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Aus der entlegensten Ecke

Von Karl Spieß

So kann man den langgestreckten Zipfel wohl nennen, der als ehemals äußerster Ausläufer des Großherzogtums Hessen sich zwischen Nassau und Kurhessen einschiebt: den Kreis Biedenkopf. Von jeher ein »Hinterland«, ist er bis auf den heutigen Tag ultima Thule geblieben. Das mag seiner wirtschaftlichen Entwicklung geschadet haben, für die Ausbildung eines starken, eigenartigen und bodenständigen Volkstums ist es nur günstig gewesen.

Das Hinterland vereinigt in sich die eigenartigsten Gegensätze. Schon rein äußerlich. Von dem fruchtbaren, dicht bevölkerten Lahntal zwischen Gießen und Wetzlar, reicht es bis zu den einsamen, waldbedeckten Höhen der Sackpfeife und des Kahlen Astenberg, deren stille Täler, seit sie vor mehr als tausend Jahren den erbitterten Kampf zwischen Franken und Sachsen sahen und seit die mittelalterliche Herrlichkeit der einst so mächtigen Grafen von Battenberg verblichen ist, einen Dornröschenschlaf gehalten haben.

Die geschichtliche Vergangenheit dieses Stückchens Erde war immer an das Schicksal der größeren Nachbargebiete geknüpft. Bis in die altgermanische Zeit zurück reichen die neuerdings aufgedeckten Ringwälle auf dem Dünsberg im Süden und zahlreiche Hünengräber in den umliegenden Wäldern. In derselben Gegend, bei Rodheim an der Bieber, liegt der Himberg oder Königsstuhl, eine alte Malstätte. Auch der Norden hat seine historisch berühmten Plätze. Hier liegen die Orte Leisa und Battenfeld, die in den Sachsenkriegen Karls des Großen der Schauplatz einer mörderischen Schlacht waren. Als der Kaiser im Jahre 778 in Spanien weilte, erhoben sich die eben erst unterworfenen Sachsen unter ihrem Herzog Widukind und verheerten die Lande bis Deutz und Koblenz hin. Karl war gezwungen, eine Schar auserlesener Leute gegen sie zu senden. An der Eder kam es zum Kampf und » multitudo Saxonum occisa est« (eine Menge Sachsen wurde niedergemacht), berichtet der Chronist, der auch ausdrücklich den Ort Liesi super fluvium Adarna (Leisa am Ederfluß) als Schlachtort nennt.

Eine ganze Reihe von adeligen Geschlechtern ist im Hinterland ansässig gewesen, darunter solche, die zwar längst ausgestorben sind, deren Namen aber, wenn auch nur in Seitenzweigen, heute noch bestehen. Die Herren von Hatzfeld, von denen einer vor wenigen Jahren die Herzogwürde erlangte, ein anderer sich als deutscher Gesandter einen Namen gemacht hat, leiten ihren Ursprung von dem Städtchen Hatzfeld an der Eder her, wo geringe Reste ihrer Stammburg noch vorhanden sind. Wenn auch die heutigen Prinzen von Battenberg ihrer deutschen Heimat entfremdet sind und mit den ehemaligen Herren der Grafschaft Battenberg in keinem verwandtschaftlichen Verhältnis stehen, so tragen sie doch den Namen eines alten Hinterländer Adelsgeschlechts, das im Mittelalter in den Kämpfen zwischen Hessen und Kurmainz eine bedeutsame Rolle spielte. Ein anderes altadeliges Geschlecht, die Freiherren von Breidenbach zu Breidenstein, die ehemaligen Grundherren des Breidenbacher Grundes, haben dagegen noch heute den alten Sitz ihres Geschlechts inne. Hier befinden wir uns in der interessantesten Gegend des Hinterlandes. Die ganz eigenartigen Rechtsverhältnisse, die hier bestanden und denen Stammler in seinem »Recht des Breidenbacher Grundes« eine fachmännische Darstellung gewidmet hat, waren bis vor hundert Jahren noch in Geltung und wirken in ihren wirtschaftlichen Folgen noch heute fort. Die bäuerliche Leibeigenschaft hat sich hier am längsten erhalten, und die dadurch geforderte und geförderte Inzucht ist auf die physische und moralische Entwicklung der Bevölkerung nicht ohne Einwirkung geblieben. Von den Herrn von Dernbach erschlug einer den Ketzerrichter Konrad von Marburg, während ein anderer in der Gegenreformation des Stiftes Fulda als Fürstabt von Fulda sich hervortat.

s. Bildunterschrift

Otto Ubbelohde, Blick auf das Biedenköpfer Schloß.

So spiegelt selbst dieser kleine Bezirk die ehemalige unselige Zerrissenheit Deutschlands in zahllose Landesherrschaften getreulich wider. Hessen verdrängte schließlich die eingesessenen Grundherren und vereinigte die einzelnen Gebietsteile nach und nach in seiner Hand, aber die Abgeschlossenheit des Gebiets war das Hemmnis für eine gedeihliche Entwicklung; es wurde ein »Hinterland« und ist es bis auf den heutigen Tag geblieben.

