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s. Bildunterschrift

W. Mulot, Niederseelbach, Pfarrkirche.

Nassauern

Von Fritz Reidis

Wie die Bewohner vieler Dörfer und Städte, so tragen auch die Einwohner ganzer Länder oft besondere Namen, die nicht immer gern gehört werden. Bekannt ist die Bezeichnung »Blinde Hessen«. Wenn man die Bewohner des Hessenlandes ärgern will, so führt man den Ursprung dieses Namens darauf zurück, daß hessische Soldaten einst einen großen Misthaufen als eine feindliche Truppe angesehen und blind darauf losgeschossen hätten. In Wahrheit enthält der Ausdruck jedoch eine Ehrenbezeichnung, die den Hessen Anerkennung dafür zollt, daß sie wie blind auf die Feinde losgingen, wenn sie Vaterland. und Fürsten verteidigten. So hat auch der Name »Nassauer« verschiedene Bedeutung. Im eigentlichen Sinne versteht man darunter die Bewohner des Nassauer Landes. Der Ausdruck, es kommt ein »Nassauer«, wenn ein Gewitter oder überhaupt Regen in Aussicht steht, hat natürlich keine Beziehung zur nassauischen Bevölkerung; denn man will in diesem Falle nur andeuten, daß man bald »naß« wird. Etwas anderes versteht man am Niederrhein unter der Bezeichnung »Nassauer«. Wahrscheinlich in Erinnerung an die in früheren Kriegen von den nassauischen Truppen ausgeteilten wuchtigen Hiebe nennt man dort solche Männer so, die ordentlich drauf losgehen, wenn es ans »Keilen« geht, oder in verächtlichem Sinne manchmal solche, die gern Händel suchen, um ihre Rauflust befriedigen zu können. Eine andere, nicht ganz ehrenhafte Deutung gibt man dem Namen »Nassauer« wieder in anderen Gegenden. Man versteht dort Leute darunter, die gern umsonst mitessen und -trinken, und sagt von solchen, die gerne dabei sind, wenn etwas los ist, ohne daß es sie selbst etwas kostet, sie »nassauern«. So las ich in einer Erzählung, wie ein Handwerksbursche zum andern sagte: »Dann bezahlst du wohl deinen Schnaps nicht, sondern »nassauerst« bei deinen Nachbarn herum.«

In diesem Sinne ist das »Nassauern« in ganz Norddeutschland eingebürgert und dem Berliner so geläufig wie dem Hamburger. Die Bezeichnung entstammt wie viele in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommene Ausdrücke der studentischen Redeweise. Ihre Entstehungszett liegt noch nicht allzuweit zurück. Jedenfalls hat die Hohe Schule zu Herborn daran keinen Anteil. Diese im Jahre 1584 von Johann VI. von Nassau-Dillenburg, dem würdigen Bruder Wilhelms des Schweigers, gegründete Bildungsstätte, mußte nämlich schon 1817 ihre Pforten schließen. Obwohl die theologische Fakultät in der Form des heute noch bestehenden Predigerseminars erhalten blieb, hatte das Herzogtum Nassau also keine eigene Landesuniversität. Man begegnet nun vielfach der Meinung, man habe die studierende nassauische Jugend infolgedessen an preußischen, hessischen und sächsischen Universitäten immer als Zaungäste auf den Hinteren Bänken der Hörsäle sitzend gefunden und diese Bänke deshalb mit »Nassau« bezeichnet und Leute, die ohne entsprechende Aufwendungen sich Vorteile verschafften, demgemäß »Nassauer« genannt. So wird von einem Universitätsprofessor erzählt, daß er eines Tages eine Handspritze mit den Worten erprobt habe: »Sie reicht bis Nassau«, d. h. bis zu jenen letzten Bänken, die man für Nichtlandeskinder freizulassen pflegte. Diese Erklärung stimmt jedoch nicht ganz mit den Tatsachen überein. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war vielmehr Göttingen als nassauische Landesuniversität bestimmt worden. Die Kollegiengelder für die nassauischen Studierenden wurden von der herzoglichen Regierung direkt dorthin eingezahlt, so daß der nassauische Student umsonst Kollegien hören konnte, im beneideten Gegensatz zu den andern, die aus eigner Tasche bezahlen mußten.

Daneben bestanden an der Universität Göttingen reiche Stipendien für unbemittelte nassauische Studenten in Form von Freitischen, die fleißig benutzt wurden. Auch der regierende Herzog hielt für seine Landeskinder einen solchen Freitisch. Von den Teilnehmern hieß es: »Es ist ein Nassauer und bezahlt nichts.« Wenn nun ein berechtigter Teilnehmer vorübergehend verhindert war, so fanden sich zuweilen auch Studenten anderer Bundesstaaten ein, die den freistehenden Platz einnahmen und sich stillschweigend für Nassauer ausgaben. Dieses Vorgehen nannte man scherzhafterweise »nassauern«.

Ebenso verhielt es sich bei dem Kollegienbesuch. Wenn Studenten eine von ihnen nicht bezahlte Vorlesung per nefas besuchten (das »Kolleg schinden« lautet ein anderer Ausdruck dafür) so pflegten sie sich dem Kollegiendiener gegenüber als »Nassauer« zu bezeichnen und so entstand in der Göttinger Studentensprache der Ausdruck ein »Kolleg nassauern«. Das Wort wurde bald auch für andere gleichartige Handlungen angewendet und verbreitete sich von Göttingen aus über die norddeutschen Universitäten weiter.

Besonders günstigen Boden fand die Redensart im Berliner Jargon, der in dem dummen »Potsdamer«, der sich von andern ausbeuten läßt, bereits den Antipoden zum »Nassauer« ausgebildet hatte.

So ist schließlich eine für Nassau ehrenvolle Einrichtung in ihr Gegenteil umgedeutet und berüchtigter Mißbrauch der Nichtnassauer auf den nassauischen Namen abgewälzt worden – bei der Ironie der Welt der übliche Dank für genossene Wohltaten.


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