein qualvolles Leiden in den Süden tragen müssen, die Luft der Heimat war der kranken Kehle zu rauh geworden. Zwischen den Felsen von San Remo und dem Meer entrann ihm tropfenweise das Leben. Das mußte der alte Mann denken, während der Enkel an ihm vorbeizog und die Zuschauer dahinten mit Hüteschwenken und Winken ihn begrüßten.
Und jetzt kamen die Kolberger Grenadiere, die tapferen Neuner, deren großer Ehrentag bei Gravelotte gewesen war, als die Schlacht bedenklich zu werden anfing. Ihr Kommandant war derselbe, und der Degen war derselbe, den er damals gezogen hatte, um sie ins Feuer zu führen, der Rechner, der Uhrwerksmensch, der damals plötzlich in ein leutnantsmäßiges Losschlagen verfallen war. Siebzehn Jahre waren darüber hingegangen, und der Feldmarschall hatte sich in nichts verändert: Knochen, Leder und Pergament, wie unangreifbar durch die Zeit. Der Kaiser, der sich für einen Augenblick in einem Anhauche von Schwäche gesetzt hatte, erhob sich und winkte Moltke zu sich. »Siebzehn Jahre!« sagte er leise, indem er die trockene, dürre Hand ergriff. So standen sie, Jubel hinter sich, das Regiment marschierte, ein Tritt und ein Herzschlag. Aber der Schatten war da, er hob sich groß und düster hinter dem Kaiser, und sein ernstes Antlitz war gestalteter, in einer brüderlichen Ähnlichkeit mit des Kaisers eigenen Zügen. -
Der Winter ging hin, und als der Märzwind die Pflanzenseelen unruhig zu machen begann und die Tiergartenbäume in feuchtem Schwarz aus nassen Schneeflocken ragten, fast unheimlich vor zusammengeballter Kraft, da wußte man es, daß das alte Nierenleiden zu einem letzten, erbitterten Angriff entschlossen war.
Berlin hielt den Atem an, Tausende umstanden das Schloß, eine flüsternde, gedrückte Menge, und als sie den Wagen Moltkes und Bismarcks Platz machte, da war der Gruß nur ein stummes Hüteziehen.
Es waren viele Menschen im Schlafzimmer des Kaisers, die Nächsten dem Blut, dem Geist und der Pflicht nach. Regungslos lag der Kaiser, er schlief, aber sein Schlaf war nicht Kräftezuwachs, sondern Verfall, schon hoben sich die Knochen des Gesichtes über die einsinkende Haut, der geteilte Bart lag wie wirres Gestrüpp an den Backen.
»Gott wird ihm ein leichtes Sterben schenken«, sagte Graf Lehndorff, der Flügeladjutant, der irgend etwas sprechen mußte, um dem zermalmenden Drucke zu entgehen, der auf ihm lag.
Die Kaiserin wandte sich warnend um. Der Schlaf schien von dem Sterbenden zu weichen, die gelbe Hand zuckte über die Decke, dann hoben sich die schweren Lider, aus tiefer Versunkenheit irrte ein müder Blick über die Menschen hin, die am Ufer standen, das man zu verlassen im Begriffe war. »Ist Wilhelm da?« fragte der Kaiser.
Der Enkel kniete am Bettrande, seine Stirn war geneigt, eine gelbe Hand zitterte nach seinem Scheitel.
»Wie geht es meinem Sohn?« fragte der Kaiser wieder.
Niemand sprach, denn niemand wollte von dem hoffnungslosen Ringen sprechen, von dem grausamen letzten Mittel, dem Kehlkopfschnitt, den silbernen Röhrchen, durch die der Kronprinz mühsam atmete.
»So jung! So jung!« murmelte der Kaiser, indem er den Blick tief in das Gesicht des Enkels senkte. »Eine schwere Last für so junge Schultern … Gott muß helfen … und meine Treuen. Unsere Bündnisse sind für den Frieden gemacht … ich glaube, Bismarck hat recht getan … auch der siegreiche Krieg ist immer noch ein Unglück, wie Moltke sagt …« Er streckte die Hand nach dem Feldmarschall aus, aber die Augen fielen ihm zu, als sei er wieder vom Schlafe überwältigt. Nach einer Weile regten sich die bläulichen Lippen, ein lautloses Flüstern rieselte von ihnen, der Enkel neigte sein Ohr herab und wandte sich nach dem Feldmarschall um: »Er spricht von Ihnen.«
»Moltke«, sagte der Kaiser vernehmlicher, und sein starker Wille entriß ihn dem Versinken, »ist alles getan? Kann ich vor Gott hintreten … als ein getreuer Knecht?«
Der Feldmarschall antwortete nicht mit Worten, sein Wesen war allerfesteste Zuversicht.