Seine eigentümliche Oberflächengestaltung war von jeher die hauptsächliche Ursache des geringen gegenseitigen Verkehrs der Bewohner, worunter das Land auch heute noch leidet. Die einzelnen Teilgebiete, die durch Höhenzüge geschieden sind, führen mehr oder weniger ein Sonderdasein; ihre örtlichen Interessen laufen denen benachbarter Ortschaften oft schnurstracks entgegen. Bei dem Mangel an Gemeinsinn unter der ländlichen Bevölkerung ist es verständlich, wenn die wirtschaftlichen Interessen der verschiedenen, von der Natur abgesonderten Gemeinden – beispielsweise in Verkehrsfragen – schwer in Einklang zu bringen sind. Die Querbahnen, die in jüngster Zeit gebaut wurden, erleichtern zwar den Verkehr nach Marburg, Gießen, Dillenburg und Herborn, aber für den Verkehr der Hinterlandorte untereinander haben sie keine Bedeutung.

Die durch die politische Umgrenzung bedingte nordsüdliche Ausdehnung des Hinterlandes übt einen unverkennbaren Einfluß aus auf die wirtschaftliche Betätigung der Bewohner, die wieder in der Verschiedenheit der natürlichen Vorbedingungen des Gebiets begründet ist. Der südliche Teil, der zum Lahnbecken gehört, weist wohlhabende Bauerndörfer auf. Die Ortschaften des mittleren Teils haben mehr bäuerlichen Kleinbetrieb; sie liegen in engen Tälern, an deren Abhängen der Bauer seinen unsäglich mühevollen Feldbau betreibt. Die zur Landwirtschaft benutzten Bodenflächen sind meist zu klein, um den Bewohnern genügenden Unterhalt gewähren zu können. So ziehen denn im Frühjahr die Männer in Scharen hinaus in die Industriegebiete des Rheinlands und Westfalens, um dort als Bauhandwerker zu erwerben, was die Heimat versagt. Unleugbar hat sich infolgedessen der Wohlstand gehoben. Aber die lange Abwesenheit der Väter hat ihre bedenkliche Schattenseite; sie wirkt auf das Familienleben und die Kinderzucht ungünstig ein. Die Feldbestellung liegt hauptsächlich den Frauen ob, die unter der Last der Arbeit zusammenbrechen und früh altern. Die Hoffnung, daß die Eröffnung der Nebenbahnen Gelegenheit geben würde, bequem erreichbare Arbeitsstätten für die männliche Bevölkerung zu schaffen, hat sich bis jetzt nur zum Teil erfüllt. Im Winter blüht das Hausiergewerbe, ein hier seit langem heimischer Beruf. Als Strumpf- und Wollwarenhändler durchziehen die Männer den ganzen Westen Deutschlands. Die Mädchen finden im Sommer und Herbst lohnenden Verdienst auf den großen Bauernhöfen der Wetterau, wo sie wegen ihres Fleißes und ihrer Ausdauer besonders geschätzte Arbeitskräfte sind. Jedes Jahr um die Weihnachtszeit erscheinen die Agenten in den Dörfern, um die Arbeitsverträge für das nächste Jahr abzuschließen. Der Norden des Kreises ist, bis auf das fruchtbare Edertal, weniger bevölkert. Hier bilden die prachtvollen Laubwälder, die die Höhen bedecken und bis tief in die reich besiedelten Täler hinreichen, das Entzücken des Wanderers und bringen eine wohltuende Abwechslung im Landschaftsbild hervor.

Die Bevölkerung zeigt in ihrem Wesen deutlich den hessischen Charakter. Zäh, verschlossen, am Alten hängend, fehlt ihr die geistige Beweglichkeit und Regsamkeit, die dem nassauischen Bauer eigen ist. Selbst auf landwirtschaftlichem Gebiet ist der Hinterländer kein Freund von Neuerungen. Der Ackerbau wurde bisher im großen und ganzen noch wie zur Altväterzeit betrieben. Erst in jüngster Zeit macht sich ein Streben zum Fortschreiten im landwirtschaftlichen Betrieb bemerkbar. Wenn man Feldvereinigungen vollzogen hat, Wasserleitungen baut, in steigendem Maße künstliche Düngmittel und landwirtschaftliche Maschinen verwendet, so beweist dies, daß man sich der Notwendigkeit nicht mehr verschließt, der Neuzeit auf diesem Gebiet Zugeständnisse zu machen.

Man würde indes irren, wenn man von dieser Schwerfälligkeit auf einen Mangel an geistigen Fähigkeiten überhaupt schließen wollte. Die volkstümliche Kunst in Bauweise, Handwerk und Hausfleiß beweist das Gegenteil. Man beachte nur die Ausschmückung der Häuser mit den sogenannten Kratzmustern, die in den ehemaligen Ämtern Blankenstein und Biedenkopf sowie im Breidenbacher Grund am zahlreichsten verbreitet sind.