»Die Armee …«, raunte es von dem eingefallenen Munde, »fünfzig Jahre … fünfzig Jahre, meinen Sie, wird Frankreich drohen und nicht vergessen können? Fünfzig Jahre gerüstet sein …!«
Bismarck trat an das Bett heran. Es war dunkel in ihm vor Schmerz, ein gefesselter Schrei tobte in ihm und zerriß ihm die Seele, alle konnten sich in dieser Stunde rein an das Gefühl verlieren, nur er war verdammt, die Tat an das Bett des Sterbenden zu tragen, hart zu einem letzten Handeln zu mahnen. »Majestät«, sagte er, »ich bitte, mich zur Schließung des Reichstages zu ermächtigen. Den Bogen habe ich mitgebracht, belieben Majestät, Ihre Unterschrift beizusetzen.«
Unwillig sahen die Frauen auf, Augusta mit zornigem, die Großherzogin von Baden mit sanfterem Vorwurf. Während die Kaiserin den Kanzler mit dem Blicke aufgebrachter Liebe zu verscheuchen suchte, beugte sich die Großherzogin über den Sterbenden: »Du sollst dich nicht anstrengen, Vater … du mußt vor allem zu Kräften kommen, kein Geschäft soll deine Ruhe stören.«
Aber es war, als habe Bismarcks Nähe allein schon den Willen des Kaisers aus Dämmerungen zurückgerufen. »Ich habe jetzt keine Zeit …«, sagte er mit einem Lächeln, das alle ergriff, »keine Zeit, müde zu sein.«
Lehndorff war schon mit der Schreibmappe da und schob die Feder in die erkaltenden Finger. »Nur den Anfangsbuchstaben …«, bat Bismarck.
Die starren Finger schoben sich über das Papier, die Feder kratzte spießig, ein W entstand mühsam, das erlahmende Handgelenk konnte den Punkt nicht über das i heben und hängte ihn als regellosen Fahrer daran, ein Zucken zerriß das l, und in erneutem Ansatz folgte ein keuchender, zerschlissener Buchstabe dem anderen bis zu dem Schnörkel mit seinem Hin und Her und allen drei Schleifen genau wie sonst, als das Schreiben noch ein einziger Zug und Schwung gewesen war. Auch vom Tode selbst nahm dieser Mensch der Pflicht keine Erleichterung an.
Mit verschleiertem Blicke empfing der Kanzler das Blatt; es war, als habe der Kaiser seine Unterschrift mit seinem letzten Blute gegeben, so erschöpft lag er in den Kissen. Sie schickten sich zum Gehen an, da tat der Kaiser wieder die Augen auf. »Ihre letzte Rede, Bismarck …«, sagte er, »das war mir eine Freude … eine Freude … der Reichsrat einig … ein seltenes Ereignis … Gott gebe …«
Bläschen sprudelten aus den Winkeln des welken Mundes, sorgsam wischte Augusta sie fort.
»Sie geloben mir …«, fuhr der Kaiser fort, »Sie geloben mir … Sie verlassen uns nicht …«
Hinstürzen! Hinstürzen und diese lehmfarbene Hand, die schon wieder die Schwere der Erde anzunehmen schien, ergreifen und küssen. Viele Blicke hingen an dem Kanzler, die scheuchten ihn in sein Inneres zurück. »Ich gelobe es …«, sagte er hart.
Der Leibarzt mahnte durch Winke, das Zimmer zu verlassen.
»Erscheine mir zum Schild«, begann der Oberhofprediger, »zum Troste in meinem Tod, und laß mich sehn dein Bild in deiner Kreuzesnot …« -
Bismarck blieb den Rest des Tages über einsam in seinem Arbeitszimmer, das Amtsgetriebe unter ihm ging fast lautlos vor sich, als sei die ganze Staatsmaschine plötzlich auf Filz gestellt. Theiß wachte mit einem Flammenschwert vor seiner Tür, und auf der anderen Seite hielt Johanna alle Familienstörungen von ihm ab. Auch hier empfand man die Bangigkeit und die nahe Gewißheit eines schmerzlichen Verlustes, die eine ganze Stadt überfallen hatten, aber man empfand sie sozusagen nicht unmittelbar, sondern durch Bismarcks gewaltige Erschütterung hindurch. Man ahnte etwas von den Herzenskämpfen, die das ganze Haus durchdrangen und den letzten Schreiber blasser und schweigsamer machten. Bismarck blieb den ganzen Tag über unsichtbar; womit er sich äußerlich beschäftigte, das merkte Theiß an dem Geruch, der trotz der Doppeltüren schließlich aus allen Fugen in das Vorzimmer quoll.
Am Abende kam Bismarck aus dem Gewölk hervor, mit schlaffen Zügen, doch aufrechten Ganges. Er nahm wie sonst sein Abendessen ein, aber Schweninger hatte heute keinen Anlaß, gefährliche Eßgelüste zu bekämpfen. Zur selben Stunde wie sonst brach er zum Schlafen auf. Niemand hatte an das Sterben gerührt, das sie alle erwarteten, wortkarg hatte Bismarck das Gespräch auf bedeutungslose Dinge des Gestern, Heute und Morgen gelenkt. Johanna begleitete den Gatten. Mitten im chinesischen Saal blieb Bismarck stehen, wo auf grauer Tapetenwand noch von des Alopäus Zeiten her Kulis Sänften trugen, Mandarinen auf Büffelkarren fuhren und schlitzäugige Damen in Lusthäusern Tee tranken, während sich rostrote und grüne Vögel auf allen Zweigen schaukelten.
»Es ist bitter«, sagte Bismarck. »Deutschland hat eine Partei gehabt, die unbedingt und unter allen Umständen zum Reiche hielt. Wir waren die kleinste Partei … Zwei Männer … Nun soll ich meinen einzigen Fraktionsgenossen verlieren.«
Stumm umschlang Johanna den Geliebten. Sie empfand die fürchterlich zerwühlende Zerstörungskraft eines Schmerzes, dem die Erlösung durch das Wort versagt war, der sie selbst mit Eiseskälte durchdrang und in hoffnungslose Blindheit warf.
Gegen vier Uhr morgens sandte Graf Lehndorff einen Boten. Bismarck hatte geträumt, er sei nach einer heftigen Meinungsverschiedenheit erzürnt vom Kaiser gegangen und habe sich trotzig hinter Arbeit und Akten verschanzt. Er soll mich rufen lassen, dachte er in seinem Traum, ohne mich kann er ja doch nicht fertig werden. Dabei hatte er immer gleichzeitig das Schloß vor sich gesehen, und plötzlich war ein Mann aus der kleinen Tür auf den Opernplatz hinausgetreten. Der Kaiser, dachte Bismarck, es ist der Kaiser; wohin mag er gehen? Langsam wanderte der Kaiser durch unbekannte Straßen, die ganz leer und von einem seltsamen Lichte erfüllt waren. Allerlei Hausrat stand vor den Türen, Schränke mit offenen Flügeln, in denen nichts aufbewahrt wurde, Tische, auf denen nichts lag, Stühle, auf denen niemand saß. Es war, als hatte ein allgemeiner Umzug stattfinden sollen, und mitten darin sei die Stadt von allen Menschen verlassen worden. Vor einem hohen Tor machte der Kaiser halt und bog den Knöchel zu einem hohlen Klopfen. Mein Gott, er kommt zu mir, fuhr es Bismarck durch das Herz, er kommt selbst zu mir. Eine quälende, schamvolle Reue zerfleischte ihn, er hörte den mühsamen Schritt seines Kaisers auf der Treppe, hörte ihn durch alle Zimmer gehen und immer näher kommen, eine maßlose Angst vor etwas Ungeheuerlichem schnürte ihm die Brust zu.
In diesem Augenblick klopfte es; noch ganz traumverstört empfing Bismarck die Botschaft, daß der Kaiser in den letzten Zügen liege. Mit ihm selbst unbegreiflicher Schnelligkeit fand er in die Kleider, der Wagen hielt schon vor der Tür. Die Straßenlaternen standen wie Totenkerzen, alle Häuser waren schwarz verhangen, der Himmel selbst war von drückenderer Dunkelheit als sonst. Durch leere Zimmer des Schlosses schritt Bismarck; erst im letzten scheuchte er wie Phantome ein paar flüsternde Menschen, die im Schrecken der Vernichtung bebten.
Bismarck trat auf die Schwelle; zwischen den zu schwarzen Klumpen aneinandergedrängten Gestalten sah er das fahle, regungslose Gesicht seines Kaisers; leises Weinen schwebte über das Lager und sank in die düsteren Winkel des Raumes hinab wie in Abgründe.
Riesengroß stand der Schatten zu Häupten des Bettes, schwer wie bleierne Finsternis wuchteten die Flügel auf dem Boden, das Antlitz aber war jetzt ganz das des Kaisers geworden, nur voll undurchdringlicher Hoheit und Entrücktheit, unbegreiflich geheimnisvoll in ernster Verklärung.
Da lehnte Bismarck die Stirn gegen den Türpfosten und schluchzte lautlos in das tote Holz hinein. -
Am Morgen begannen die Glocken zu sprechen. Sie riefen ihre Botschaft in Geschäft und Müßiggang. Da erlahmten die Hände und erstarrte das Lachen, die Töne schienen in der Luft zu zerstäuben und wie Asche auf Dinge und Menschen niederzusinken. Ein frühlingsstarker Wind war aufgegangen, der kam aus einem hohen, dünnen, verheißungsvollen Himmel, aber er wurde in den Straßen der Stadt müde und trauervoll von den Tausenden von schwarzen Fahnen, Menschenleid hängte sich an seine Schwingen und nahm ihnen die Kraft.
Noch immer riefen die Glockenstimmen von den Türmen …
»Der Kaiser … der Kaiser«, schwang es klagend vom Dom.
»Tot!« »Tot!« »Tot!« antworteten die anderen ringsum in dumpfer Beklommenheit.