Die Technik der Kratzmuster ist im einzelnen sehr verschieden. Der Vorgang an sich ist derselbe; in den feuchten, graugetönten Kalkbewurf werden mittels eines spitzen Eisens die Muster eingedrückt, dann mit Kalkbrühe, oft auch noch bunt bemalt. Technisch lassen sich zwei Verfahren unterscheiden: die Reliefmanier und die Strichelmanier. Bei dem ersten Verfahren wird das Muster dadurch erzeugt, daß es vertieft in den Bewurf eingedrückt wird, während bei dem zweiten Verfahren nur die Umrisse der Figur durch Striche angedeutet werden, die Oberfläche sonst aber unverändert bleibt. Die Strichelmanier ist offenbar die primitivere und weniger kunstvolle.

Auch die künstlerische Behandlung des Gebälkes der Fachwerkbauten mit ihren Schnitzereien an Eckbändern und Riegelwerk bezeugt alte Wohnkultur.

s. Bildunterschrift

P. Dahlen, Kratzmuster von einem Hinterländer Bauernhaus

Es handelt sich bei den schmückenden Zutaten nicht um überflüssiges Beiwerk wie etwa die Stuckornamente oder die Giebeltürmchen moderner Renaissancebauten. Vielmehr ist es für den künstlerischen Instinkt der Dorfbaumeister überaus bezeichnend, mit welcher Geschicklichkeit, oft ganz unbewußt, sie die konstruktiven Elemente zu dekorativer Wirkung gebracht haben und so wahre Schulbeispiele für die Wahrheit geliefert, daß ein zweckmäßiger, in sich wahrhaftiger Bau auch schön ist.

Was dem Besucher des Hinterlandes am meisten auffällt, ist die Volkstracht, die in fast allen Dörfern noch getragen wird.

Die Bevölkerung unterscheidet im Sprachgebrauch genau zwischen der einheimischen und der Marburger Tracht; jene heißt die »schwarze«, diese die »Hessentracht«. Dort ein einfarbig schwarzer Anzug, der den Eindruck düsteren Ernstes macht, hier eine lebensfrohe Buntheit an Jacke, Schürze und Rock; alles ist farbig bis zu den bunten Zwickeln in den Strümpfen und dem mit bunten Flittern und Perlen benähten und mit buntem Rand besetzten »Stülpchen« der spitzen Haube.

Das Gemeinsame, das sich als das Kennzeichen der Hinterländer Tracht herausstellt, sind zwei ärmellose, hemdartige, ganz gleich geschnittene Gewandstücke, die als Ober- und Unterrock übereinander getragen werden. Beide, »Rock« und »Büffel«, trägt man in allen Dörfern, in denen die Hinterländertracht noch zu Hause ist. Doch kann man von zwei Unterarten der Hinderländertracht reden: der sogenannten »Ämtertracht« im ehemaligen Amte Biedenkopf und im südlichen Teile des ehemaligen Amtes Blankenstein und der »Grindschen Tracht«, wie sie im Breidenbacher Grund, also in den Kirchspielen Oberreifenhausen, Lixfeld, Simmersbach, Oberhörlen, Breidenbach und Wallau, üblich ist.

Es fehlt im Hinterland nicht an Männern, die sich über die engeren Grenzen ihres Heimatsgebietes hinaus einen Namen gemacht haben. So ist Friedrich Diel bekannt als Begründer der wissenschaftlichen Obstkunde. Sein System ist heute noch in Geltung und dient allen pomologischen Werken als Richtschnur. Er brachte zuerst Ordnung in den Wirrwarr der Sortenbenennung. Sein Hauptwerk hat für die Pomologie dieselbe Bedeutung gewonnen, wie Linnés System für die Botanik. Über 30 pomologische Schriften hat er veröffentlicht, und die ersten Obstzüchter damaliger Zeit ehrten ihn dadurch, daß sie eine Birnensorte nach ihm »Diels Butterbirne« benannten. Diel, 1756 als Sohn eines Chirurgen und Arztes in Gladenbach geboren, starb 1839 zu Diez als Wirklicher Geheimer Rat. Das Weltbad Ems verdankt seinen Werken über Heilquellen und Thermalbäder hauptsächlich sein Aufblühen.

Was Diel für die Obstkunde, bedeutet Hartig für die moderne Forstwirtschaft. Auch er ist in Gladenbach als Sohn des dortigen Forstmeisters 1764 geboren. Begründer der Forstlehranstalt zu Dillenburg, wirkte er bis zu seinem 1836 erfolgten Tode als Landoberforstmeister und Professor der Universität in Berlin.

Auch Will, der Hofkupferstecher des Königs von Frankreich, des deutschen Kaisers und des Königs von Dänemark, Ritter der Ehrenlegion, der im Pantheon in Paris seine Ruhestätte fand, ist unmittelbar aus dem Hinterländer Bauerntum hervorgegangen. Seine hohe Kunst, von der zahlreiche prächtige Stiche Zeugnis geben, und seine Verdienste um die Wiedergabe und Verbreitung klassischer Bildwerke sichern ihm einen dauernden Platz in der Kunstgeschichte.


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